Das Verhältnis der mexikanischen Regierung zum Vatikan hat sich deutlich entspannt
Mexiko ist ein überwiegend katholisches Land und hat doch jahrzehntelang dem öffentlichen Wirken des katholischen Klerus äußerst enge Grenzen gesetzt. Denn die politische Elite, die aus der Revolution hervorging, war antiklerikal geprägt und hat auf der strikten Trennung von Staat und Religion bestanden. Dieses Erbe der Revolution ist jedoch in den vergangenen Jahrzehnten stark verblasst; die Kirche hat Wege gefunden, im öffentlichen Leben Einfluss zu nehmen, und der Vatikan hat offiziell Beziehungen zur Regierung Mexikos.
von Dr. Hans-Jürgen Prien
Mexiko bleibt mit seinen über 90 Millionen Einwohnern das zweitgrößte katholische Land nach Brasilien – auch wenn die Zahl nicht katholischer Mexikaner wächst. Dennoch war es fast eine Sensation, als am 27. Januar 1979 mit Johannes Paul II. erstmals ein Papst mexikanischen Boden betrat. Denn das Land galt als das laizistischste außerhalb des Ostblocks und unterhielt keine diplomatischen Beziehungen zum Vatikan, obwohl 90 Prozent seiner Einwohner katholisch getauft sind.
Der Antiklerikalismus ist ein wichtiger Bestandteil der mexikanischen Revolutionsmystik und des Rituals der "institutionalisierten Revolution". Er hat schon eine mehr als 150-jährige Tradition. Allerdings kommt der Kirchenfeindlichkeit in Mexiko mehr symbolische als praktische Bedeutung zu.
Das ist aus der Geschichte zu verstehen. Die katholische Hierarchie war im 19. Jahrhundert stark politisiert und mit den konservativen Kräften liiert. Als der Führer der mexikanischen liberalen Reformbewegung Benito Juárez 1857 eine liberal-antiklerikale Verfassung durchgesetzt und in den Reformgesetzen von 1859 eine überaus strenge Trennung von Staat und Kirche niedergelegt hatte, kam es zum Bürgerkrieg. Nachdem die konservativen Kräfte 1861 praktisch besiegt worden waren, landeten 1861/62 Truppen der Gläubigerstaaten Spanien, England und Frankreich, aus der sich eine französische Invasion entwickelte. Der katholische Episkopat unterstützte 1864 sogar den von den französischen Invasoren ausgehenden Versuch, eine Monarchie unter Erzherzog Maximilian zu errichten.
Zu Beginn der mexikanischen Revolution wurde dem Episkopat daher vorgeworfen, reaktionäre Kräfte unterstützt zu haben – so pauschal wohl zu Unrecht. Die Verfassunggebende Versammlung von 1916-17 repräsentierte die kirchenfeindlichen Aktivisten der Revolution. Die Verfassung schloss den organisierten Katholizismus völlig vom öffentlichen Leben aus und nahm der Kirche den Status als juristische Person sowie jeden Einfluss auf das Erziehungswesen, auf die Wohlfahrt und die Wissenschaft. Sie hat keinerlei Besitzrechte an ihren Bauten und darf nicht einmal religiöse Orden unterhalten. Kleriker verfügen nach dieser Verfassung über keinerlei politische Rechte und sind auch in ihrer Ausdrucksfreiheit eingeschränkt.
Die Demütigung der katholischen Kirche und die Konflikte zwischen politischer und kirchlicher Macht erreichten in den zwanziger Jahren unter dem Präsidenten und "obersten Revolutionsführer" Plutarco Elias Calles ihren Höhepunkt. Schließlich kam es nach dem bischöflichen Interdikt (Verbot aller Gottesdienste und Amtshandlungen durch die Bischöfe) 1926-29 im Cristero-Aufstand zu einem frontalen Zusammenstoß zwischen den Kräften der Revolution und dem katholischen Landvolk, das heißt zu einem Bürgerkrieg. Der Schlachtruf der schließlich blutig besiegten Cristeros lautete "Christus ist König!"
Unter Calles Nachfolgern bahnte sich eine Kompromisslösung an, nach der der Staat die Kirche stillschweigend als gesellschaftliche Größe anerkannte, während die Kirche sich im Gegenzug jeglicher politischer Tätigkeit enthielt. Gestalt nahm der neue Modus Vivendi aber erst Ende der dreißiger Jahre unter Präsident Lázaro Cárdenas an. Als Cárdenas 1935 sein Amt antrat, war die Lage noch sehr gespannt. Im ganzen Land durften nur 305 Priester amtieren. In 17 Bundesstaaten wurde nicht ein einziger geduldet. Etwa 500 kirchliche Gebäude waren beschlagnahmt worden. Im August 1938 waren dagegen in allen Bundesstaaten bis auf Tabasco die Kirchen wieder geöffnet und die Priester zugelassen.
Freilich wurden im staatlichen Bildungswesen weiter der Sozialismus und der Atheismus propagiert, weshalb die Kirche sich bemühte, ein kirchliches Schulwesen aufzubauen. Unter Präsident Manuel Avila Camacho (1940-1946), der sich zum katholischen Glauben bekannte, wurde die Verfassung zum "toten Buchstaben". Viele Konfessionsschulen wurden eröffnet, in denen nicht nur Religionsunterricht erteilt wurde, sondern die sogar von Priestern geleitet wurden. Der Schulkampf, der 1934-1940 sogar zu einer zweiten, aber unbedeutenden Erhebung der Cristeros geführt hatte, wurde erst 1946 mit der Streichung des Verfassungsartikels 3 über die sozialistische Erziehung endgültig beendet.
Seit den dreißiger Jahren ist es also zu einer Koexistenz von Kirche und Staat und zu einer diskreten Zusammenarbeit gekommen. So duldet der Staat Konfessionsschulen, ja sogar Universitäten unter kirchlicher Leitung. Die Kirchengebäude sind nationales Eigentum, das aber von der Geistlichkeit "verwaltet" wird. Es gibt öffentliche kirchliche Veranstaltungen, kirchlichen Besitz und auch Orden.
1959-1962 nahmen die Spannungen zwischen Kirche und Staat noch einmal zu, weil Präsident López Mateos (1958-1964) für die Grundschulen kostenlose, vom Staat herauszugebende Lehrbücher einführen wollte. Die von ihm geschaffene Kommission, die darüber zu befinden hatte, folgte der ideologischen Linie der Partei der Institutionalisierten Revolution (Partido Revolucionario Institucional, PRI), und das Sekretariat für öffentliche Erziehung bestand auf der Einführung der Bücher an allen Schulen. Aller öffentliche Widerstand, den die Kirche über den Nationalen Elternverband, ihre Hierarchie sowie die Partei der Nationalen Aktion (Partido de Acción Nacional, PAN) mobilisierte, nützte nichts.
Die Sozialenzyklika Papst Paul VI. Populorum Progressio von 1967 und die Zweite Allgemeine Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Medellín 1968 mit ihren befreiungstheologischen Ansätzen brachten die Katholische Kirche auch in Mexiko in die Schlagzeilen – in der ungewohnten Rolle eines gesellschaftspolitischen Vorreiters. So konnte der progressive Teil der mexikanischen Kirche gegen das Massaker an Demonstranten von 1968 protestieren und eine Beendigung des Ausnahmezustands fordern.
Als Präsident Manuel Avila Camacho sich Anfang der vierziger Jahre öffentlich als "gläubig" bekannte, war das noch eine Sensation. Ende der siebziger Jahre regte sich niemand mehr darüber auf, dass die Familie von Präsident López Portillo aus praktizierenden Katholiken bestehen soll. Seit 1958 wird in den Gotteshäusern sogar für den jeweiligen Staatschef gebetet. Der progressive Teil des Klerus schließt seinerseits gegenüber staatlichen Feldzügen zur Geburtenkontrolle die Augen (jedenfalls in den siebziger Jahren). Manche Priester arbeiten offen mit staatlichen Organen zusammen.
Kirchenvertreter meinten schon 1978, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Vatikan eigentlich nur die bestehende Situation legalisieren würde. Immerhin gab es schon eine "Katholische Delegation" mit eigenem Amtssitz in Mexiko unter Monsignore Girolamo Prigione. Außerdem beteiligte sich die Staatskasse an den Kosten des Papstbesuches, und der Slogan auf Spruchbändern zu diesem Anlass deutete auf die Gemeinsamkeit von Staat und Kirche: "Viva México, viva el Papa!"
Nach diesem Papstbesuch traute sich der Klerus eher, zu soziopolitischen Fragen Stellung zu nehmen. Und seit der Dritten allgemeinen Konferenz des Lateinamerikanischen Episkopats in Puebla im Jahre 1978, die der Anlass für den Papstbesuch gewesen war, hat der politische Einfluss der Katholischen Kirche in Mexiko ungemein zugenommen. Das zeigt sich zum Beispiel an der umfangreichen kirchlichen Publizistik zu soziopolitischen Fragen sowie am hohen Anteil der Schüler im kirchlichen Schulwesen, das es nach der Verfassung eigentlich gar nicht geben dürfte. Die Kirche zeigt sich geschlossen bei der Verteidigung der Rechte, die sie beansprucht, und versucht zugleich, ihre Missionsarbeit zu ergänzen und durch systematisches Anprangern von Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Autoritarismus und Unterdrückung auf das politische Gebiet vorzudringen.
Durch die engere Verbindung mit den anderen Kirchen in Lateinamerika, zumal über den Lateinamerikanischen Bischofsrat, hat die mexikanische Kirche Rückhalt gewonnen. Die Verbindungen der Hierarchie zu Regierungsvertretern haben sich verbessert. Im Staatsapparat hat die katholische Kirche inzwischen verlässliche Stützen. Nach den traumatischen Erfahrungen mit der sozialistischen Erziehung in den dreißiger Jahren hat der zielstrebige Ausbau der kirchlichen Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis zur Universität den Einfluss der Kirche erheblich erhöht. Während der konservative Teil der Kirchenhierarchie den Staat mit seinen Forderungen nach einer Verfassungsänderung unter Druck setzt, übt der progressive Teil durch seine Verbindung mit linken Kräften ebenfalls Druck auf das politische System aus, sodass der Staatsapparat Mühe hat, das politische Monopol zu behaupten. Und während der traditionalistische Teil der Kirche sich persönlicher Verbindungen zu Regierungsvertretern bedient, hat der progressive Teil Ansehen und Einfluss bei den Intellektuellen, den Medien, den Parteiführern und der höheren Beamtenschaft gewonnen.
Dennoch blieb das Verhältnis von Staat und Kirche auch in den achtziger Jahren umstritten. Die Diskussion über die Revision der Verfassung sorgte weiterhin für Schlagzeilen. Die Rechtsparteien PAN und die Vereinigte Sozialistische Partei Mexikos (Partido Socialista Unificado de México, PSUM) sprachen sich für eine Verfassungsänderung aus, während Vertreter der PRI nicht selten über die unaufhörliche Missachtung der Verfassung durch Vertreter der Kirche klagten. In der Presse wurde der katholischen Kirche zuweilen vorgeworfen, sie sei eine undemokratische, autoritäre Institution; die Bischöfe unterstützten mehrheitlich rechtsgerichtete politische Kräfte und versuchten im Sinne von Papst Johannes Paul II., die progressiven Priester am Eintreten für die Armen zu hindern, oder duldeten es bestenfalls stillschweigend. Angesichts dieser Situation den Priestern staatsbürgerliche Rechte zuzuerkennen, hieße nichts anderes, als die tonangebenden konservativen Strömungen der Kirchenhierarchie zu unterstützen, so die Kritik weiter. Priester seien fest in diese Hierarchie eingebunden und könnten deshalb nicht wie andere Fachleute, etwa Ärzte oder Ingenieure, behandelt werden.
Zu Streit führte auch die Frage, ob die Abtreibung legalisiert werden sollte. Die Kommunistische Partei hatte Ende Februar 1980 im Abgeordnetenhaus einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Abtreibung eingebracht; die rechtsgerichtete PAN legte einen anderen Gesetzesentwurf zum Schutz des Lebens von der Zeugung bis zum Tode vor. Die lebhafte Diskussion darüber überschritt schnell die Grenzen des Parlaments. Die PAN erschien als Pressionsgruppe der kirchlichen Hierarchie. Der Bischof von Queretaro und der Informationsdirektor des Erzbistums Mexiko sprachen dem Staat das Recht ab, die Abtreibung zu legalisieren; die Bischofskonferenz äußerte sich zurückhaltender, wies aber darauf hin, dass die Kirche ihre diesbezügliche Lehre niemals ändern werde. Die PRI ließ dann auch verlauten, man werde die Abtreibung nicht legalisieren, weil dies in höchstem Maße die Gesellschaft berühre. Eine Niederlage der Kirche in dieser Frage hätte ihren gesellschaftlichen Einfluss erheblich geschmälert.
Im Juli 1986 hat Adalberto Almeida y Merino, Erzbischof von Chihuahua, in einem Hirtenbrief angekündigt, dass die 62 Kirchen seines Erzbistums an einem Sonntag geschlossen bleiben würden, weil die Wahlen in jenem Bundesstaat am 6. Juli derartig gefälscht worden seien, dass sie eine "gesellschaftliche Sünde" darstellten. Das Innenministerium wollte nur kleinere Unregelmäßigkeiten bemerkt haben. Diese seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges der Cristiada im Jahre 1926 massivste politische Einmischung der Kirche wurde auf Weisung des Papstes verhindert, ähnlich wie auf Druck Roms 1929 der Bürgerkrieg beendet worden war. Bemerkenswerterweise stellte sich freilich der Sprecher der Bischofskonferenz voll hinter den von Rom gemaßregelten Erzbischof, ohne dass daraus auf eine Einhelligkeit unter den Bischöfen geschlossen werden dürfte.
Der seit Dezember 1988 amtierende Präsident Carlos Salinas de Gotari war das erste mexikanische Staatsoberhaupt seit der Revolution, das gestattete, dass Bischöfe an seiner offiziellen Regierungsübernahme teilnahmen. Damit kam er dem Bestreben der Kirche entgegen, sich als staatstragend zu zeigen. Aber schon Präsident Echeverría Alvarez (1970-1976) hatte einen "Vertreter" beim Vatikan ernannt und damit die Vorstufe zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen erreicht. Der Papstbesuch in Mexiko war dann im Jahr 1990, nach dem Ende des Kalten Krieges, weniger umstritten als der erste. Trotzdem hat die Linke, die sich um die Partido de la Revolución Democrática (PRD) unter Cauhtémoc Cárdenas gruppiert, die strikte Anwendung der Verfassung gefordert. Und der Verband der Freimaurer verlangte sogar die Ausweisung des päpstlichen Delegierten.
1979 hatte Präsident López Portillo den Papst auf dem Flugplatz nur als Privatmann mit "guten Tag, mein Herr" begrüßt. Carlos Salinas, der öffentlich erklärt hat, dass er die Anerkennung der katholischen Kirche als juristische Person anstrebe, empfing 1990 den Papst an seinem Amtssitz. Um seine Vorlage zur Privatisierung des Bankwesens durchzusetzen, bedurfte Salinas damals der Unterstützung der PAN. Daher war eine Annäherung an die Kirche eine politische Notwendigkeit.
Wiederholt kritisierte der Papst auf seiner Reise die Verhältnisse in Mexiko. So wandte er sich im Wallfahrtsort San Juan de los Lagos vor 2,5 Millionen Jugendlichen gegen "Hunger, Unterernährung, soziale Ungerechtigkeit, politische und wirtschaftliche Korruption, unzulängliche Löhne, Konzentration des Reichtums in wenigen Händen, Inflation und Wirtschaftskrisen". Die Theologie der Befreiung lehnte der Papst aber ausdrücklich ab, weil sie weiterhin Modelle als lebensfähig vorstelle, die in anderen Teilen der Welt gescheitert seien, und weil sie glaubens- und kirchenspaltend wirke. Damit dürfte er den progressiven Teil der Kirche in Mexiko geschwächt haben.
Es sollte noch anderthalb Jahre dauern, bis Präsident Salinas in seinem Jahresbericht an die Nation im November 1991 ankündigte, die Verfassung von 1917 werde zu Gunsten der katholischen Kirche geändert. Noch kurz vor Weihnachten nahm das mexikanische Abgeordnetenhaus mit 90 Prozent der Stimmen einen Gesetzentwurf der PRI an, der die Kirche als juristische Person mit dem Recht auf Eigentum anerkennt. Ausgenommen davon sind Gebäude, die als nationales Kulturerbe deklariert sind, und Kirchen aus der Kolonialzeit. Kirchliche Orden dürfen nun amtlich Schulen betreiben, während die öffentlichen Schulen weltanschaulich neutral bleiben. An Privatschulen darf nun offiziell Religionsunterricht erteilt werden. Priester haben das aktive Wahlrecht und dürfen ihren Talar in der Öffentlichkeit tragen. Eine Einmischung der Katholischen Kirche in die Politik, zum Beispiel durch das passive Wahlrecht von Priestern, bleibt untersagt.
Im Zeichen seiner Politik des "sozialen Liberalismus" nahm Präsident Salinas 1992 auch diplomatische Beziehungen zum Vatikan auf. Der nun zum Nuntius avancierte Girolamo Prigione kommentierte das überschwänglich. Da das Verbot, kirchliche Zeitungen zu veröffentlichen, bestehen geblieben ist, nutzen einige Bischöfe immer offener die säkulare Presse zu kritischen Feststellungen auf sozioökonomischem Gebiet.
Der dritte Papstbesuch in Mexiko im August 1993 wurde überschattet von der Ermordung von Kardinal Juan Posadas, dem Erzbischof von Guadalajara, bei einer Schießerei auf dem dortigen Flughafen. Das offizielle Untersuchungsergebnis lautet, die Mörder hätten den Kardinal mit dem Chef eines der wichtigsten Drogenkartelle "verwechselt". Manche Bischöfe und Politiker bezweifeln das. Sie sehen in dem Anschlag wenige Monate nach Wiederaufnahme der Beziehungen zu Rom eine Reaktion der "Dinosaurier" in der PRI auf den Versöhnungskurs des Präsidenten, der vom modernistischen Teil der Partei unterstützt werde.
Der Papst hat 1993 einen Abstecher nach Yucatán gemacht, um öffentlich Front zu machen gegen die schnelle Ausdehnung nichtkatholischer Kirchen – namentlich von Adventisten, Baptisten, Presbyterianern oder Sekten wie den Mormonen oder der Universalen Kirche des Reiches Gottes, die mit modernen Techniken um die Seelen der Mexikaner kämpfen. Schon 1979 vertraten manche die These: Nachdem der Protestantismus sich besonders im Norden Mexikos in den an die USA grenzenden Gebieten stark ausgebreitet habe, sei nicht auszuschließen, dass den Gralshütern der Revolution der Katholizismus, den sie stets als Element der Reaktion und des Obskurantismus abgetan haben, eines Tages als ein wichtiger Faktor der nationalen Identität erscheinen werde, mit dessen Hilfe der Einfluss der USA begrenzt werden könne.
Das Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat war seit dem Vorstoß der Aufstandsbewegung der Zapatisten am 1. Januar 1994 in Chiapas vom Konflikt dort beeinflusst. Darin hat von Seiten der Kirche Bischof Samuel Ruiz eine wichtige Rolle gespielt; er trat als Vermittler auf und sollte damit ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik geraten.
Ruiz hatte seit der Übernahme des Bistums 1960 die Indianer organisiert. Er fand damals ein Bistum mit einer quasi noch feudal organisierten Gesellschaft vor, in der die Großgrundbesitzer über den größten Teil des Bodens verfügten und die lokale Verwaltung und die Sicherheitskräfte kontrollierten. Die wenig organisierte indigene Bevölkerung war der Willkür der Großgrundbesitzer hilflos ausgeliefert. Deshalb entschloss sich Ruiz, eine autochthone Kirche mit indianischen Katecheten und Priestern aufzubauen.
Wie Bartolomeo de Las Casas im 16. Jahrhundert wegen seiner Parteinahme für die Indianer aus seinem Bistum hinausgeekelt worden war, so regten sich die Coletos, wie sich die Einwohner von San Cristobal nennen, nun über den bedingungslosen Einsatz ihres Bischofs für die Indianer auf. Die Mestizen - Großgrundbesitzer, Hoteliers, Geschäftsleute, Kleinunternehmer, Händler - fühlten sich von Ruiz verlassen, vermissten Seelsorge und geistlichen Zuspruch. Ruiz drückte dem Papst bei seinem zweiten Besuch 1990 seinen Hirtenbrief in die Hand, in dem er unter anderem geschrieben hatte: "Wir können wählen zwischen Leben und Tod, zwischen Gott und den Götzen der Macht und des Geldes, zwischen Freiheit und Unterdrückung. Wir können das Reich Gottes errichten oder das Reich des Todes."
Während Ruiz 1993 die ersten Morddrohungen erhielt, betrieb der Nuntius des Vatikan, Prigione, die Absetzung des "roten Bischofs". Der Bürgermeister von San Cristobal, Mario Lescieur, bemerkte: "Ruiz missbraucht die moralische Kraft der Kirche." Die Coletos gründeten weiße Garden - Privatmilizen zum Schutz gegen die Zapatisten - und schickten den Priester Luis Mijangos nach Rom, der dem Privatsekretär des Papstes mit Hilfe einer Unterschriftensammlung und angeblich belastender Dokumente gegen Ruiz die Absetzung des Bischofs nahe legte. Aus dessen Ideologie würden gewalttätige Bewegungen geboren, deren Mitglieder den rechtmäßigen Landbesitzern ihr Land raubten.
Am 19. Februar 1995 versuchte eine mit Steinen und Stöcken bewaffnete Menschenmenge den Amtssitz des Bischofs zu stürmen, während die Polizei eine Stunde mit ihrem Eingreifen wartete. In einem Papier des militärischen Geheimdienstes wurden 134 Geistliche und Laienseelsorger der Zusammenarbeit mit der Zapatisten-Bewegung bezichtigt, unter ihnen Bischof Ruiz und zwei weitere Bischöfe. Die Kirche und das Dominikanerkloster von San Jacinto in Ocosingo wurden vom Militär stundenlang erfolglos nach Waffen und Funkgeräten durchsucht. Der Jesuitenorden, welcher im Konfliktgebiet stark vertreten ist, meldete ebenfalls eine zunehmende Welle von Feindseligkeiten gegen seine Mitglieder. Schließlich wurde in der Hauptstadt Pater Nacho, ein für seine Unterstützung von sozialen Randgruppen bekannter Priester, vorübergehend festgenommen und beschuldigt, Waffen und Propaganda der Zapatistenbewegung EZLN zu besitzen.
Obgleich der Nuntius Wühlarbeit gegen Ruiz betrieb, die Bischofskonferenz sich wegen seiner befreiungstheologischen Neigungen nicht einhellig hinter ihn stellen wollte und der Vatikan ihn offenbar mehrfach ermahnt hat, nicht von der offiziellen Soziallehre der Kirche abzuweichen und politische Einmischung zu unterlassen, hat Rom den Bischof bis zu seinem 75. Geburtstag 1999 im Amt belassen. Der mexikanischen Regierung blieb er ein Dorn im Auge, hatte er doch schon 1991 Präsident Salinas vorgeworfen, die Reform des Gesetzes über den kommunalen Landbesitz (ejido) solle den Großgrundbesitzern nur erleichtern, solches Land an sich zu reißen. Gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada (NAFTA) wetterte Ruiz, weil es der indianischen Bevölkerung keine Vorteile bringe. Präsident Salinas hat zwar 1992 verfassungsmäßig klargestellt, dass Mexiko ein multiethnisches Land ist, aber zugleich Artikel 27 der Verfassung von 1917 dahingehend geändert, dass der Schutz kommunalen Landes (ejidos) vor Veräußerung aufgehoben worden ist. Im Zusammenhang mit der Privatisierung von Kommunalland erklärte der Präsident die Agrarreform, jenes alte Ziel der mexikanischen Revolution, für beendet.
Der Papst hat erwartungsgemäß den Rücktritt von Samuel Ruiz anlässlich von dessen 75. Geburtstag angenommen. Die Nachfolge übernahm zunächst sein Weihbischof und Koadjutor Raúl Vera López, der Ruiz 1995 auf Drängen des Nuntius quasi als Aufpasser an die Seite gestellt worden war. Vera hat indes angesichts der Zustände, die er in Chiapas erlebte, eine schnelle Wandlung durchgemacht und ist ebenfalls zum Vorkämpfer der Rechte der Indianer geworden. Deshalb hat die mexikanische Regierung offenbar dem Nuntius ihre Unzufriedenheit mit der Nachfolge zu verstehen gegeben. Jedenfalls kündigte der Vatikan zur allgemeinen Überraschung schon Ende Dezember 1999 an, er werde Vera in das Bistum Saltillo im Norden Mexikos versetzen; im April 2000 wurde Felipe Arizmendi Eszquivel als neuer Bischof von San Cristobal benannt. Er war zuvor Bischof von Tapachula an der Küste von Chiapas und gilt als gemäßigt.
Die mexikanische Regierung rühmt sich zwar, im Chiapas-Konflikt nicht bloß auf das Militär gesetzt und ganz brutale Repression vermieden zu haben, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie dem Wunsch der Indianer nach Autonomie mit Verständnis begegnet. Die Regierung hat 1997 das Ergebnis des dreijährigen Dialogprozesses mit den Zapatisten, das sich im Abkommen von San Andrés niedergeschlagen hatte, wieder zur Disposition gestellt. Sie behauptete nämlich, dass die Anerkennung von Autonomie für indigene Völker "zur Balkanisierung und Kleinstaaterei" führen werde.
Mit dem Rücktritt von Bischof Ruiz hat sich die Lage in Chiapas keineswegs entspannt. Im Februar 2000 hat eine paramilitärische Gruppe, die sich "Friede und Gerechtigkeit" nennt, die Jol-Ako-Kirche in Tila im Norden von Chiapas besetzt und mit Billigung örtlicher Funktionäre die Bewohner des Ortes gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, das die Schließung der Kirche befürwortet. Damit sind im Bistum Chiapas bereits 33 Kirchen gewaltsam geschlossen worden. Die Behörden dulden diese Verletzung der Verfassung – wohl um der Kirche zu zeigen, dass sie deren Einmischung in politische Fragen, die ebenfalls als verfassungswidrig beurteilt wird, mit ähnlichen Mitteln beantworten können. Man kann gespannt sein, ob Präsident Zedillo den Chiapas-Konflikt, der seine Amtszeit überschattet hat, in den letzten Monaten noch einer friedlichen Lösung zuführen wird.
aus: der überblick 02/2000, Seite 52
AUTOR(EN):
Dr. Hans-Jürgen Prien:
Dr. Hans-Jürgen Prien ist Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln.
Er hat u. a. das Standardwerk "Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika", Göttingen 1978, verfasst.