In Nordmexiko besingen populäre Lieder die Drogenhändler als Vorbilder für die Missachtung des Staates
Merkwürdig muten manche der Liedtexte an: Von heldenhaften Drogenbossen, verwegenen Schmugglern und grausam ermordeten Verrätern ist da die Rede. Wenn Mario Quintero von den Tucanes de Tijuana sein Loblied auf eine Prise Kokain anstimmt, sind die Fans nicht mehr zu halten.
von Sandra Weiss
An den Wochenenden fließt im Salón Pacífico im Zentrum der mexikanischen Hauptstadt der Tequila in Strömen. Männer mit breitkrempigen Hüten und Cowboystiefeln wiegen sich im Takt zu den Schrammelklängen von Gitarre, Akkordeon und Bass. Für europäische Ohren sind die corridos, die Balladen aus dem Norden Mexikos, etwas gewöhnungsbedürftig: Die Gitarre ist oft um einen Halbton verstimmt, dazu erklingen die quäkenden Kopfstimmen der Sänger und ein schmissiger, Polka ähnlicher "wum-ta-ta"-Rhythmus des Basses.
Merkwürdig muten auch manche der Liedtexte an: Von heldenhaften Drogenbossen, verwegenen Schmugglern und grausam ermordeten Verrätern ist da die Rede. "Nach Las Vegas und Kalifornien bin ich, die schwarze Katze, geflogen. Viele Diamanten und weiße Fracht habe ich an den Grenzbeamten vorbeigeschmuggelt." Wenn Mario Quintero von den Tucanes de Tijuana sein Loblied auf eine Prise Kokain anstimmt, sind die Fans nicht mehr zu halten. Ob kreischende Teenager oder Mittvierziger, alle scheinen die versteckte Botschaft zwischen den Zeilen zu verstehen. Etwa wenn die Rede ist von der Liebe eines Schmugglers zu seinem Hahn, seinem Papagei und seiner Ziege – Metaphern für Marihuana, Kokain und Heroin.
Die corridos werden längst nicht mehr nur in ihrer Ursprungsregion im so genannten Drogendreieck der Bundesstaaten Sinaloa, Durango und Sonora gespielt. Bands wie Los Tucanes de Tijuana oder Los Tigres del Norte nehmen mit ihren Konzerten, CDs und Kassetten jährlich Millionen ein und sind auch in den Vereinigten Staaten und in Kolumbien ein Begriff. Sogar die Rockkultur der USA haben sie beeinflusst. So schildert etwa Bruce Springsteen in seinem Song "Sinaloa Cowboys" die Abenteuer von mexikanischen Migranten, die in den USA ein Drogenlabor betreiben. "Die corridos erzählen einfach und ungeschminkt die Wahrheit, so wie es bei uns zugeht", sagt Armando aus Sinaloa, ein Fan der Tucanes de Tijuana.
Dabei hatten die corridos mit Drogen ursprünglich gar nichts zu tun. Zunächst vornehmlich instrumentale Stücke, wurden sie mit Beginn der mexikanischen Revolution Anfang des 20. Jahrhunderts mit erzählerischen Texten versehen, die sich unter anderem mit den Heldentaten mexikanischer Revolutionäre wie etwa Pancho Villa befassten. Aber auch Alltagsthemen wie tragische Liebesgeschichten oder Verbrechen wurden von den Bänkelsängern aufgegriffen und oftmals mit einer fabelähnlichen Moral versehen.
Im Norden Mexikos, wo Regen eine Seltenheit ist, bitterkalte Winter und heiße Sommer das Leben zur Hölle machen, gelten seit jeher eigene Gesetze. Jahrundertelang wurde die unwirtliche Region von kriegerischen Nomaden, den Tolteken, beherrscht. Siedlungen und Ackerbau kamen erst spät auf. Zu Reichtum konnte man mit dem Anbau von Mais oder mit Viehzucht auch nur schwer kommen, da immer wieder Dürreperioden die Ernte vernichteten und das Vieh verdursten ließen. Als Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA zunächst das Opium und dann der Alkohol verboten wurden, ergriffen die Norteños, die Bewohner des Nordens, ihre Chance und begannen, die verbotenen Güter in großen Mengen ins Nachbarland zu schmuggeln. So entstand Anfang des Jahrhunderts in der Grenzregion eine Kultur des contrabando, des Schmuggels. Bald fand diese Realität auch Eingang in die corridos.
Der Anbau von Marihuana und der Handel mit Kokain kamen in den siebziger Jahren hinzu, als die Vereinigten Staaten diesen Drogen den Krieg erklärten. Die Gewinne aus dem Geschäft mit der verbotenen Ware brachten das Sozialgefüge ins Wanken: Einige wenige Großhändler brachten es zu schnellem Reichtum, von dem wiederum einiges nach unten durchsickerte – an die Leibwächter oder die Bauarbeiter, die die Villen der Drogenbosse bauten; an die Kleinbauern, die ein paar Hektar Marihuana anbauten; und nicht zuletzt an Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Politiker, die das Drogengeschäft stillschweigend duldeten und dafür großzügig entlohnt wurden. Die geschätzten Einnahmen der mexikanischen Drogenkartelle belaufen sich auf 10 bis 30 Milliarden Dollar pro Jahr. Die mexikanische Regierung verurteilte offiziell zwar das "schmutzige Geschäft" mit dem "Teufelszeug", doch die Wirklichkeit im Norden Mexikos sah anders aus.
So sind die corridos zu narcocorridos geworden. "Sie spiegeln das wider, was die Menschen dort täglich erleben, und demaskieren auf diese Weise die Scheinheiligkeit der Behörden", sagt der Soziologe Luis Astorga von der staatlichen mexikanischen Universität. In den narcocorridos kommen immer wieder korrupte Polizisten und Verräter vor.
Viele Balladen preisen auch Jesús de Malverde, einen Banditen im Stile Robin Hoods, der angeblich 1909 in Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstates Sinaloa, aufgehängt wurde und dem zahlreiche posthume Wundertaten nachgesagt werden. Die örtliche Bevölkerung setzte gegen den Widerstand der Kirche und der Behörden sogar den Bau einer kleinen Kapelle für den "Heiligen der Banditen und der Entrechteten" durch. Und weil mittlerweile zahlreiche Drogenhändler Jesús de Malverde zu ihrem Idol auserkoren haben, wird er von vielen auch el narcosanto, der Drogenheilige, genannt. Wer ihm Opfergaben darbringt, darf auf den Beistand des Heiligen im Bandenkrieg und auf Schutz für seine Drogentransporte hoffen. "Malverde und die Drogenhändler haben mehr gemein, als man auf den ersten Blick annimmt", erläutert Astorga. "Beide verkörpern eine gewisse Faszination und Bewunderung für diejenigen, die einem als ungerecht empfundenen Staat das Gewaltmonopol streitig machen."
Für den auf die Analyse von narcocorridos spezialisierten Professor Manuel Valenzuela aus Tijuana sind die Balladen Ausdruck des sozialen Verfalls: "Die politische Elite, die Armee, die Kirche und die Banken sind korrupt. Für viele Jugendliche ist der Drogenhandel der Weg zu schnellem Reichtum, auch wenn sie Angst haben, ihren 25. Geburtstag nicht zu erleben", sagte er unlängst in einem Interview der New York Times. Luis Astorga, der selbst aus Sinaloa stammt und mehrere Bücher über den Drogenhandel verfasst hat, ist dagegen nicht der Meinung, dass alle Fans der narcocorridos aktive oder potenzielle Drogenhändler sind. "Klar gibt es die Überzeugten, die in das Geschäft verwickelt sind", sagt er. "Aber die meisten sehen diese Musik als Folklore oder drücken damit ihren passiven Widerstand gegen eine von oben verordnete, manicheistische Deutung der Wirklichkeit aus." Für viele Mexikaner insbesondere einfacher Herkunft sind die Drogenhändler Menschen wie sie, die einer als illegitim empfundenen Herrschaftsstruktur die Stirn bieten. Mit ihren oft gewalttätigen Methoden entsprechen sie dem Stereotyp des Latino-Macho; ihr Erfolg wirkt anziehend, ihr sozialer Aufstieg wird mythisch verklärt.
Die Behörden haben vergeblich versucht, dem Phänomen der narcocorridos Einhalt zu gebieten. Eine offizielle Zensur der Lieder hat es zwar nie gegeben. Aber die Regierung hat bei einem Treffen zwischen dem ehemaligen Gouverneur von Sinaloa, Francisco Labastida, und den Direktoren der großen Radiostationen die Sender inständig aufgefordert, der "zersetzenden Moral der Drogensänger" keine Plattform zu bieten. Eine Zeit lang wurden in der Tat nur wenige narcocorridos ausgestrahlt. Doch das Geschäft war zu verlockend: Die Tucanes verkaufen nach Angaben der Plattenfirma EMI jährlich rund 2,5 Millionen Platten. Inzwischen sind ihre Balladen von Tijuana im Norden bis Tapachula im Süden zu hören. "Wahrscheinlich wäre es auch schwer, sie zu verbieten, denn dann müsste eine ganze Menge anderer Kulturprodukte wegen Gewaltverherrlichung oder Unmoral ebenfalls zensiert werden", sagt Astorga. "Angefangen bei Videos aus den USA mit Gewaltdarstellungen."
Ins Licht der Öffentlichkeit rückten die narcocorridos erstmals 1997, als die mexikanische Zeitschrift Proceso das Geständnis des gefassten Drogenhändlers Alejandro Hodoyán abdruckte. Er schilderte unter anderem die Nähe der Tucanes zum Drogenkartell der Brüder Arellano Félix, das im Nordwesten Mexikos operiert. Laut Hodoyán bewunderten die Gebrüder des Tijuana- Kartells die Tucanes so sehr, dass sie ihnen sogar Kostüme und Ausrüstung kauften. Die Band hat das stets bestritten, wenngleich sie einräumen musste, auf zahlreichen Privatfeiern in Tijuana gespielt zu haben, ohne genau zu wissen, wer sie bezahlte.
Hodoyán ist auch die Erkenntnis zu verdanken, dass die Balladen ethische Richtlinien für Drogenhändler beinhalten. "In einigen werden Morde im Auftrag der Gebrüder Arellano Félix genau geschildert", sagte Hodoyán. "Ich weiß nicht, wie sie (die Tucanes) an diese Information gekommen sind, aber in den corridos wird deutlich, wie sich die Mitglieder des Kartells zu verhalten haben. Es wird gesagt, warum sie getötet wurden und was sie falsch gemacht haben."
Im Umgang mit den Behörden gilt bei den Drogenhändlern die Formel plata o plomo – Geld oder Blei. Es verwundert daher nicht, dass nach Einschätzung des ehemaligen Generalstaatsanwaltes Antonio Lozano-Gracia 80 Prozent der Regierungsbeamten und Staatsanwälte korrupt sind. Schätzungsweise 500 Millionen Dollar jährlich lassen sich die Drogenkartelle die Schmiergelder kosten. Das ist etwa das Doppelte des Budgets, das Lozano-Gracia zur Verfügung hat. Ein Polizist gestand unlängst gegenüber einem mexikanischen Journalisten der Zeitschrift nexos: "Man muss das verstehen. Wenn ich wirklich ernsthaft Beweise gegen die Drogenhändler sammeln würde, wäre ich längst tot. Und es würde sie ohnehin niemand festnehmen."
Immer wieder werden Verstrickungen ranghoher Politker, Staatsanwälte, Militärs und Künstler ins Drogengeschäft aufgedeckt. Der prominenteste Fall ist sicherlich der des Beauftragten des mexikanischen Präsidenten zur Bekämpfung des Drogenhandels und -konsums, General Jesús Gutiérrez Rebollo. Der im Volksmund so genannte Anti- Drogen-Zar wurde im Februar 1997 festgenommen, nachdem die Staatsanwaltschaft herausgefunden hatte, dass er ein fürstliches Zweitgehalt von dem inzwischen verstorbenen Drogenboss Amado Carrillo Fuentes erhalten hatte.
Francisco Labastida, der einst um die Eindämmung der narcocorridos bemüht war, geriet nach seiner Ernennung zum Innenminister 1998 ebenfalls unter Verdacht, ins Drogengeschäft verwickelt zu sein. Die in US-Medien veröffentlichten Vorwürfe sind zwar nie bestätigt, doch auch nie glaubwürdig ausgeräumt worden. Labastida ist nun Präsidentschaftskandidat der seit 71 Jahren regierenden Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Auch Raúl Salinas, der Bruder des ehemaligen Präsidenten Carlos Salinas, der inzwischen wegen Mordes zu 50 Jahren Haft verurteilt worden ist, soll die 230 Millionen Dollar auf seinen Schweizer Konten im Drogengeschäft erwirtschaftet haben. Ihm widmeten die Tigres del Norte ihr Lied "El Circo" – "Ja, der Raúl wurde Millionär, wie ein Magier ließ er die Millionen verschwinden. Jetzt atmen die Leute zwar auf, aber nur solange bis der Zirkus von vorne beginnt."
"Diese riesige, unsichtbare Macht der Drogenbosse konnte und kann sich nur durch das stillschweigende Einverständnis der Gesellschaft und der Behörden herausbilden", schreibt der französische Soziologe Jean Rivelois in seinem vor kurzem erschienenen Buch Drogue et pouvoirs: Du Méxique au Paradis (Drogen und Macht: Von Mexiko ins Paradies). "Anwälte, Architekten, Polizisten, Händler, Nachbarn, alle haben teil an diesem Prozess der Legitimierung der Drogenbosse. Sie gehören in gewisser Weise zum gesellschaftlichen Spektrum dazu, haben Teil an der örtlichen Folklore, an den Machtverhältnissen und an der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen. Sie stellen eine Art Institutionalisierung der Illegalität dar." Auch die narcocorridos tragen dazu bei. Luis Astorga ist zwar nicht der Meinung, dass die Drogenballaden Teil einer gesteuerten subversiven Kampagne sind. Doch dass damit das Fundament der Rechtsstaatlichkeit unterlaufen wird, da sind sich die meisten Wissenschaftler einig.
"Die Revolverhelden sind zurück,
Sie kommen nicht in kriegerischer |
Die Straßen von Tierra Blanca sind bereits voll von Leben, man sieht schon neue Autos und hört Maschinenpistolen knattern, und die schönen Villen sind nicht mehr dem Verfall preisgegeben.
Man hört Musiker spielen |
Die Straßen von Tierra Blanca sind bereits voll von Leben, man sieht schon neue Autos und hört Maschinenpistolen knattern, und die schönen Villen sind nicht mehr dem Verfall preisgegeben." |
aus: der überblick 02/2000, Seite 44
AUTOR(EN):
Sandra Weiss:
Sandra Weiss ist freie Journalistin. Sie lebt in Mexiko und arbeitet dort unter anderem für Agence-France-Presse und die mexikanische Tageszeitung "Milenio".