Ein verbotener kirgisischer Brauch lebt weiter
Wenn eine Kirgisin von Schuhen träumt, so sagt der Volksmund, dann steht eine Hochzeit bevor. Das konnte bedeuten, dass sie schon bald von ihrem Liebsten geholt wird. Denn auch bei selbst gewünschten oder arrangierten Ehen wurde die Braut traditionell entführt. Weil die Lebensbedingungen sich verändert haben, bedeutet Frauenraub heute häufig, dass die Entführten ihre Lebenspläne aufgeben und sich der Schwiegerfamilie fügen müssen. Nur wenige Frauen widersetzen sich.
von Sylvie Lasserre
Vor Aïnura, der Tochter eines inzwischen verstorbenen hohen Würdenträgers aus der Region Naryn, lag einst eine glänzende Zukunft. Heute, mit 43 Jahren, erinnert sie sich mit einem Lächeln: Ich studierte Handel am Institut für Handel und Kooperation in Bischkek. Da ich eine der besten Studentinnen meines Jahrgangs war, bekam ich ein Stipendium und ein Flugticket, um mein Studium im Herbstsemester in Samarkand fortzusetzen. Doch in jenem Sommer nimmt ihr Leben eine andere Wendung: Als sie in den Sommerferien nach Hause fährt in ihr Dorf, wird sie gekidnappt. Sie soll verheiratet werden. Sie ist gerade zwanzig Jahre alt.
Alles geschieht sehr schnell. Eines Abends bekommt sie Besuch von ehemaligen Klassenkameraden. Komm mit, wir wollen feiern, Nurlan hat geheiratet. Ihre ältere Schwester, die acht Monate zuvor entführt wurde, warnt sie, doch Aïnura macht sich darüber lustig und verabschiedet sich unbekümmert: Also tschüss dann! Wie ihre Schwester läuft auch sie in eine Falle. Sie fahren und fahren, ihre Freunde tun so, als seien sie auf der Suche nach dem Ort der Feier. Nach einer Stunde schließlich teilen sie ihr mit, sie hätten sie entführt. Aïnura protestiert: Ihr macht wohl Scherze! Ich will nicht! Aber schon hält das Auto vor Nurlans Haus, und man schleppt die junge Frau hinein.
Viele Frauen befinden sich in dem Haus - wie bei jeder Entführung -, Frauen reiferen Alters. Unter ihnen die Großmutter des zukünftigen Ehemanns, die zukünftige Schwiegermutter und die Alten aus dem Dorf. Eine Ecke des Zimmers ist durch einen Vorhang, den Köshögö, abgetrennt, dahinter verbirgt sich die Braut traditionsgemäß am ersten Tag der Hochzeit. Sie führten mich hinter den Vorhang, dabei redeten alle auf einmal heftig auf mich ein. Aïnura fleht sie an, sie gehen zu lassen, sie spricht von ihrem Studium, das sie beenden muss. Aber die Frauen hören nicht auf mit ihrer Litanei: Das ist deine Bestimmung, du musst hier bleiben. Wir wurden auch entführt. Endlich hast du dein Haus gefunden. Endlich hast du deinen Mann gefunden. Sie gönnen ihr keine Ruhepause. Ich konnte nicht mehr; stundenlang haben sie mich so bearbeitetet. Die Frauen fahren fort: Wir kannten deine Eltern. Sie waren sehr ehrbare Menschen. Du darfst nicht mit der Tradition brechen. Du musst hier bleiben. Deine Eltern würden sich schämen, wenn sie noch am Leben wären. Aïnura ist erschöpft, aber sie lässt sich auf nichts ein. Wenn du aus dem Haus gehst, bringt dir das Unglück, du wirst vielleicht nie heiraten.
Die Männer halten sich abseits, warten in einem Nebenzimmer. Sie dürfen die Braut nicht vor der Hochzeitsnacht sehen, die am Abend des zweiten Tages stattfindet. Auf Geheiß der Frauen gehen zwei Männer los, um Aïnuras Tante zu holen. Auch diese ermahnt sie: Bleib hier! Dein Ehemann ist ein guter Kandidat. Du darfst deine Familie nicht entehren. Damit man sie in Ruhe lässt, gibt Aïnura, am Ende ihrer Kräfte, schließlich nach. Sie hat nur eines im Kopf diese hysterischen Weiber los zu werden. Ich habe an nichts mehr gedacht, nicht einmal mehr an meinen zukünftigen Mann. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich mir gesagt habe: Ich bleibe erst einmal hier, später sehen wir dann weiter.
Aïnura ist keine Ausnahme. Es heißt, dass in dieser Region Kirgisistans 95 Prozent der Frauen auf diese Art entführt werden. Prinzipiell steht es dem Mädchen frei, wieder wegzugehen, ist aber der erste Fluchtreflex vorüber, bleiben sie in den allermeisten Fällen da. Bestimmung, Schicksal, Ehre, Tradition das sind die Gründe, weshalb diese jungen Frauen, mit Schulbildung und viele von ihnen berufstätig, diesen Brauch akzeptieren, obwohl er schon in der Sowjetzeit verboten worden ist. Aber sie wissen, dass sie sich der Ächtung durch die ganze Gemeinde aussetzen würden, wenn sie sich widersetzen, und dann nie mehr jemanden von dort heiraten könnten.
Wie die anderen sagt auch Aïnura, sie habe ihr Schicksal akzeptiert. Wenn man sie so strahlen sieht, will man es ihr gerne glauben. Bedauert es eine der Frauen? Alle, die ich getroffen habe, verneinen das. Hier spricht man nicht viel über sich selbst. Es ist schwierig herauszufinden, ob sie wirklich glücklich sind. Das Thema ist offenbar tabu. Nur Aïnura, die heute in der Hauptstadt Bischkek lebt, macht Andeutungen: Ich habe mich jetzt an meinen Mann gewöhnt, aber trotzdem bereue ich es, dass ich am Tag meiner Entführung hier geblieben bin. Ich hätte entschlossener sein müssen. Wenn ich nein gesagt hätte, wäre ich nach Samarkand gegangen, hätte mein Studium beendet, und mein Leben wäre ganz anders gewesen. Das glaubt man ihr gern: eine schlammige Piste, unfertige Häuser, ein unbebautes Gelände und, als hätte man ihn hier abgestellt, weil er ausgedient hat, ein alter grüner Wohnwagen. So lebt sie seit zwei Jahren mit Nurlan. Seit dem Zerfall des Sowjetreichs und der Schließung der Wetterstation, die er geleitet hat, ist der ehemalige Meteorologe arbeitslos. Aïnura arbeitet in einem Café, als Geschirrspülerin.
Die Unabhängigkeit von 1991 hat die Wirtschaft der ehemaligen Sowjetrepubliken de facto zerstört. Das Bruttosozialprodukt Kirgisistans soll zwischen 1992 und 1995 um die Hälfte zurückgegangen sein. Auch wenn sie damals noch sehr jung war, fiel Meerim, der Nichte von Aïnura, der Zusammenbruch des Lebensstandards auf: Mein Vater war ein Ingenieur, er leitete eine Kolchose. Zu der Zeit lebten wir im Dorf. Meine Mutter arbeitete in der Verwaltung. Wir hatten ein großes Haus. An Feiertagen fuhren wir zum See Issyk Köl. Wir hatten keine Probleme, Kleidung und Essen zu kaufen. Aber 1994 schloss die Kolchose für immer. Arbeitslos geworden, kümmerte sich der Vater um die Pferde und die kleine Schafherde der Familie. Als auch die Mutter ihren Job verlor, bedeutete das die Katastrophe für die Familie. Das Vieh und ein Feld waren das einzige, was ihnen zum Leben blieb. Meine Eltern verkauften von Zeit zu Zeit ein Pferd oder ein Schaf. Und Kartoffeln.
Ein Großteil der Bevölkerung lebt heute unterhalb der Armutsgrenze. Obwohl fast alle lesen und schreiben können, ist Kirgisistan zu einem der ärmsten Länder der Welt geworden. In manchen kirgisischen Städten hat die Arbeitslosenquote 60 Prozent erreicht. In den Dörfern ist die Lage besonders katastrophal. In der Region von Naryn haben die meisten Ingenieure und führenden Angestellten nach dem Zerfall ihre Stelle verloren. Die Hälfte von ihnen ist in den Dörfern geblieben und betreibt dort Landwirtschaft oder Viehzucht, die andere Hälfte ist nach Bischkek gegangen, um dort zu arbeiten, erzählt Meerims Vater. Und seine Tochter fügt hinzu: Der Zerfall war für das ganze Volk ein großer Schock. Die Menschen dachten, die Sowjetmacht käme zurück. Sie warteten. Sie lebten von einem Tag zum nächsten, ohne Pläne zu machen. Erst nach drei Jahren haben sie begriffen, dass es wirklich vorbei war und dass sie sich neu organisieren mussten. Dann teilten sie die gemeinschaftlichen Güter des Dorfs auf die einzelnen auf. Doch es herrschte ungehemmte Korruption. Die Güter wurden nicht gerecht verteilt. Nur die völlig korrupten Funktionäre und die Kaufleute haben davon profitiert. Der Übergang zur Marktwirtschaft erwies sich als schwierig.
Das Dorf von Aïnura liegt an der alten Seidenstraße, eine Tagesreise von der Hauptstadt entfernt. Hinter dem Pass von Dolon begegnet man riesigen Lastwagen, vollbeladen mit Altmetall, die Richtung China unterwegs sind, wo ihre rostige Ladung verkauft wird. Das Land wird ausgeschlachtet. Nach der Unabhängigkeit wurden die meisten Fabriken liquidiert oder einfach verlassen. Das mit den Lastern hat 1993 angefangen, erzählt der Fahrer. Die Tonne, die für vier Euro gekauft wurde, wird für 150 Euro weiterverkauft. In Bischkek verschwinden selbst die Gullydeckel. Und nachts sollte man sich besser in den holprigen, unbeleuchteten Straßen vorsehen. Es scheint, als würde sich das Land auflösen.
Zurück im Dorf: Grell blendet die Sonne über der Hochebene an diesem Herbsttag. Der kleine Marktflecken breitet sich am Fuß des 3000 Meter hohen Tianschan-Gebirges aus. Schnurgerade Pistenstraßen kreuzen sich rechtwinklig, niedrige Häuser mit Wellblechdächern, kein einziges Geschäft ein Städtebau, der davon zeugt, in welcher Eile das Dorf gebaut wurde. 1930 haben die Russen begonnen, die Häuser hier zu bauen, danach mussten wir sesshaft werden, erinnert sich Abdyrakman, der Imam des Dorfs. Früher haben wir auf dem Weideplatz in Jurtezelten gewohnt. Wir lebten in Stämmen. Aus der Sowjetzeit gibt es heute nur noch das Gerippe der Kolchose, die Schule und das Verwaltungsgebäude, das einem Rathaus entspricht.
Abdyrakman ist heute 78. Wie alle anderen hat auch er seine zukünftige Frau entführt. Ich kannte sie sehr gut, auch ihre Eltern, aber ich habe sie trotzdem entführt, man machte das so. Sichtlich bewegt erinnert er sich: Sie war aus dem gleichen Dorf wie ich, aber sie gehörte zu einem anderen Stamm. Es war Sommer, sie schaukelte. Ich habe sie auf dem Pferd entführt. Ein Freund war dabei, er hat mir geholfen, sie auf mein Pferd zu heben. Dann sind wir bis zu mir nach Hause galoppiert. Am nächsten Tag brachten meine Eltern ihren Eltern den Kalmy (die Mitgift): neun Schafe, neun Kühe und neun Pferde.
Es ist Mittagspause. Abdyrakman und seine Familie sind im Hof vor dem Haus versammelt. Zu Ehren des Gastes wurde ein Schaf geschlachtet. Ein hellgrünes Tuch um die Haare geschlungen, hockt Saliman, die Schwiegertochter, vor einer Wanne und wäscht die Eingeweide, bevor sie wieder zur Schule muss. Sie ist Mathematiklehrerin. Auch sie wurde von ihrem zukünftigen Mann geraubt. Sie kannte ihn gut. Wir wohnten in derselben Straße, wir waren gute Freunde. Während seines Militärdienstes in der Ukraine haben wir uns oft geschrieben. Nein, nein, keine Liebesbriefe, nur freundschaftliche, erhebt sie Einspruch. Ich dachte nicht daran, dass er mich eines Tages entführen könnte. Aber vielleicht hoffte sie es insgeheim.
Zwei Straßen weiter wohnt Aïsulou, ihre Schwägerin, 38 Jahre alt, strahlend, Mutter von drei Kindern. Wie Aïnura und Saliman, wie viele kirgisische Frauen, ist Aïsulou bodenständig und resolut. Nach ihrem Abitur, das sie zwei Jahre im Voraus macht, und ihrer Ausbildung am Institut für Finanzen in Bischkek, die sie mit Auszeichnung beendet, findet sie 1985 bei der Dorfverwaltung eine Anstellung als Buchhalterin, ein für die Region wichtiger Posten. Zwei Jahre später, als sie auf dem Weg vom Büro zur Bushaltestelle ist, um nach Hause zu fahren, tauchen aus einem Garten zwei Männer auf. Sie packen sie, jeder an einem Arm, und schleppen sie in das Haus. Der zukünftige Ehemann ist zu schüchtern, um sich zu zeigen. Seine Nichte, die damals sechs Jahre alt war, erinnert sich: Zwei Männer haben sie geschnappt. Die Leute schauten aus den Fenstern. Seitdem lebt Aïsulou hier. Im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen kannte sie ihren zukünftigen Mann kaum. Er war der Neffe einer Arbeitskollegin. Sie hatte ihn nur zweimal gesehen. Es war diese Kollegin, die Aïsulou ausgesucht und die Hochzeit arrangiert hatte. Aïsulous Mann Ajubek lebt heute in Russland, wo er vor kurzem nach einer langen Zeit der Arbeitslosigkeit eine Stelle gefunden hat. Mit großer Gelassenheit kommt Aïsulou für den größten Teil des Familieneinkommens auf und kümmert sich um die Erziehung ihrer Kinder.
Kanybek, ein heute arbeitsloser Ingenieur, war an zwölf Entführungen beteiligt, auch an der von Aïsulou. Da er ein stämmiger Kerl ist, wenden sich seine Freunde oft an ihn, wenn sie heiraten wollen. Es hängt davon ab, wie stark du bist und wie viele Freunde du hast. Man mietet ein Auto und ruft drei Freunde an. Der zukünftige Ehemann ist dabei immer aufgeregt, aus Angst, das Mädchen könnte sich weigern. Aber die Freunde, die sich untereinander gerne die Professionellen nennen, empfinden nichts Besonderes dabei: Das ist Tradition. Aber wir versuchen vorsichtig zu sein, wir wollen das Mädchen nicht verletzen. Und er gesteht ein: Manche Männer lehnen es ab, Mädchen zu rauben. Doch das ist eher die Ausnahme. Oft trinkt man vorher ein bisschen, um sich Mut zu machen. Kanybek hat seine Frau entführt, weil er sie vom Sehen kannte und sie ihm gefiel. Sie war sehr sportlich, sie spielte Volleyball. Aber die anderen, wie zum Beispiel Nurlan, Aïnuras Mann, oder Ajubek, der Mann von Aïsulou, sind bei der Entführung ihrer Ehefrauen dem Rat der Mütter, Tanten oder Großmütter gefolgt. Als der Augenblick zu heiraten gekommen war, haben sie schließlich auch nur gehorcht, auch sie waren Opfer der Tradition.
Die Zeiten ändern sich. Nach dem Zerfall des Sowjetreiches traten bis dahin ungekannte soziale Klassen in Erscheinung. Bei so einer Wirtschaft geht die Romantik ein wenig verloren, wirft Meerim noch ein. Das erste, was die Familie der jungen Frau heute interessiert, ist die Stellung des Mannes. Ist er reich, wo wohnt er, was für ein Haus hat er? Das ist das Allerwichtigste. Ihr Glück interessiert niemanden. Kein junger Mann ohne Geld wagt heute noch, ein reiches Mädchen zu entführen, aus Angst, abgelehnt zu werden. Er könnte zu hören bekommen: Hör zu, such dir eine Frau, die zu dir passt. Wir nehmen unsere Tochter wieder mit. Von den zwölf Frauen, die Kanybek entführt hat, hat nur eine einzige sich geweigert zu bleiben: Die Eltern des Mädchens kamen und nahmen sie wieder mit, sie mochten den Jungen nicht. Das war sehr beschämend für ihn. Meerim hat ein paar Freundinnen, die von Männern entführt wurden, die sie bereits kannten. So sieht es der Brauch eigentlich auch vor. Doch ihres Erachtens wird das immer seltener.
Die Zeiten ändern sich, und damit öffnet sich eine Tür für Missbräuche. Nach einem Bericht der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) aus dem Jahr 2004 werden die Entführungen zukünftiger Ehefrauen früher gleichbedeutend mit einer arrangierten Hochzeit unter dem Deckmantel der Tradition immer härter. Nur ein Drittel der jungen Frauen soll einverstanden sein. Nach den Aussagen von Frauen innerhalb einer Umfrage der UNESCO ist bei den Entführungen zunehmend Gewalt im Spiel.
Gehört die vor drei Jahren entführte Akulaï zu diesen neuen Opfern? Sie ist dreiundzwanzig, ihre schüchterne sanfte Stimme steht in merkwürdigem Gegensatz zur Härte ihres Blicks. Sie wohnt mit der Familie ihres Mannes in einem baufälligen Haus abseits des Dorfs. Vor jenem schicksalhaften Tag hatte sie ihren Mann noch nie gesehen. Noch nie von ihm gehört. Seit ihrer Entführung lebt sie weit weg von den Ihrigen. Sie kommt aus Naryn, der Hauptstadt der Region, ungefähr vierzig Kilometer vom Dorf entfernt. Sie hat ein schlichtes Tuch fest um die Stirn gebunden und drückt ein Baby an ihre Brust. Sie wollte einmal Lehrerin werden.
Aber während ihres Studiums wird sie entführt. Eines Tages geht sie einer Frau und drei Männern, die sie noch nie gesehen hat, in die Falle. Die Frau, eine Tante ihres zukünftigen Mannes, meldet sich in der Schule und lässt sie aus dem Unterricht holen. Du bist doch Akulaï B.? Ich bringe Dir Lebensmittel von Deinen Eltern. Komm mit, sie sind im Auto. Das Mädchen hegt kein Misstrauen. Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals entführt werden würde. Die Frau tut so, als würde sie im Fahrzeuginneren etwas suchen. Da tauchen drei Männer auf und stoßen Akulaï in den Wagen. Ich bekam Panik, krallte mich am Lenkrad fest, warf alle kleinen Kissen aus dem Fenster. Aber sie halten sie fest, jeder an einem Arm, und so wird sie zum Haus der Familie ihres zukünftigen Mannes gebracht.
Eine Ecke des Zimmers ist durch den Köshögö abgetrennt. Die alten Frauen warten schon: Wir haben genau dich ausgesucht, du wirst uns eine gute Schwiegertochter sein, eine gute Ehefrau für unseren Sohn. Wenn du wieder gehst, wird dir das Unglück bringen, und du wirst nie Glück finden. Unser Sohn ist ein guter Mann. So ging es stundenlang. Akulaï, von Entsetzen gepackt, denkt nur an Flucht und spielt mit dem Gedanken, eine Fensterscheibe einzuschlagen, um zu fliehen. Doch da gibt man ihr einen Brief von ihren Eltern, die man inzwischen benachrichtigt hat: Meine Tochter, du hast einen Mann gefunden, du hast ein Haus gefunden, du bist deiner Bestimmung begegnet. Du kannst bleiben. Das ist das Schlusswort. Wie die anderen entscheidet sie sich zu bleiben. Sie fügt hinzu: Und übrigens: Kurz vor meiner Entführung hatte ich von Schuhen geträumt die Kirgisen glauben, dass ein solcher Traum eine Heirat ankündigt. Ich dachte, das sei ein Wink des Schicksals. Ein Monat später ist ihre Schwester an der Reihe, entführt zu werden. Akulaï hatte von zwei Paar Schuhen geträumt.
In der Stadt scheint die Tradition weniger auf den Frauen zu lasten. Meerim ist so alt wie Akulaï. Meerim studiert in Bischkek Fremdsprachen. Schwarze lange Haare, ein rundes Gesicht, mit vollen wunderschönen Zügen, sie wirkt entschlossen und sehr selbständig. Vor vier Jahren hat sie das Dorf verlassen. Trotz der vielen Bewerber hat sie derzeit noch nicht die Absicht zu heiraten. Sie weiß, dass sie ein großes Risiko eingeht, wenn sie in den Sommerferien nach Hause in ihr Dorf fährt: ihre Mutter, ihre Tanten, ihre Großmütter alle wurden geraubt. Doch das macht ihr keine Angst. Sie weiß, was sie will, und es kommt für sie nicht in Frage, sich dem Brauch zu unterwerfen: Ich bin mir meiner sicher. Selbst wenn ich geraubt werden sollte, fühle ich mich stark genug, um zu sagen, dass ich nicht dableibe. Mein Selbstvertrauen ist groß: Ich weiß, dass ich das Haus wieder verlassen würde! Vor allem weiß sie, dass das Dorf nicht mehr ihr Leben ist.
aus: der überblick 01/2006, Seite 32
AUTOR(EN):
Sylvie Lasserre
Sylvie Lasserre ist freie Journalistin in Paris und schreibt über Zentralasien und islamische Staaten.