Nachbarn gegen Nachbarn
Etwa 800.000 Menschen sind 1994 in Ruanda ermordet worden. Die Täter werden auf verschiedene Weise angeklagt: die Hauptverantwortlichen vor dem UN-Tribunal in Arusha, schwere Fälle vor den ordentlichen Gerichten in Ruanda und minder gravierende vor speziell dafür eingerichteten Dorfgerichten.
von Ellen Prowe
Sie kommen, um über die Mörder ihrer Nachbarn zu richten. Frauen in bunten Röcken mit Kindern auf dem Rücken nehmen auf den Holzbänken Platz. Ein paar Jugendliche stehen lässig an der Seite. Zwei alte Herren mit weißem Haar sichern sich die Plätze in der ersten Reihe. Wie jeden Samstag ist Gacaca in Kamutwa, einem Stadtteil von Kigali, der Hauptstadt von Ruanda.
Gacacas waren ursprünglich Gerichte, in denen die Dorfältesten Streitigkeiten schlichteten (vergl. "der überblick" 1/1996). Die ruandische Regierung versucht nun, diese traditionellen Foren für Verfahren gegen Menschen zu nutzen, die sich 1994 am Völkermord beteiligt haben sollen. Vor über einem Jahr sind die ersten Gacacas zu diesem Zweck eingerichtet worden. Mittlerweile sind es 760 Dorftribunale, 10.000 sollen es einmal werden. 1994 waren in nur hundert Tagen schätzungsweise 800.000 Tutsi und missliebige Hutu auf grausame Weise umgebracht worden. Heute sind die Gefängnisse überfüllt mit über 100.000 des Mordes Verdächtigen, die zum Teil seit acht Jahren auf ihren Prozess warten. Die 13 ordentlichen Gerichte Ruandas haben seit 1996 nur rund 6000 Menschen verurteilt. Sie würden also noch 120 Jahre brauchen, um gegen jeden Gefangenen ein Verfahren zu eröffnen.
Für die Haupttäter des Völkermordes haben die Vereinten Nationen (UN) 1994 einen Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Tribunal for Rwanda, ICTR) in Arusha, im Norden Tansanias, eingerichtet. Noch bis 2008 werden dort Verantwortliche des Genozids angeklagt: Minister, Bürgermeister, hohe Militärs, religiöse Führer und Medienleute. Bisher hat man 8 Personen wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, einer wurde freigesprochen. 22 Verdächtige stehen derweil vor Gericht, 29 warten auf ihren Prozess.
Einer von ihnen ist Eliézer Niyitegeka. Er war 1994 Informationsminister in der ruandischen Regierung. Am 15. Mai 2003 steht er in Arusha vor Gericht. Im zweiten Stock, im Gerichtssaal Nummer 1, sitzen der Angeklagte neben seinen Verteidigern, ihm gegenüber die Ankläger der Vereinten Nationen und die drei Richter der ersten Kammer in der Mitte. Dazwischen Übersetzer, Protokollanten und hinter Glas das Publikum, meist Mitarbeiter des Tribunals, ein paar Journalisten. Die Richterin Navanethem Pillay aus Südafrika (vergl. "der überblick" 1/1996) eröffnet die Sitzung. Heute ist für Eliézer Niyitegeka die Verhandlung zu Ende. Richterin Pillay fasst noch einmal die Anklage zusammen: Beschuldigt des Genozids, durch Verschwörung, Komplizenschaft und direkte und öffentliche Aufhetzung des Volkes, sowie der Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Mord, Folter, Vergewaltigung und "weitere unmenschliche Taten". Der Angeklagte sitzt mit unbeteiligter Mine zwischen seinen Verteidigern. Er hatte auf nicht schuldig plädiert. An der Decke bewegen sich lautlos Kameras und übertragen die Bilder in die zahlreichen Büros des Tribunals.
Eliézer Niyitegeka wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Strafe wird er in einem anderen Land absitzen: Die vom ICTR Verurteilten werden in Gefängnissen in Mali, Swasiland oder Frankreich untergebracht. Hätte er in Ruanda vor Gericht gestanden, hätte er für die gleichen Verbrechen zum Tode verurteilt werden können. Das unterschiedliche Strafmaß stößt in Ruanda auf Unverständnis: "Sie sind fett und wohl genährt, ihnen geht es besser als uns", kritisiert ein Mann im ruandischen Kamutwa. Die Menschen in Ruanda können nicht verstehen, dass bei ihnen manche "kleine" Mörder hingerichtet werden, während die dicken Fische vor dem Tribunal in Tansania am Leben bleiben.
Die Rechtsprechung zu Ruanda findet auf zwei Ebenen statt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite das ICTR mit über 800 hoch qualifizierten Mitarbeitern aus 80 Nationen. Das Prozedere ist bis ins kleinste Detail fest gelegt und genügt internationalen Rechtsansprüchen. Hinter jedem noch so kleinen Schritt in Richtung einer Verurteilung steht ein enormer organisatorischer und finanzieller Aufwand: Das Budget des UN-Tribunals beträgt 177.739.400 US-Dollar (2002/2003) - für ruandische Verhältnisse ein enormer Betrag.
Auf der anderen Seite die Dorfgerichte wie das auf dem kleinen Sandplatz vor dem Gemeindehaus in Kamutwa. Langsam füllt sich der Ort. Alte Planen über einem einfachen Holzgestell bieten Schutz vor der Sonne - Recycling aus den ehemaligen Flüchtlingslagern des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Zwei der Richter tragen einen Tisch nach vorne und nehmen schon mal dahinter Platz. Vor sich stellen sie ein kleines rotes Megaphon und eine Holzkiste mit Papieren als Insignien ihres Amtes. Aber es muss noch gewartet werden. Erst wenn 15 von 19 Richtern anwesend sind und mindestens 60 Leute im Publikum, ist die Gacaca-Verhandlung rechtsgültig.
Die Gacaca-Richter sind als inyangamugayos, integre Personen, von den Dorfgemeinschaften gewählt worden. 260.000 gibt es im ganzen Land, fast die Hälfte sind Frauen. Alle Richter sind Laien, sie haben nur sechs Tage Training hinter sich, einige können weder lesen noch schreiben. Sie machen ihre Aufgabe ehrenamtlich und bekommen keine Aufwandsentschädigung. Anklage und Verteidigung werden vom Publikum aus dem Dorf übernommen. Der genaue Ablauf ist vielen nicht klar, auch manchen Richtern nicht.
Jetzt sind die Richter von Kamutwa vollzählig, der Platz ist mit Menschen gefüllt. Die Verhandlung kann beginnen. Die Präsidentin, eine große Frau Mitte vierzig in einem langen grünen Kleid mit goldenen Stickereien, erhebt sich. Sie begrüßt das Plenum und die Richter, mahnt zur Pünktlichkeit und ruft zur Schweigeminute auf. Am Anfang jeder Sitzung wird den Opfern des Genozids gedacht. Dann erklärt sie noch einmal die Regeln: Wer etwas zu sagen hat, soll sich melden, wer angeklagt ist, muss nach vorne kommen und ins Megaphon sprechen. Jeder soll die Wahrheit sagen.
Aus der Liste der Opfer wird ein erster Name vorgelesen: Familie Semanyenzi. Mutter, Vater, ihre drei Kinder und zwei Hausangestellte sind im Mai 1994 hier in Kamutwa getötet worden. Jemand zeigt in Richtung des Hauses, wo die Familie Semanyenzi einmal gewohnt hat. Die Richterin fragt nach Nachbarn, jemandem, der etwas gesehen oder gehört hat. Ein älterer Mann mit einer grauen Stoffhose und einem ausgebleichten Hemd erhebt sich. Auf seiner Stirn treten Adern hervor. Mit ernstem fast ehrfürchtigem Ausdruck, beginnt er zu sprechen. Er sei einer der ehemaligen Nachbarn und habe gesehen, wie eine Gruppe von Hutu-Milizionären zum Haus der Familie gefahren sei. Sie hätten alle getötet und alles geplündert. Die meisten der Männer seien tot oder schon im Gefängnis, aber zwei wohnten noch im Viertel, und einer sei sogar hier.
Das Dorfgericht in Kamutwa ist wie alle Gacacas in Ruanda noch in der Vorbereitungsphase. Bevor die eigentlichen Verhandlungen mit Anklage und Verteidigung durch die Dorfgemeinschaft beginnen, müssen in jedem Bezirk Listen erstellt werden, Listen von den Opfern, den potenziellen Tätern und denjenigen, die den Ort verlassen haben. Alle Verdächtigen auf den Listen werden von den Gacaca-Richtern nach dem Schweregrad ihrer Verbrechen in vier Kategorien eingeteilt: Plünderung ist der vierten und untersten Kategorie zugeteilt, Körperverletzungen und Totschlag gehören in die dritte und "einfacher" Mord in die zweite Kategorie. Die Täter dieser drei Kategorien sollen von Gacacas auf drei Verwaltungsebenen verurteilt werden. Das Land ist in Zellen, Sektoren und Kommunen unterteilt worden. Die Zellen sind für die Plünderer zuständig, die Kommunen für die Mörder. Die Richter wählen aus ihren Reihen die Richter für die nächst höhere Ebene. Das jeweils höhere Gacaca ist später auch Berufungsgericht. Die erste Kategorie, Anstiftung zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wird vor den ordentlichen Gerichten Ruandas oder vor dem UN-Tribunal in Arusha verhandelt.
Die Verfahrensordnung für die Gacacas besagt, dass die Richter einstimmig ein Urteil fällen und die Strafe festsetzen müssen. Plünderer erwartet gemeinnützige Arbeit, "einfache" Mörder können mit lebenslanger Haft bestraft werden. Wer gesteht, bekommt Strafmilderung, die Hälfte der Haftzeit kann durch Gemeindedienste abgeleistet werden. Aber die eigentlichen Verhandlungen und Urteilsfindungen beginnen wohl frühestens 2004.
Auf dem Dorfplatz von Kamutwa geht ein junger Mann nach vorne. Er trägt schwarze Jeans, Turnschuhe, das Fußballshirt in die Hose gesteckt, eine dicke Silberkette um den Hals. Sein Name wird auf die Liste gesetzt. Geburtsjahr 1973 - während des Genozids war er 21. Er nimmt das Megaphon, spricht schnell und nervös. Er sei an einer der Straßensperren gewesen und sein Bruder hätte ihn gerufen, um einen Stuhl zu transportieren. Deswegen sei er zum Haus der Semanyenzis gefahren, aber die Familie sei schon tot gewesen. Mörder und Leichen habe er nicht gesehen.
Ein alter Herr steht auf und wettert verbittert: Der Junge solle die Wahrheit sagen, die Leichen hätten zwei Tage dort gelegen, bis sie gestunken haben, er müsse sie gesehen haben. Eine Richterin sagt: "Ich sehe du bist jung. Wenn du nachts manchmal nicht schlafen kannst, weil dich etwas drückt - jetzt hast du die Möglichkeit zu reden, dein Gewissen zu erleichtern." Aber der junge Mann im Fußballtrikot redet nicht. Es werden mehr Namen von Nachbarn gesammelt und von Personen, die beim Haus gesehen wurden. Sie sollen zur nächsten Sitzung eingeladen werden. Auch die Gefangenen kommen bald, mahnt die Präsidentin, die wüssten viel und hätten schließlich nichts mehr zu verlieren. Die einzige Möglichkeit, die Menschen zum Reden zu bringen, ist, sozialen Druck aufzubauen. Wenn herauskommt, dass jemand gelogen hat, macht er sich verdächtig.
Es bestehen Zweifel, ob die Gacacas die Wahrheit herausfinden können. In den Dörfern sind die Gemeinschaftsbande stark. Richter und Zeugen sind miteinander verwandt oder befreundet. Die Überlebenden sind in der Minderheit, oft richten Hutu über Hutu. Manchenorts schützen Dorfbewohner sich gegenseitig, und Verbrechen werden verharmlost. Es werden Tote und Gefangene denunziert, die nichts mehr zu befürchten haben. Die Aussagen können längst nicht immer überprüft werden, es gibt keine stichhaltigen Beweise. Zudem sind viele der Mörder aus ihren Heimatdörfern geflohen. In einem anderen Dorf oder Stadtteil sind sie unbekannt und können kaum belangt werden.
Nur wenige werden wegen Vergewaltigung angeklagt, obwohl 1994 Massenvergewaltigungen an der Tagesordnung waren. Die Opfer sind tot oder schweigen aus Angst vor Stigmatisierung. Vergewaltigung ist auf Druck von Frauen- und Menschenrechtsgruppen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit in die erste Kategorie aufgenommen worden, zusammen mit Anstiftung zum Genozid und Mord mit besonderer Grausamkeit.
Anfang dieses Jahres wurden auf Anordnung von Präsident Kagame etwa 20.000 Geständige bis zu ihrem Prozess aus den Gefängnissen entlassen. Die meisten von ihnen haben bereits acht Jahre hinter Gittern gesessen. Womöglich länger als ihre eigentliche Strafe betragen wird. Trotzdem meinen Überlebende und Opfer, dass dies einer Amnestie gleich komme, dass nun nicht nur in Arusha, sondern auch in Ruanda Täter zu milde davonkommen.
Auch für die Gacacas ergeben sich dadurch Probleme. Zeugen und Ankläger fühlen sich durch freigelassene Mörder bedroht oder verhöhnt. "Ich kann nicht zum Gacaca gehen", sagt Marcellin, ein junger Tutsi, der drei Geschwister beim Genozid verloren hat und selbst den Mördern nur knapp entkommen ist. "Ich weiß, wer meine Geschwister umgebracht hat, und ich weiß, dass sie mittlerweile frei herum laufen. Ich habe Angst, dass ich ihnen beim Gacaca begegne und sie mir frei ins Gesicht grinsen. Dann würde ich die Beherrschung verlieren."
In Kamutwa wird der Fall der Familie Semanyenzi vorläufig beiseite gelegt. Namen von weiteren Opfern werden vorgelesen. Ein Baby quengelt und wird von der jungen Mutter gestillt. Ein Handy klingelt. Die Sitzung dauert nun schon über eineinhalb Stunden. Eine Frau wirft ihrer Banknachbarin vor, sie sei an einem Mord beteiligt gewesen. Die Beschuldigte bedenkt sie mit einem giftigen Blick, müht sich durch die Reihen nach vorne und schreit aufgebracht ins Megaphon: Sie habe als gute Nachbarin nur nachsehen wollen, was passiert sei, nachdem sie die Schüsse gehört habe. Als sie das Megaphon weglegen will, geht die Sirene an. Das sei ein Lügendetektor, vermutet ein Alter aus dem Publikum und erntet Gelächter.
Nach mehr als drei Stunden geht in Kamutwa die Sitzung zu Ende. Die Menschen zerstreuen sich, die Richter räumen Tisch und Bänke zurück ins Gemeindehaus. Die Präsidentin ist zufrieden: Es sei eine gute Sitzung gewesen. Sie hätten viele neue Namen bekommen und von der Gemeinschaft werde mehr und mehr Druck ausgeübt. Sie ist überzeugt: "Am Ende werden wir die Wahrheit herausbekommen".
Die meisten Menschen in Ruanda beurteilen die Gacacas trotz aller Probleme positiv. Dennoch kommen immer weniger, einige warten auf den Beginn der richtigen Verfahren, andere haben Angst, bei den Sitzungen angeklagt zu werden, viele arbeiten sieben Tage in der Woche und können es sich schlicht nicht leisten, jede Woche einen halben Tag beim Gacaca zu verbringen. Auf dem Land sind die Gemeinschaften enger und mehr Leute werden einbezogen. In der Stadt haben die Menschen weniger Interesse und gehen lieber ihren Geschäften nach. Dennoch glaubt die Mehrheit der Bevölkerung, dass die Gacacas einen wichtigen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung leisten können. Die Effektivität und Akzeptanz steht und fällt indes mit den Richtern und ist von Gacaca zu Gacaca sehr unterschiedlich.
Menschenrechtsgruppen wie amnesty international oder African Rights kritisieren, dass die Dorftribunale kein faires Verfahren gewährleisten. Vor allem bemängeln sie die fehlende Verteidigung, aber auch die Inkompetenz und möglich Parteilichkeit mancher Richter sowie den fehlenden Schutz für Ankläger und Zeugen. Die Gacacas ermöglichen ihrer Meinung nach zwar Versöhnung und Vergangenheitsbewältigung, aber Fehlurteile würden die Gefahr bergen, dass alte Wunden wieder aufbrechen und neuer Hass aufkeimt. Aber auch die Menschenrechtsvertreter geben zu, dass es keine echte Alternative gibt.
Ein Sekundarschüler fasst zusammen, was die meisten in Ruanda denken: Die Gacacas seien eigentlich ein gutes System, aber es gäbe zu viele Probleme im Land, da können sie nur wenig ausrichten. Und die UN sei auch keine Hilfe, sie sei ja auch 1994 da gewesen, hätte nur zugeschaut und nichts getan. Das UN-Tribunal gäbe es schon seit so langer Zeit, aber sie hätten erst so wenige verurteilt.
Die meisten Menschen in Ruanda sehen UN-Leute nur von weitem. In großen weißen Jeeps brausen sie durch die kleinen Dörfer. Die Ermittler der UN haben eine Zweigstelle des Tribunals in Ruandas Hauptstadt Kigali. Von dort aus suchen und vernehmen sie Zeugen für die verschiedenen Fälle. Oft werden Zeugen mehrmals vernommen, bis dann neun Jahre nach dem Genozid, einer der Ankläger aus Arusha auftaucht und noch einmal dieselben Fragen stellt. Die Zeugen können nicht verstehen, warum es wichtig ist, ob sie erst nach links oder erst nach rechts gelaufen sind. Uhrzeiten sind für sie ohne Belang. Die meisten haben keine Uhr. Außerdem waren sie häufig mit dem Überleben beschäftigt. Trotzdem muss der Ankläger diese Fragen stellen, denn die Verteidigung ist gnadenlos. Ihr Ziel ist es, Widersprüche aufzudecken, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern. Der Erfolgsdruck und die Verantwortung der Anklage sind enorm. Auch ein Völkermörder gilt als unschuldig, bis seine Schuld vor Gericht bewiesen ist.
Die Öffentlichkeitsarbeit des Tribunals ist armselig. Kaum jemand in Ruanda weiß, was in Arusha gerade verhandelt wird. Die Leute sind jedoch sicher, dass das ICTR langsam ist und teuer. Es ist zu weit von Ruanda und dem Alltagsleben der dortigen Bevölkerung entfernt. Unter den Intellektuellen ist die Meinung weit verbreitet, dass das Kriegsverbrechertribunal reiner Selbstzweck sei. Es sei nicht für Ruanda da, sondern für die Staatengemeinschaft. Diese versuche so ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil sie 1994 kläglich versagt habe.
Mitarbeiter des Tribunals entgegnen, dass von den 80 Anstiftern des Völkermords 65 in 21 verschiedenen Ländern festgenommen werden konnten. In Arusha würden vor allem die schwierigen Fälle verhandelt, insbesondere von Personen, die im Hintergrund Befehle gegeben, aber oft selber keine Machete zur Hand genommen hätten. Ihnen die Schuld nachzuweisen, sei oft schwierig, zumal Zeugen und Beweise durch UN-Ermittler gefunden werden müssten. Außerdem genügten die Verfahren vor dem ICTR den Ansprüchen des internationalen Rechts. Es werde nach dem common law geurteilt. Das bedeutet, die Zeugen der Anklage und die der Verteidigung müssen ins Kreuzverhör, werden also jeweils von beiden Seiten vernommen. Über 800 Zeugen wurden in den bereits beendeten und den laufenden Verfahren vernommen und durch ein aufwendiges Zeugenschutzprogramm geschützt. Dass allerdings die Kosten in keinem Verhältnis zu den Erfolgen stehen, können auch die Mitarbeiter des UN-Tribunals nicht entkräften.
Der Fall von Eliézer Niyitegeka war der kürzeste in der Geschichte des ICTR. Nur 31 Prozesstage und die Anhörung von 24 Zeugen war nötig. Schon nach einem Jahr verkündete die Vorsitzende Richterin das Urteil. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Eliézer Niyitegeka des Genozids und der Verschwörung zum Genozid schuldig ist. Er habe großen Einfluss gehabt und das Vertrauen der Bevölkerung missbraucht. Die Anklage habe zudem glaubhaft darlegen können, dass die Tatbestände Mord, Vergewaltigung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllt seien. In trockener Juristensprache zählt Navanethem Pillay auf: Kastrierung eines jungen Tutsi, Köpfen eines anderen. Sexuelle Verstümmelung einer toten Frau, indem der Angeklagte ihr ein angespitztes Stück Holz in die Genitalien rammte und sie dann als Mahnmal liegen ließ.
Ein Stöhnen geht durch den Zuschauerraum. Die Zuschauer schütteln mit gequältem Gesichtsausdruck die Köpfe. Der Mann hinter Glas zeigt keine Regung. Eliézer Niyitegeka wird zu lebenslanger Haft verurteilt. "Rein auf den Füßen, raus im Sarg", freut sich ein Vertreter der Anklage nach dem Urteil. Für das Tribunal war es ein guter Tag.
Das ICTR ist ein wichtiger Schritt in die Richtung der internationalen Durchsetzung von Menschenrechten. Vor dem Gericht in Arusha ist das erste Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen ein Staatsoberhaupt für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden. Es werden Präzedenzfälle geschaffen für den internationalen Strafgerichtshof, vor dem zukünftig Fälle wie Ruanda und Jugoslawien verhandelt werden sollen.
Doch auch zwei Flugstunden entfernt in Ruanda wird Recht gesprochen: Die Gacacas sind nah an den Menschen, immer mehr Leute werden einbezogen, als Ankläger, Zeugen und Angeklagte. So wird Stück für Stück herauskommen, was 1994 während der Monate des Völkermords geschehen ist. Nachbarn müssen einander auf dem Dorfplatz ins Gesicht sehen. Das ist für viele schwer, auch wenn das Reden helfen und eine Bestrafung entlasten kann.
aus: der überblick 03/2003, Seite 73
AUTOR(EN):
Ellen Prowe:
Ellen Prowe ist Ethnologin und arbeitet als freie Journalistin in Dar es Salaam (Tansania) und Hamburg.