Deutschland und die Friedenseinsätze
Ende 2007 geht die Bundesrepublik Deutschland der wahrscheinlich schwierigsten Phase der Geschichte ihrer Beteiligung an internationalen Friedenseinsätzen entgegen. Verschiedene dieser Missionen – wie die in Afghanistan – befinden sich in großer Bedrängnis. Der Kosovo geht Ende des Jahres mit der Klärung der Statusfrage in eine entscheidende und möglicherweise erneut gewalttätige Zeit. Zugleich wächst der Druck auf eine deutsche Beteiligung in Afrika. Vom Sudan bis hin zu Somalia hat sich eine Konfliktregion größer als Europa aufgebaut, die auch Deutschland weltpolitisch nicht länger ignorieren kann.
von Winrich Kühne
In der deutschen Bevölkerung dagegen geht das Verständnis für eine Beteiligung an diesen riskanten Einsätzen kontinuierlich zurück. Fehlschläge im Verbund mit Toten, Verletzten und die wachsende Gefahr von Geiselnahmen und Selbstmordanschlägen sind in allen Staaten, nicht nur der Bundesrepublik, eine gefährliche Mischung für die Akzeptanz von Friedenseinsätzen durch die Bürger.
Diese wachsende Kluft zwischen Politik und Bevölkerung mag man bedauern. Überraschend ist sie nicht. Denn anders als verschiedene seiner Verbündeten verfügt die Bundesrepublik Deutschland über keine nennenswerte Tradition von Auslandseinsätzen; die Kolonialzeit liegt lange zurück. Die kollektive Erinnerung ist geprägt von den traumatischen Kriegserfahrungen des Kaiserreichs und des faschistischen Deutschlands.
Dennoch hat die deutsche Bevölkerung die Beteiligung der Bundeswehr an Friedenseinsätzen bis heute erstaunlich ruhig hingenommen. Erst jetzt, ausgelöst durch die Debatte über den Einsatz im Kongo und dann die Zuspitzung der Lage in Afghanistan, ändert sich das. Offenbar haben weite Teile der Bürgerinnen und Bürger nur vage mitbekommen, dass sich in einem Zeitraum von weniger als nur zwei Jahrzehnten in der deutschen Politik ein rasanter Wandel vollzogen und sich die Bundesrepublik bei Krisenprävention und Friedenseinsätzen von einem Nobody zum weltpolitischen Akteur gewandelt hat.
Dem Bundesrepublikaner ist Namibia, das ehemalige Deutsch-Südwestafrika, vor allem als Land des Tourismus, der Etoschapfanne und der Buschmänner sowie der Jagd auf Kudus, Impalas und anderes Wildtier bekannt. Dass Namibia derzeit einer der stabilsten Staaten Afrikas ist und Touristen dieses Idyll genießen können, ist jedoch nicht vom Himmel gefallen. Es ist vielmehr Folge der Tatsache, dass in diesem Land 1989/90 einer der erfolgreichsten Friedenseinsätze in der Geschichte der UN durchgeführt wurde. Mehr noch, UNTAG war zugleich der Beginn einer signifikanten Beteiligung Deutschlands am internationalen Peacekeeping.
Allerdings war es nicht die Bundeswehr, sondern eine halbe Hundertschaft des Bundesgrenzschutzes, die damals in den Norden des Landes entsandt wurde. Dort traf sie in Ovamboland auf eine zweite halbe Hundertschaft deutscher Polizei, nämlich der Grenzpolizei der DDR. Die Begegnung zwischen den beiden Kontingenten war zunächst kühl, dann aber wurde gut zusammengearbeitet. Und der Einsatz wurde, wie im Mandat vorgesehen, im März 1990 mit der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung erfolgreich beendet.
Der erste Einsatz der Bundeswehr verlief weit weniger glücklich. Nach langem Hin und Her entschloss sich die Bundesregierung Anfang 1993, erstmalig Bundeswehrtruppen – und nicht nur Sanitätskontingente wie in Kambodscha – in einen Friedenseinsatz der UN zu entsenden, um sich an der Stabilisierung des von Krieg, Zerstörung und Hungersnöten geschüttelten Somalia zu beteiligen. Dort war im Dezember 1992 unter Führung der USA bereits die multinationale Streitmacht UNITAF gelandet und hatte den Kämpfen ein Ende bereitet. UNITAF wurde März 1993 durch UNSOM II abgelöst. Mit einer Personalzahl von über 20.000 wurde UNSOM zu einer der bisher größten Friedensmissionen der UN (nur die ONUC im Kongo von 1960 bis 1964 war ungefähr gleich stark). Bedrängt von den Verbündeten und in Sorge um ein glaubwürdiges Aufgabengebiet für die nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes plötzlich "arbeitslos" gewordene Bundeswehr, stellte Deutschland ein Versorgungsbataillon zur Verfügung.
Diese Mission stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Sie war – nicht verwunderlich für einen ersten Einsatz – begleitet von mannigfaltigen Ängsten der Politik. Ausdrücklich wurde ein relativ friedliches Gebiet für die Bundeswehr ausgesucht, die Region um Belet Huen. Sicherheitshalber wurden zusätzlich 500 italienische Blauhelme für das deutsche Bataillon bereit gestellt. Seinen eigentlichen Auftrag konnte es jedoch nicht erfüllen. Denn die indische Kampfbrigade, zu deren Versorgung die Deutschen geschickt worden waren, traf nie in Belet Huen ein, und eine Verlegung des deutschen Bataillons in andere Regionen Somalias, wie vom UN-Hauptquartier in New York mehrfach informell angefragt, lehnte Bonn strikt ab. Richtigerweise machten die Soldaten sich dann als "Entwicklungshelfer" nützlich. Sie reparierten und bauten Straßen, Brücken, Schulen und dergleichen. Belet Huen wurde so zur Geburtsstunde der deutschen zivil-militärischen Zusammenarbeit (CIMIC). Heute, mehr als 20 Jahre später, weht über die meisten der guten Werke dieses ersten Bundeswehreinsatzes der somalische Wüstensand.
Zugleich provozierte der Somalia-Einsatz eine wichtige verfassungsrechtliche Klärung, nämlich die Notwendigkeit der Zustimmung des Parlaments zur Entsendung von deutschen Militärs in Friedenseinsätze. Anders als in vielen anderen Staaten wurde damit der Bundestag zu einem Schlüsselakteur für die deutsche Beteiligung an Peacekeeping Missions.
Regierung, Parlament und Führung der Bundeswehr reagierten auf das Debakel in Somalia überwiegend trotzig. "Nie wieder Afrika" wurde für die nächsten Jahre zum Leitspruch. Diese Reaktion bestätigte nachträglich, dass es eigentlich keine klare politische Vorstellung darüber gegeben hatte, warum die Bundeswehr nach Somalia entsandt wurde. In das bis dahin vorherrschende, an der Konfrontation von Panzerarmeen des Warschauer Paktes und der NATO in der norddeutschen Tiefebene orientierte verteidigungs- und sicherheitspolitische Denken passte diese Entsendung auf jeden Fall nicht.
Somalia war der Auftakt zu einer Serie von Einsätzen, die durch die Melodie gekennzeichnet waren: Wir gehen hin, wohin wir eigentlich nicht gehen wollten, nach Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Afghanistan, Libanon und wieder zurück nach Afrika, in den Kongo.
Insbesondere in Bezug auf Südosteuropa (Balkan) hatten Bundeskanzler Kohl und mit ihm die große Mehrheit der politischen Klasse Anfang der neunziger Jahre eine klare Meinung: Die Bundesrepublik Deutschland schickt keine Soldaten in Gebiete, die während des Dritten Reichs von den Deutschen besetzt waren – und das schien vernünftig. Doch diese Doktrin hielt nicht lange. Südosteuropa wurde in kurzer Zeit zum Haupteinsatzgebiet der Bundeswehr. Seit 1996 beteiligt sie sich substantiell am SFOR-Einsatz der NATO in Bosnien-Herzegowina. 1999 folgte dann der Einmarsch gepanzerter Kolonnen der Bundeswehr in den Kosovo als Teil von KFOR. Die, wenn auch zahlenmäßig geringe, Beteiligung an UNOMIG in Georgien ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schnell sich die Kohl-Doktrin überlebte.
Ähnlich verhält es sich mit Afghanistan. In den neunziger Jahren hätte niemand in Deutschland ernsthaft zu behaupten gewagt, dass deutsche Truppen bei der Sicherung Zentralasiens und speziell Afghanistans eine wichtige Rolle zu spielen hätten. Heute jedoch, nach mehr als einem halben Jahrzehnt, wird das Engagement im Rahmen von ISAF von der politischen Klasse ganz überwiegend als im vitalen deutschem Interesse behandelt, auch wenn die Frage der Beteiligung an den Kampfeinsätzen im Süden des Landes strittig ist. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedoch steht dem Satz des früheren Verteidigungsministers Peter Struck, "Deutschlands Sicherheit wird am Hindukusch verteidigt", mit großer Skepsis, wenn nicht offenem Unverständnis gegenüber.
Gleiches würde zweifellos für die Beteiligung an UNIFIL, dem Friedenseinsatz der UN im Libanon, gelten, wenn es bei ihm zu ähnlichen Gewalttaten wie in Afghanistan käme. Denn ähnlich wie im Falle Südosteuropas galt auch für den Nahen Osten unumstößlich: Deutsche Soldaten haben in der Nähe Israels nichts zu suchen. Vorerst befindet sich das an die Küste des Libanon entsandte deutsche Marinekontingent jedoch in sicherer Entfernung von den eigentlichen Schauplätzen der Gewalt. Mit einer Mannschaftsstärke von über 2000 ist es die bisher stärkste deutsche Beteiligung an einem Friedenseinsatz der UN. Das ist überraschend.
Am längsten überlebte der Ausspruch "Nie wieder nach Afrika". Die Beteiligung der Bundeswehr mit fast 800 Soldatinnen und Soldaten an EUFOR in der Demokratischen Republik Kongo im Sommer 2006 setzte auch ihm ein jähes Ende. (Die Tatsache, dass zuvor mehrere Dutzend Militärbeobachter der Bundeswehr zu UNMIS in den Sudan entsandt worden waren, blieb weitgehend unbeachtet.) Afrika hat wieder einen Platz auf der sicherheitspolitischen deutschen Landkarte.
Ende der 1980er Jahre hätte niemand vorauszusagen gewagt, dass sich Deutschlands Beteiligung an den internationalen Friedenseinsätzen derart rasant entwickeln würde. Die Fixierung auf die bipolaren Konfliktlinien des Ost-West-Konflikts und das eingefahrene sicherheitspolitische Denken in konventionellen Bedrohungslagen wies in eine völlig andere Richtung. Der Einstieg Deutschlands erfolgte deswegen auch nicht durch die Bundeswehr, sondern durch die Polizei bei UNTAG in Namibia. Namibia war der Auftakt zum 2nd Generation Peacekeeping, den so genannten multidimensionalen Einsätzen der UN, in denen von nun an die Polizei und zivile Experten neben dem Militär zu strategischen Pfeilern für den Erfolg wurden.
Die deutsche Polizei hat ihre Erfolgsgeschichte im Wesentlichen bis heute fortsetzen können, auch wenn ihre Arbeit in Afghanistan derzeit heftig kritisiert wird. (Den Amerikanern geht es in dieser Hinsicht nicht besser, trotz der Milliarden US-Dollar, die sie im Gegensatz zu den deutschen Polizisten ausgeben können.) Die vorzüglichen Trainingseinrichtungen der Polizei sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene haben für diesen Erfolg eine wichtige Rolle gespielt. Bedenkt man, wie "provinziell" die Masse der deutschen Polizei in ihren Revieren traditionell verankert ist, dann kommt die Tatsache, dass inzwischen gut 5000 deutsche Polizisten und Polizistinnen weltweit in Einsätzen waren, einer Kulturrevolution im deutschen Polizeiwesen gleich. Die Rückkehr in das heimatliche Revier ist für die Polizisten allerdings häufig mit Schmerzen und Enttäuschungen verbunden. Die Kollegen haben wenig Verständnis für den Ausflug ins Internationale und die Familien und Freunde bekommen unter Umständen einen stark veränderten Menschen zurück, der gesprächsbedürftig ist über Themen und Erlebnisse, die von ihrem Alltagsleben weit entfernt sind.
Die Achillesferse der deutschen Polizeibeteiligung an Friedenseinsätzen bleibt die Rekrutierung der Polizisten. Nicht zuletzt aufgrund der Bund-Länder-Struktur ist dies bürokratisch häufig ein mühseliges Verfahren. Der Bereitschaft der Länder, Polizisten zu entsenden – die ja nicht in Kontingenten gestellt, sondern one by one durch die zuständigen Stellen des Bundes (Auswärtiges Amt und Innenministerium) herausverhandelt werden müssen –, ist sehr unterschiedlich. Bayern hat sich entschieden, vorerst keine weiteren Polizisten zu stellen, es sei denn, der Bund erklärt sich zu einem entsprechenden Kostenersatz bereit. Andere Bundesländer könnten diesem Beispiel folgen. Dabei gibt es ein Modell, dass dieses Problem lösen könnte. Der Bund, also die Bundesregierung und der Bundestag, müssten dem Auswärtigen Amt einen Etat zur Verfügung stellen, aus dem die Länder für freigestellte Polizisten kompensiert und damit die in den Heimatrevieren entstehenden Lücken geschlossen werden könnten. In Skandinavien wird das erfolgreich praktiziert.
Bedingt durch das von ihr unverschuldete Debakel in Somalia war der Einstieg der Bundeswehr in das Geschäft der Friedenseinsätze weniger erfolgreich als der der Polizei. Somalia stärkte bei Offizieren und Soldaten der Bundeswehr die Aversion gegen eine Beteiligung an Blauhelmeinsätzen. Sie passten nicht in ihr letztlich doch stark vom Preußentum geprägtes soldatisches Selbstverständnis. Für Skandinavier und Armeen der Dritten Welt mochte dieses uniformierte Gutmenschdasein unter der blauen Flagge der UN ein angemessenes Betätigungsfeld sein, nicht jedoch für die Bundeswehr als maßgebliche Streitmacht der NATO.
Beides, Blauhelme als harmlose Gutmenschen und die UN als Versager hatte schon damals mit der Realität des Peacekeeping wenig zu tun – eine Realität, von der die meisten Deutschen und auch die Bundeswehr mangels Erfahrung wenig Ahnung hatten. Denn in Somalia hatten nicht die UN versagt, sondern vor allem amerikanische Politik und Militärs, die den Einsatz an vorderster Stelle geführt hatten. Und Bonn erwarb sich mit seinem Insistieren auf den nutzlosen Verbleib der Bundeswehr in Belet Huen ebenfalls kein Ruhmesblatt. Umso mehr war man sich dann aber mit den Amerikanern einig, die UN lautstark als Schuldigen für das Debakel in Somalia zu brandmarken. Die Aversion deutscher Militärs gegen eine Beteiligung an Friedenseinsätzen war in eine Anfang der neunziger Jahre insgesamt sehr widersprüchliche deutsche Diskussionslage eingebettet. Die in Publizistik und Wissenschaft sehr lautstarke Abteilung der anti-militaristischen Friedensgruppierungen und Teile der Friedensforschung hegten den Verdacht, dass eine Beteiligung der Bundeswehr an Friedenseinsätzen der Beginn eines Wiedererwachens militaristischer deutscher Weltmachtsambitionen sei. Und die traditionellen Sicherheitspolitiker betrachteten mit ihrer Festlegung auf die NATO und das transatlantische Bündnis ihrerseits das Peacekeeping, zumal unter dem Dach der UN, als ein der Bundeswehr nicht würdiges Aufgabenfeld.
Beiden Denkschulen muss man aus heutiger Sicht eine beträchtliche Realitätsferne bescheinigen. Sie war jedoch nicht unverständlich. Denn natürlich wurde und musste der Einstieg der Bundeswehr in internationale Friedenseinsätze vor dem Hintergrund der Tragödien des deutschen Militarismus einerseits und der Realität der aus dem Ost-West-Konflikt erwachsenen Strukturen andererseits, wie insbesondere der NATO, diskutiert und politisch ausgetragen werden.
Ihren emotionalen Höhepunkt erreichte diese Auseinandersetzung mit der 1992 beginnenden Diskussion um das "robuste" Peacekeeping, also die Relativierung der bis dato sakrosankten Prinzipien der Nichtanwendung von Gewalt und Unparteilichkeit zugunsten eines begrenzten Gewaltseinsatzes, um ein ausreichend sicheres Umfeld für den Friedensaufbau, das so genannte Post-Conflict Peacebuilding, zu gewährleisten.
In Deutschland war die Debatte um das robuste Peacekeeping 1992 durch eine Studie des Autors für das Bundesverteidigungsministerium und einen Beitrag im "überblick" 4/1992 eröffnet worden, parallel zu einer entsprechenden Diskussion in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern. Friedensforschung, Linke und Grüne ebenso wie Generäle und Sicherheitspolitiker waren sich – mit wenigen Ausnahmen (siehe die Beiträge im "überblick" 4/1992) – einig in der geballten Ablehnung dieses Konzepts, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Erstere sahen in diesem Konzept nun endgültig den Einstieg der Bundeswehr in Kriegsführung und militärische Expansion. Bundeswehrgenerälen dagegen schien die Gleichzeitigkeit von Dialog, Unparteilichkeit und möglichem militärischen Gewalteinsatz ein völlig unmögliches Unterfangen und Ausdruck von "akademischem Unsinn" (so ein damaliger Generalinspekteur der Bundeswehr). Abwehr erregte insbesondere die mit diesem Konzept in der Tat auftretende "Grauzonenproblematik", dass nämlich der Übergang zwischen gewaltfreiem, dialogorientiertem Peacekeeping und militärischen Zwangsmaßnahmen fließend wurde und Friedenseinsätze damit im Grunde den Charakter von "militarisierten Polizeieinsätzen" einnahmen.
Es dauerte, bis deutsche Friedensforschung, Politik und Militärs die Realität der diffusen, unkontrollierten und unkonventionellen Gewaltausübung bis hin zum Völkermord als Schlüsselproblem versagender und zerfallender Staaten anerkannten, die die Peacekeeper in einen völlig anderen Kontext stellten, als sie ihn von den traditionellen Einsätzen auf dem Sinai, an den Golan-Höhen oder auf Zypern gewöhnt waren. Somalia, der Völkermord in Ruanda ebenso wie der gewaltsame Zerfall des früheren Jugoslawien mit dem Massenmord in Srebrenica stehen für diesen schmerzlichen Lernprozess.
Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, ist die Bundeswehr – wie die Polizei – international als ein erfolgreicher Akteur bei Friedenseinsätzen anerkannt, trotz der schwierigen Diskussionslage Anfang der 1990er Jahre. Über 200.000 Soldaten und Soldatinnen waren inzwischen weltweit ein- oder mehrmals in Einsätzen. Der Balkan, der Kaukasus, der Nahe Osten und Zentralasien gehören heute ebenso selbstverständlich zu Einsatzgebieten wie – zunehmend – Afrika.
Dennoch bleibt Grundsätzliches zu tun, vor allem für die Politik. Die Ausrüstung der Bundeswehrkontingente muss den realen Anforderungen besser angepasst werden. Zögerlich verhält sich die Politik zudem weiterhin bei der Abschaffung von Vorbehalten, mit der Einsätze von Bundeswehrkontingenten versehen wurden, obwohl sie für die Effektivität der Bundeswehr und der Einsätze insgesamt anerkanntermaßen kontraproduktiv sind. (Deutschland ist auf diesem Gebiet jedoch nicht der einzige Sünder.) Die Geburtsstunde dieser Vorbehalte war der Einsatz in Somalia, mit der strikten Limitierung auf Belet Huen als Einsatzort der Bundeswehr. Die Beschränkung der Bundeswehr auf die kongolesische Hauptstadt Kinshasa im Rahmen des EUFOR-Einsatzes war ähnlich problematisch.
Schließlich ist offensichtlich, dass die übliche viermonatige Rotation der Kontingente keinen wirklich sinnvollen Einsatz in komplexen Konfliktumgebungen wie in Afghanistan oder auf dem Balkan möglich macht. Durch den ständigen Wechsel lässt sich kein ausreichender Kontakt zur Zivilbevölkerung herstellen. Die Einheiten werden ausgewechselt, kaum dass sie sich mit ihrer Umgebung vertraut gemacht haben. Die meisten Bundeswehroffiziere wissen das und sind auch der Meinung, dass ein anderes System mit längerer Stehzeit gefunden werden könnte, möglicherweise sogar kosteneffektiver ist als das gegenwärtige.
Der Weg Deutschlands in die Friedenseinsätze war nicht frei von Ironie, Widersprüchen und Überraschungen. Das fing, wie erwähnt, gleich in Namibia mit dem ersten und letzten gemeinsamen deutsch-deutschen Polizeieinsatz in einer ehemaligen deutschen Kolonie an. Dann kam die Serie der Einsätze in Gebieten, in die wir eigentlich nicht gehen wollten: Somalia, vor allem aber Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Georgien, Afghanistan und dann der Nahe Osten. Überraschender noch: Es war nicht eine konservative Regierungskoalition, sondern eine rot-grüne, welche die bis dato nur wenig geöffnete Tür der deutschen militärischen Beteiligung an Friedenseinsätzen machtvoll aufstieß und Deutschland auf diesem Gebiet zu einem weltpolitischen Akteur machte. Auch die einst geballten Vorbehalte gegen das "robuste Peacekeeping" wurden angesichts der Realitäten auf dem Balkan schnell vergessen. Und es war nicht die immer so gepriesene UN, sondern die insbesondere bei den Grünen so ungeliebte NATO, der man als Einsatzorganisation für die Bundeswehr besonders vertraute.
Ist dieses Einschwenken von Rot-Grün auf die Realität internationaler Friedenssicherungspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts als Verrat am Wählerwillen zu brandmarken, wie das seinerzeit zum Teil geschah? Wohl kaum. Denn schließlich ging es in allen Fällen um die Verhinderung von massiven Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord, also um Anliegen, die beiden Parteien traditionell wichtig sind. Ihr Schutz ist jedoch nicht durch schöne Reden durchsetzbar, sondern verlangt einen schmerzlichen realpolitischen Lernprozess, dass nämlich unter bestimmten Bedingungen die Sicherung von Menschenrechten ohne Militäreinsatz nicht zu erreichen ist. (Zudem ging es beim Balkan natürlich auch um handfeste realpolitische Interessen wie die Abwehr massiver Flüchtlingsströme nach Deutschland und anderen Teilen Europas.) Dass das Militär nur sichern und stabilisieren, nicht aber die hinter diesem Morden liegenden Konflikte lösen kann, versteht sich von selbst. Rot-Grün bemühte sich deswegen auch sehr schnell, dem Eindruck, einseitig militärlastig zu sein, durch die Verabschiedung des "Rahmenkonzepts Krisenprävention und Konfliktbeilegung" im Juni 2000 entgegenzuwirken. Diesem noch sehr allgemeinen Konzept folgte dann im Mai 2005 der umfassendere Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung".
Durch den ab Sommer 2002 erfolgten Aufbau des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin, aber auch den zivilen Friedensdienst (ZFD), ließ die Regierung den im Rahmenkonzept erfolgten Ankündigungen Taten folgen. Dass für das deutsche zivile Personal zuständige ZIF gilt heute in seiner Verbindung von Personalrekrutierung, Vorbereitung und Training sowie Analyse und Lessons Learned weltweit als richtunsgweisendes Modell. Mehr als eintausend deutsche und internationale Teilnehmer durchliefen inzwischen die vom ZIF alleine oder mit Partnern organisierten Kurse, über eintausend Personen wurden für den Stand-by-Expertenpool aus mehreren tausend Bewerbern ausgewählt, und knapp 200 zivile deutsche Experten arbeiten derzeit in Einsätzen der OSZE, der UN und EU. Die Zahl der vom ZIF weltweit über die EU und OSZE entsandten Wahlbeobachter hat 2000 überschritten. In der öffentlichen Wahrnehmung geht es diesen Zivilen jedoch ähnlich wie der Polizei: In den Massenmedien gehen sie neben der Bundeswehr unter. Ohne Waffen und gepanzerte Fahrzeuge haben sie keinen Unterhaltungswert.
Insgesamt haben das Land und seine politischen Einrichtungen seit Beginn der neunziger Jahre zweifellos einen bemerkenswerten Lernprozess durchgemacht. Bei Regierung und Abgeordneten hat die fortlaufende Beschäftigung mit den Friedenseinsätzen zu einer enormen Horizonterweiterung und Umdenken geführt. So sind die Mitglieder des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses des Bundestages nicht mehr fast ausschließlich auf die NATO, die transatlantischen Beziehungen und die Bedrohungen aus dem Osten fokussiert, sondern unbekannte Orte mit fremdartigen Namen wie Pristina und Prisren im Kosovo, Kundus und Faisabad in Afghanistan, Juba im Südsudan oder Bunia in der Demokratischen Republik Kongo, früher bestenfalls den Entwicklungspolitikern bekannt, sind inzwischen geläufig und werden bereist.
Bei den Entwicklungspolitikern hat ein nicht weniger grundsätzliches Umdenken stattgefunden. Eine wachsende Zahl von ihnen, allen voran die Entwicklungshilfeministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, treten im Zusammenhang mit Afghanistan und zuvor schon bei dem EU-Militäreinsatz für den Kongo vehement für eine Beteiligung der Bundeswehr ein. Das wäre früher völlig undenkbar gewesen. Es gab Zeiten in der entwicklungspolitischen Praxis und Wissenschaft, da galt die Beschäftigung mit allem Militärischen als unschicklich. Jetzt werden Fragen der zivilen-militärischen Zusammenarbeit auf einem Seminar nach der anderen mit größter Lust und Hingabe bearbeitet. Tempora mutantur! – die Zeiten ändern sich.
Sehr fraglich ist dagegen, ob in der Bevölkerung eine ähnliche "Entprovinzialisierung" des Denkens stattgefunden hat. Die Beteiligung von mehr als 200.000 bundesdeutschen Soldaten und Soldatinnen, mehr als 5000 Polizisten und Polizistinnen sowie mehreren tausend zivilen Experten an internationalen Einsätzen könnte das vermuten lassen. Das bliebe genauer zu überprüfen. Denn Tatsche ist, dass sich – wie eingangs erwähnt – in Sachen der Beteiligung der Bundeswehr an Friedenseinsätzen, vor allem wenn sie mit größeren Risiken verbunden sind, zwischen Regierenden und Bevölkerung eine wachsende Kluft auftut. Die Skepsis gegenüber Sinn und Zweck dieser Einsätze wächst.
Die Politik ist daran nicht schuldlos. Denn allzu leichtfertig wurden in der Vergangenheit schnelle Erfolge suggeriert. Hier ist mehr Mut zur Wahrheit und langer Atem gefordert!
Genau das war auch das Anliegen des "überblick", das hat er immer wieder auf qualifizierte Weise angemahnt. Und deswegen wird er sehr fehlen. Dass ausgerechnet diese Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen muss, ist schwer nachvollziehbar. Sie hat oft früher als andere auf neue Enwicklungen hingewiesen. Diejenigen in der Evangelischen Kirche, die für die Schließung von "der überblick" verantwortlich sind, müssen sich wohl den Vorwurf gefallen lassen, im provinziellen Denken der frühen neunziger Jahre befangen zu sein.
aus: der überblick 04/2007, Seite 66
AUTOR(EN):
Winrich Kühne
Dr. Winrich Kühne ist Direktor des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) in Berlin.