Das moderne Algerien baut auf traditionelle Strukturen
Die Region, aus der Politiker stammen, und die Pflege der dortigen politischen Basis spielen in politischen Auseinandersetzungen in Algerien eine wichtige Rolle. Sie sind kennzeichnend für das Herrschaftssystem, das demokratische Spielregeln bewußt umgeht. Mit diesem System konnten die bisherigen Machthaber ihr politisches Überleben sichern, doch der Preis dafür war sehr hoch.
von Dr. Herta Müller
Algerien erlebte 1999 eine überwältigende Aufbruchsstimmung. Fast ein Jahrzehnt lang hatte die Bevölkerung unter innenpolitischen Auseinandersetzungen gelitten, die erbittert und oft äußerst gewaltsam ausgefochten worden waren. Nun aber, nach der Wahl des neuen Präsidenten im April 1999 - erstmals in der Geschichte des Landes ist es ein Zivilist -, begannen greifbare Veränderungen, die zu einer friedlichen Zukunft führen können. Abdelaziz Bouteflika, der sich zwar als unabhängiger Kandidat nominieren ließ, aber mit seiner früheren Karriere als Außenminister in der Boumedienne-Ära (1965-1978) ein Insider des politischen Systems ist, hatte bereits im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen seine Dialogbereitschaft gegenüber den Gruppierungen des islamistischen Untergrunds signalisiert.
Nach seiner Machtübernahme folgten erste demonstrative Gesten zur Entspannung der Situation. Am 5. Juli, dem Nationalfeiertag Algeriens, durften 2400 Islamisten, die, wie in offiziellen Verlautbarungen betont wurde, "kein Blut an den Händen" hatten, die Gefängnisse verlassen. Die Bevölkerung stimmte dem Gesetz zur nationalen Versöhnung, das eine Amnestie für Mitglieder islamischer Gruppen vorsah, im September in einem Referendum mit großer Mehrheit zu. Für den Präsidenten war das eine willkommene Gelegenheit zur nachträglichen Legitimation. Denn wie bei früheren Urnengängen in Algerien hatte das herrschende Regime auch diese Präsidentenwahl zugunsten Bouteflikas manipuliert, woraufhin die sechs Gegenkandidaten am Tag vor der Wahl ihre Kandidatur zurückzogen.
Als wichtigen Erfolg ihrer Politik betrachtet die algerische Regierung, daß sich bis Mitte Oktober rund 1100 Mitglieder bewaffneter Gruppen den örtlichen Behörden gestellt haben. Aber die inneren Konflikte des Landes sind allein mit solch populären Maßnahmen des Staatschefs noch nicht gelöst, zumal diese manche neuen Probleme hervorrufen. So haben sich aus der Haft entlassene Glaubenskämpfer in einigen stark bevölkerten Vierteln Algiers wieder die "informelle Macht" angemaßt, indem sie von neuem über eine religiös angemessene Kleiderordnung auf den Straßen wachen. Und in kabylischen Bergdörfern, in denen sich Selbstverteidigungsmilizen gegen die Islamisten gebildet hatten, befürchten manche Kämpfer nun, von der Regierung im Stich gelassen zu werden, und weigern sich, die Waffen niederzulegen. Die fortgesetzten Terrorakte geben Anlaß zu Spekulationen, daß sich darin subversiver Widerstand von Teilen der Armee gegen den Versöhnungskurs zeige. Im Lager der weltlichen Opposition wurden Vermutungen laut, daß mit demonstrativen Versöhnungsgesten von einer echten Aufarbeitung des Phänomens Fundamentalismus abgelenkt und mit der schrittweisen Eingliederung von Kräften aus dem moderaten religiösen Lager in das Herrschaftssystem die "schleichende" Islamisierung des Landes weiter vorangetrieben werden solle.
Die Perspektiven des Versöhnungsprozesses in Algerien werden maßgeblich davon bestimmt, inwieweit sich demokratische Strukturen bilden und gewaltlose Formen der Konfliktlösung eine Chance erhalten. In diesem Zusammenhang spielt ein ganzer Komplex von Faktoren eine Rolle, der insbesondere mit dem ökonomischen und politischen System des Landes in Verbindung steht. Luis Martinez weist zu Recht darauf hin, daß sich der algerische Staat vorwiegend auf die Erdöleinnahmen gründet und daß die Verteilung dieser Gelder maßgeblich die politische Kultur des Landes prägt. Martinez spricht in diesem Zusammenhang ausdrücklich vom Problem des Klientelismus, der Günstlingswirtschaft. Dieses Phänomen tritt in vielgestaltigen Formen auf. Eine seiner Facetten ist der in Algerien weit verbreitete Regionalismus. Klientelismus in Gestalt des Regionalismus ist in Algerien tatsächlich keine neue Erscheinung, sondern immer wieder zu unterschiedlichen Zeiten in mannigfaltigen Gestalten aufgetreten und stets eng mit den sozialökonomischen und politischen Entwicklungsprozessen des Landes verbunden gewesen.
Bei der Suche nach historischen Gründen für regionalistische Strömungen wird häufig auf das Assabiyya-Konzept von Ibn Khaldun zurückgegriffen. Dieser arabische Gelehrte hatte bereits im 14. Jahrhundert systematisch das Zusammengehörigkeitsgefühl nordafrikanischer Beduinenstämme beobachtet und die gemeinsame Abstammung (auf arabisch "Assabiyya") als wichtige Kraft in der Gesellschaft beschrieben, als eine Basis, die Macht und Überlegenheit verheißt.
Blickt man in die vorkoloniale Geschichte zurück, so zeigt sich der Maghreb als ein Gebiet geographisch äußerst verschiedener und wirtschaftlich relativ isolierter Landesteile. Landschaft und Klima boten völlig unterschiedliche Voraussetzungen für das Leben und die Arbeit der Menschen in der jeweiligen Natur. Der Entwicklungsstand von Produktion und Infrastruktur ließ zu der damaligen Zeit die Herausbildung eines alle Landesteile einschließenden Binnenmarktes gar nicht zu. So blieb die wirtschaftliche Ausstrahlung der lokalen Marktplätze begrenzt. Zwar gab es wichtige städtische Zentren wie Algier, Oran, Tlemcen und Constantine, doch diese waren häufig als Schnittpunkte des Fern- bzw. Karawanenhandels auf Absatzgebiete außerhalb des heutigen Algeriens ausgerichtet. Ganz verschiedenartige Wirtschaftsweisen, wie die der Nomaden in den Wüstengebieten der Sahara oder der seßhaften Ackerbauern in der fruchtbaren Ebene des Küstenstreifens, der Mitidja, führten zu unterschiedlich aufgebauten sozialen Gemeinschaften mit jeweils eigenständigen kulturellen Ausdrucksformen.
Unwegsame und schwer zugängliche Territorien bildeten zudem Rückzugsgebiete für ethnische oder religiöse Minderheiten. So ist bis heute ein Teil der Berber in den Gebirgsmassiven der Kabylei ansässig; die Sekte der Ibaditen fand im 10. Jahrhundert im Mzab einen Zufluchtsort. Ihre Gemeinschaften verfügten in diesen relativ abgeschlossenen Siedlungsgebieten nicht über ausreichende landwirtschaftliche Flächen zur Selbstversorgung. Deshalb mußten männliche Arbeitskräfte zeitweilig Erwerbsarbeit außerhalb ihrer Heimatorte suchen. Kabylen arbeiteten häufig als ambulante Händler und Landarbeiter oder verdingten sich beim Militär.
In der Zeit der türkischen Herrschaft von 1551 bis 1830 erlangte insbesondere der Stamm der Zaouâna wegen seiner Kriegskunst Berühmtheit. Aus ihm rekrutierte später auch die französische Kolonialarmee ein einheimisches Corps (Zuaven). Mozabiten hatten eine Monopolstellung als Pächter öffentlicher Bäder und städtischer Mühlen inne und waren insbesondere im Lebensmittelhandel anzutreffen. Der Zusammenhalt landsmannschaftlicher Netzwerke - begünstigt durch die mittelalterlichen Zunftordnungen - bildete auch einen wichtigen Grundstein für den geschäftlichen Erfolg. Es ist deshalb kein Zufall, daß auch nach Erlangung der Unabhängigkeit in der einheimischen Unternehmerschaft Kabylen und Mozabiten relativ stark vertreten waren. Als in den neunziger Jahren ein Angehöriger der ibaditischen Glaubensgemeinschaft zum Chef der algerischen Zentralbank ernannt wurde, erinnerte ein einheimischer Kommentator sofort an die sprichwörtliche Sparsamkeit der Mozabiten.
Bis heute verbinden sich mit einzelnen Regionen spezifische Produktionsformen und sozialökonomische Strukturen sowie sprachliche Eigenheiten und lokale religiöse Bräuche, welche die Menschen als wesentlich für ihre eigene Identität ansehen. Zur wirtschaftlichen Zersplitterung des Landes kam in der Türkenzeit die gezielte politische Spaltung hinzu, mit der die osmanischen Herrscher eine Formierung einheimischer Gegenmächte verhindern wollten. Daß sich Oran zum Zentrum Westalgeriens und Constantin zum Zentrum Ostalgeriens entwickelten, hatte vorwiegend strategisch-administrative Gründe. Die Auswirkungen zeigen sich bis heute: Noch immer spürt man eine gewisse Rivalität beider Landesteile um politische und wirtschaftliche Vormachtstellung.
Auch unter der hundertdreißigjährigen französischen Kolonialherrschaft haben sich die regionalistischen Strömungen eher noch verstärkt, und zwar trotz einer strafferen Zentralisierung der Verwaltung. Zwar wurde einerseits durch die weitgehende Enteignung von Stammesländereien den Abstammungsgruppen systematisch ihre wirtschaftliche Basis entzogen. Andererseits aber integrierte die französische Kolonialverwaltung Teile der alten Machtelite - Scheichs, Caïds, Kalifas, Aghas - in ihr Herrschaftssystem, um die einheimische Bevölkerung zu kontrollieren und Steuern einzutreiben. Auf diese Weise konservierte sie überkommene Hierarchien. Große Teile der Bevölkerung blieben in starkem Maße von Stammes- oder lokalen Gemeinschaften abhängig, die für sie eine soziale "Versicherung" in Notzeiten bedeuteten, zumal sie kaum Chancen hatten, anderswo Arbeit und Einkommen zu finden.
Auch die französischen Kolonialherren benutzten - wie einst die osmanischen Herrscher - die Strategie "teile und herrsche", um das Land besser kontrollieren zu können. Um den "Geist des Partikularismus" zu schüren, wie es ein französischer Gouverneur ausdrückte, entwickelten sie eine spezielle "Berberpolitik". Damit wollten sie einen Keil treiben zwischen die Berber und die arabisch sprechenden Bevölkerungsgruppen. Es gelang ihnen damit aber nicht, den Widerstandswillen gerade der Kabylen gegen die Fremdherrschaft zu brechen. Der antikoloniale Kampf war allerdings trotz des einigenden Bandes von Nationalismus und Islam nicht frei von gegensätzlichen regionalen Strömungen. Das wurde beispielsweise in der sogenannten Berberkrise von 1949 deutlich, als in den Reihen des Widerstands ein Streit entbrannte, welchen Charakter eine algerische Nation haben sollte, ob mehr die arabisch-islamische Identität betont oder eine eigene Berberidentität anerkannt werden sollte.
Regionalistische Tendenzen haben sich bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Doch es wäre falsch, in diesem Phänomen lediglich das starre Festhalten an überlebten Traditionen zu sehen. Der Ökonom Friedrich August Hayek hat ganz nüchtern und prägnant definiert: "Tradition ist, was Erfolg hat." Der Rückgriff auf traditionelle Strukturen und Verhaltensweisen steht in engem Zusammenhang zum besonderen politischen und ökonomischen System des algerischen Staates - einer Entwicklungsgesellschaft, deren Einnahmen nicht in erster Linie das Ergebnis von Investitionen in die gesamte binnenwirtschaftliche Infrastruktur sind, sondern ganz überwiegend aus der Ausbeutung der ergiebigen Erdöl- und Erdgaslagerstätten stammen.
Die Staatsklasse, die seit der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1962 die Macht ausübt und sich im wesentlichen auf die Armee stützt, legitimiert ihren Herrschaftsanspruch über die Zuweisung von Teilen dieser Öleinnahmen an die Bevölkerung. Das Ein-Parteien-Regime duldete keine transparente Interessenvertretung über Vereine oder Parteien. Die Bürger Algeriens konnten ihren Lebensstandard und politischen Einfluß auch nicht durch freien Zugang zum Arbeitsmarkt und demokratische Teilhabe sichern, sondern nur durch Beziehungen zu den herrschenden Clans, durch die "Nähe zur Macht", wie es Ibn Khaldun bereits für die Zeit der dynastischen Potentaten beschrieben hatte. Daran haben auch die nach den Oktoberunruhen 1988 eingeleiteten Maßnahmen zur politischen Öffnung und zur Wirtschaftsliberalisierung nichts Grundlegendes geändert. Im Gegenteil: als Folge der Krise des nationalstaatlichen Systems erstarkten wieder die regionalen, religiösen und Stammesstrukturen, weil sich die modernen Institutionen und Beziehungen als unzuverlässig und teilweise auch als uneffektiv erwiesen hatten.
Der 1993 von radikalen Islamisten ermordete algerische Soziologe Mohammed Boukhobza beklagte, daß es in seinem Land keinen transparenten Markt gebe, sondern spezielle "Mikro-Märkte", die von undurchschaubaren Mächten wie der Bürokratie, lokalen Feudalherren oder Clans beherrscht würden. In diesem Beziehungsgeflecht von Abhängigkeiten und Verpflichtungen entwickeln sich "Seilschaften" auf der Basis einer gemeinsamen regionalen Herkunft. In Ministerien, in den Sicherheitsdiensten, ja selbst in den Oppositionsparteien lassen sich derartige Tendenzen verfolgen. Eine Recherche aus den Anfangsjahren des unabhängigen algerischen Staates ergab eine aufschlußreiche Übereinstimmung in der geographischen Abstammung sowohl der einheimischen Unternehmerschaft als auch der neuen politischen Elite. Auffallend war, daß beide Gruppen überwiegend aus Grenzgebieten, ländlichen Zonen und Bergregionen kamen, also vor allem aus jenen Landesteilen, wo das Kolonialsystem noch nicht alle traditionellen Strukturen durchdrungen hatte.
Bis in die neunziger Jahre hinein stammte die politische Führung des Landes überwiegend aus Ostalgerien. Insbesondere in der Armee, die sich in der Öffentlichkeit als Garant für die Einheit des Landes präsentiert, sind regionalistische Tendenzen nicht zu übersehen, wenngleich hier manche Spur schwer anhand von Namen zu verfolgen ist, da manche hohen Offiziere noch ihren "Kriegsnamen" tragen. Militär und Sicherheitsdienste rekrutieren bevorzugt aus der Bevölkerungsgruppe der Chaouia, die im Aurès-Gebirge, dem historischen Zentrum des algerischen Befreiungskrieges (1954-1962), angesiedelt ist. Die Vorherrschaft der Chaouia in der Armee galt bisher für die Machthaber als ein Garant der Stabilität, weil dadurch ein Putsch aus eigenen Reihen unwahrscheinlich und ein relativ geschlossenes Auftreten möglich war.
Der Sozialwissenschaftler Lahouari Addi weist darauf hin, daß sich mit der raschen Verstädterung des Landes - heute lebt etwa die Hälfte aller Algerier in Städten - diese traditionellen Formen der Assabiyya abschwächen und sich der Clangeist immer stärker nach neuen Mustern formiert. Nicht mehr aus-schließlich religiöse, familiäre oder regionale Abstammung, sondern der gemeinsame Ausbildungsweg oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Institutionen treten in den Vordergrund. Eine solche neue Art der personellen Verflechtung zeigt sich beispielsweise im Austausch von Führungskräften zwischen der mächtigen staatlichen Erdöl- und Erdgasgesellschaft Sonatrach und dem Staat.
Aber insbesondere das Wahlverhalten beweist, daß nach wie vor regionalistische Tendenzen die algerische Politik maßgeblich bestimmen. Louisa Hanoune, die die algerische PT (Parti des travailleurs, Arbeiterpartei) leitet, spricht davon, daß jeder Politiker auf den Regionalismus setzt, um bei Wahlen ein Maximum an Stimmen zu gewinnen. Insbesondere in den Dörfern haben Teile der traditionellen Oberschicht, die Stammes- und Douarchefs (Bürgermeis-ter einer Großgemeinde) und mächtige Marabutfamilien (Prediger der Sufis, einer mystischen Richtung des Islam), ihre beherrschende Stellung bewahren können. Sofern sie am antikolonialen Befreiungskampf teilgenommen hatten, gelang es ihnen sogar, in die Schicht der Staatsfunktionäre aufzusteigen. Auf diese Weise konnten sie so etwas wie eine revolutionäre Immunität erlangen, die ihnen half, nicht nur ihren politischen Einfluß zu bewahren, sondern auch ihren Besitzstand in den Jahren der Agrarevolution zu retten. Sie setzen ihr Gewicht bis heute bei Wahlen diskret, aber ganz gezielt im Prozeß der Kandidatenaufstellung und bei der politischen Mobilisierung von Gefolgschaften ein.
Den Gefolgsleuten wiederum sichert die Loyalität gegenüber diesen einflußreichen Patronen Schutz und Einkommen. Boukhobza stellte in seinen Untersuchungen fest, daß nach wie vor meist das männliche Oberhaupt über das politische Votum seiner ihm anvertrauten Gemeinschaft bestimmt: Der Ehemann wählt für seine Frau und seine Kinder, der Patron legt die Stimmenabgabe seiner Klienten fest, der Chef einer Ortschaft entscheidet über das Schicksal einer ganzen Gemeinde. Nicht der Inhalt politischer Programme, sondern die Fähigkeit der Kandidaten zur Ressourcenverteilung entscheidet über ihren Erfolg. Dieses Verhalten läßt sich bei Wahlen immer wieder beobachten, wie folgende Beispiele aus jüngster Zeit zeigen: Liamine Zeroual, der vorhergehende Präsident und frühere Verteidigungsminister, der im ostalgerischen Batna geboren wurde und "standesgemäß" den Chaouia angehört, erzielte bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 erwartungsgemäß vor allem in den östlichen Regionen des Landes einen überdurchschnittlich hohen Stimmenanteil.
Auch mit dem neuen Mann an der Spitze des Staates verbinden sich regionalistische Strömungen. Bouteflika wurde im marokkanischen Oudja geboren und gilt demzufolge als Mann Westalgeriens. Bei den Präsidentschaftswahlen erhielt er eine überwältigende Zustimmung aus dieser Region, während etwa ein Großteil der Kabylen die Wahlen boykottierte. Mit großem Interesse wurde in der algerischen Presse verfolgt, daß sich in der Begleitung des Präsidenten auf der Reise zum Weltwirtschaftsforum von Crans Montana in der Schweiz ein Unternehmer aus Oran befand, daß in diesem Jahr die internationale Messe erstmals in der westalgerischen Metropole stattfindet und diese Gegend schon kurz nach Bouteflikas Machtübernahme einen spürbaren Aufschwung in der Baubranche erlebte.
Regionalismus eignet sich hervorragend zur politischen Mobilisierung. Er kann aber eine nationale Organisation schwächen und gezielt zur Spaltung oder Zersplitterung einer Bewegung ausgenutzt werden. Das zeigt sich in Algerien deutlich im Lager der Opposition. Die weltliche Opposition, die heute in Algerien maßgeblich durch die FFS (Front des forces socialistes) und die RCD (Rassemblement pour la culture et la démocratie) repräsentiert wird, ist eng mit der Berberbewegung verbunden. Sie ist vor allem auf die Unterstützung dieser Bevölkerungsgruppe angewiesen, die etwa ein Viertel der Einwohner Algeriens ausmacht. Beide Parteien finden ihren Rückhalt vor allem in der Kabylei und im Großraum von Algier, in dem sich infolge der Binnenwanderung viele Kabylen niedergelassen haben. Beide kämpfen somit als Konkurrenten annähernd um das gleiche Wählerpotential.
Im Gegensatz zur weltlichen Opposition hat die islamistische Bewegung in Algerien zwar nahezu alle Bevölkerungsgruppen und Regionen erfaßt, doch bei näherem Betrachten zeigt sich, daß die unterschiedlichen Gruppierungen ebenfalls in regionalistische Strukturen eingebettet sind. Nach dem Verbot der FIS (Front islamique du salut), die ihren Wirkungskreis von den Großstädten aus rasch auf alle Landesteile ausgedehnt hatte, erlangten die moderaten islamistischen Parteien MSP (Mouvement de la société pour la paix), En-Nahda und PRA (Parti du renouveau algérien) neues Gewicht.
Die MSP, die mit mehreren Ministern und Staatssekretären an der Regierung beteiligt ist, wurde 1990 von Mahfoud Nahnah gegründet und fußt organisatorisch auf der bereits 1988 von ihm ins Leben gerufene Vereinigung Al-Irchad wa l-islah. Als regionaler Hintergrund der Partei gilt Blida, die Geburtsstadt des Parteiengründers, die im vorkolonialen Algerien Ansehen als Zentrum des Handwerks genoß. Die MSP wird als Repräsentantin einer islamischen Bourgeoisie angesehen; Nahnah selbst versteht seine Partei vor allem als Interessenvertreterin der arabophonen Mittelschichten. Zunächst blieb die Ausstrahlung der Partei auf die Region um Blida begrenzt, zumal die FIS eine übermächtige Konkurrenz darstellte. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 1995 bestätigten, daß Nahnah sein größtes Wahlerpotential in seiner Heimat mobilisieren konnte. An den Wahlen von 1999 nahm er aufgrund restriktiver Bestimmungen des Wahlgesetzes nicht teil. Dank des parallel zur Parteiorganisation weiter bestehenden und mittlerweile landesweit gut ausgebauten Vereinsnetzes, das sich nach wie vor religiösen, kulturellen und sozialen Aufgaben widmet, konnte die Partei allerdings stetig ihren Einfluß auch in anderen Regionen ausbauen.
Die Partei En-Nahda, die ebenfalls auf Basis eines Wohltätigkeitsvereins entstanden ist, ist vor allem in Ostalgerien angesiedelt und vertritt einen streng an der Scharia ausgerichteten Kurs. Ihr Gründer und bisheriger Präsident (Imam) Kettaf Saad, genannt Abdallah Djaballah, wurde in Skikda geboren und hat an der Universität von Constantine Jura studiert. Die Stadt gilt als religiöse Hochburg. Hier lebten und wirkten Ben Badis und Malek Bennabi, zwei berühmte geistige Väter des politischen Islam in Algerien. 1999 spaltete sich die Partei im Streit darüber, ob die Kandidatur Bouteflikas unterstützt werden sollte. Djaballah gründete daraufhin eine neue Bewegung. Gerüchten zufolge hat der Staatspräsident dem Führer des abtrünnigen Flügels einen Beraterposten angeboten.
Noureddine Boukrouh als Präsident der moderaten islamistischen PRA verfügt über keine eindeutige regionale Bindung. Die niedrigen Wahlresultate verdeutlichen, daß der Partei das entscheidende Hinterland fehlt.
Wie die politische Entwicklung in Algerien zeigt, ist Regionalismus ein wichtiger Faktor im Machtkampf. Er ist Teil eines Herrschaftssystems, das demokratische Spielregeln bewußt umgeht. Mit diesem System konnten die bisherigen Machthaber ihr politisches Überleben sichern, doch der Preis dafür war sehr hoch, wie die Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts bewiesen haben.
Literatur:
aus: der überblick 04/1999, Seite 40
AUTOR(EN):
Dr. Herta Müller:
Dr. Herta Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind sozialer Wandel und Politik in Nordafrika und Nahost.