Ein Theater für die Entwicklung in Burkina Faso
Als künstlerische Ausdrucksform genießt das Theater in Burkina Faso zwar große Popularität, nur wenige Menschen besuchen jedoch live-Theateraufführungen. Das 1978 gegründete »Atelier-Théâtre Burkinabé« (ATB) beschreitet den umgekehrten Weg und geht mit seinen Aufführungen in die Stadtteile und Dörfer.
von Thomas Veser
Es ist kurz vor 17 Uhr im Wohnviertel Secteur 29 am östlichen Stadtrand der Hauptstadt Ouagadougou. Fast vierzig Grad zeigt das Thermometer, dennoch herrscht an den Marktständen und in den Reparaturwerkstätten entlang der staubigen Hauptpiste geschäftiges Treiben. Ein klappriger Kleinbus mit Holzkisten, Metallstangen und Lautsprechern auf dem Dachgepäckträger nähert sich der Kreuzung und zieht die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich. Atelier-Théâtre Burkinabé (ATB) steht auf der Schiebetür, ein Dutzend junger Leute steigt aus, unter ihnen die 25-jährige Pauline Tapsoba. Sie gehört mit ihren Kolleginnen und Kollegen zu den wohlvertrauten Gesichtern im Secteur 29. Regelmäßig sucht der Trupp dieses volkstümliche Wohnviertel der Hauptstadt auf, um Freilicht-Theaterstücke zu inszenieren.
Während die Theatermacher ihre Requisiten abladen, verhandelt Pauline mit dem Besitzer eines Hauses, das Stromanschluss für die Lautsprecher und Scheinwerfer besitzt. Vor dem Gebäude befindet sich eine Freifläche. Mit weißem Pulver markiert ein junger Mann eine rechteckige Bühnenfläche, vor der sich das Publikum versammelt. Dahinter bildet ein Metallrahmen, mit einem schwarzen Tuch bespannt, die Bühnenrückwand. Es ist noch hell, aber schon werden die Scheinwerfer in Position gebracht und angeschlossen, denn nach einer Stunde Spielzeit bricht die Dämmerung an, die in diesen Breitengraden schnell in die Dunkelheit übergeht. Rund zwei Stunden wird das Stück dauern. Pauline greift sich ein Mikrophon und führt die beträchtlich angewachsene Zuschauermenge auf Mooré, wie die Sprache der in diesem Landesteil mehrheitlich lebenden Mossi heißt, in das bevorstehende Theaterstück ein.
Diesmal geht es um das heikle Thema der Land- und Grundbesitzreform. Das Stück, dessen Handlung die Theatermacher gemeinsam geschrieben haben, spielt in einem Dorf. Auch ohne Mooré-Kenntnisse wird schnell klar, worum es geht: Ein reicher Stadtbewohner begibt sich aufs Land, um Grundbesitz zu erwerben, und das darf er auch zumindest laut staatlichem Gesetz. Auf dem Land hingegen herrscht das überkommene Gewohnheitsrecht, wonach Grund und Boden ausschließlich der Gemeinschaft gehören. Einige Dorfbewohner, denen die Gemeinschaft zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Felder anvertraut hat, können dem Lockruf des Geldes nicht widerstehen und veräußern die Grundstücke heimlich an den Besucher aus der Stadt. Nach etlichen Verwicklungen fliegt die Nacht-und-Nebel-Aktion auf, nun schlägt die Stunde des Dorfchefs, der mit dem Ältestenrat das finale Scherbengericht über die Schuldigen inszeniert.
Die Landreform ist ein kontroverses Thema, das in Burkina Faso die Gemüter schnell in Wallung bringt. Daher nähert man sich diesen Problemen auf lockere Weise: Situationskomik, Ironie, Überzeichnungen und pantomimische Einlagen kennzeichnen das kurzweilige ATB-Stück über weite Strecken. Seine zentrale Botschaft wird dennoch allen Zuschauern klar. So sät die Grundstücksspekulation nicht nur Zwietracht in der Dorfgemeinschaft. Oft vernichten die neuen Besitzer aus der Stadt auch den Baumbestand, um dort Gebäude errichten zu lassen. Auf diese Weise verlieren die Dorfbewohner allmählich ihre Lebensgrundlage.
Nachdem die dörfliche Elite ihr Urteil gefällt hat, nimmt die Unruhe im Auditorium merklich zu, einzelne Zuschauer kommentieren spontan das Geschehen, bisweilen in aggressivem Tonfall. Erneut begibt sich Pauline Tapsoba vor das Publikum: »Ihr seid also nicht einverstanden mit dem Urteil. Gut, dann müsst Ihr jetzt entscheiden«, spornt sie die Leute an. Ein jüngerer Mann tritt vor, er hält das Verdikt, das der Dorfchef im Stück verhängte, für ungerecht. Pauline komplimentiert ihn auf die Spielfläche und drückt ihm das Mikrophon in die Hand. »Jetzt hast du die Rolle des Chefs übernommen, wie entscheidest du?«, fragt sie ihn.
Etwa eine halbe Stunde haben die Theatermacher für dieses Rollenspiel eingeplant, an diesem Tag wollen sich noch andere Zuschauer mit dem Gemeindeoberhaupt identifizieren, sie ernten mit ihren jeweiligen Entscheidungen Zuspruch und Ablehnung aus dem Publikum.
Das Forum genannte Finale charakterisiert fast alle Theaterstücke, die das 1978 ins Leben gerufene Atelier-Théâtre Burkinabé geschaffen hat. Maßgeblicher Gründer und Leiter des derzeit aus rund 30 Schauspielern bestehenden Ensembles ist der 55-jährige Prosper Kompaoré, Literaturdozent an der Universität Ouagadougou. »Das Theater bietet die besten Möglichkeiten, das Bewusstsein der Menschen zu schärfen, es stellt Probleme dar und bietet Lösungen an, indem die Zuschauer in die Handlung mit einbezogen werden«, bekräftigt Kompaoré. »Den Menschen soll bewusst werden, dass sie ihre Probleme selbst lösen können.«
Sein Théâtre de la sensibilisation erinnert stark an das Volkstheater-Konzept des brasilianischen Dramaturgen Augusto Boal, das seit den sechziger Jahren in weiten Teilen Lateinamerikas Fuß fassen konnte.
Boals »Theater des Unterdrückten« beruhte auf gemeinsam verfassten Szenarien, die in den Elendsquartieren der Städte und auf dem Land vorgeführt wurden. Dabei entwickelte der Dramaturg Darstellungstechniken, die den Zuschauer aus seiner passiven Rolle befreiten und die Theaterbesucher selbst zu Handelnden machten.
Kompaoré widmete sich mit seiner Schauspielertruppe Ende der siebziger Jahre zunächst der Landbevölkerung. Damals nannte sich das Ensemble Amateurs du Théâtre Volta. Sie unternahmen Tourneen in den Volta-Flusstälern. Nachdem dort die Schlafkrankheit besiegt werden konnte, hatte die Regierung Bewohner aus allen Landesteilen angesiedelt. In ihren Stücken setzten sich die Schauspieler mit den speziellen soziologischen Bedingungen der bunt zusammengewürfelten Bewohnerschaft auseinander, nach jeder Aufführung des ländlichen Theaters fand eine auf Französisch geführte Debatte statt.
Seit Beginn der achtziger Jahre verlegte das Ensemble seine Auftritte schwerpunktmäßig in die Städte, um sich mit den zunehmenden Problemen wie Jugendkriminalität, schulische Schwierigkeiten und Alkoholismus zu beschäftigen. Diese Aufführungen nahmen oft den Charakter von Happenings an: Zunächst führte man das Publikum in entspannter Atmosphäre an das Thema heran, dann folgte die Aufführung, zum Schluss suchten die Schauspieler den Dialog mit den Zuschauern, die sich phasenweise in das Spielgeschehen integrieren konnten.
Allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zum Trotz entwickelte Prosper Kompaoré sein Konzept weiter, es ist heute unter der Bezeichnung Théâtre pour le développement (Theater für die Entwicklung) auch außerhalb Burkina Fasos bekannt. Als eigenständige theatralische Ausdrucksform orientiert es sich an den »kulturellen Gegebenheiten unseres Landes«, bekräftigt der Leiter.
In der Anfangsphase besaß die Amtssprache Französisch noch eine größere Bedeutung. Heute führt das ATB-Ensemble alle Stücke in den beiden Hauptsprachen Mooré und Dyula auf. Ausnahmen von dieser Regel gibt es nur bei Gastauftritten in den Nachbarländern Benin, Togo, Côte d'Ivoire, Mali und Senegal.
Weil die Kosten für Auslandsreisen das Budget der ATB-Theatermacher stark belasten, tritt das Ensemble überwiegend im eigenen Land auf. Auf Eintrittsgelder nach westlichem Vorbild wird wohlweislich verzichtet, »weil so gut wie niemand diese Gebühr entrichten würde; das wäre dem kulturellen Verständnis der Burkinabé fremd«, gibt Prosper Kompaoré zu bedenken.
Wie aus einer schon 1996 abgeschlossenen Umfrage des nationalen Instituts für Statistik und Demographie in der Provinz Kadiogo hervorgeht, schätzen die Burkinabé das Theater als populärste künstlerische Darstellungsform. Auf die Frage, ob sie sich Theaterstücke ansehen, hatten damals von 2016 Personen 1338 mit Ja geantwortet. Allerdings benügten sich 50,1 Prozent der Befragten mit Rundfunksendungen, 35 Prozent verfolgten Übertragungen am Fernsehen oder besorgten sich Videokassetten. Immerhin 10,1 Prozent suchten dazu ein Theater auf.
»Wenn wir überleben wollen, müssen wir demnach zu den Menschen gehen«, gibt Kompaoré zu bedenken. Finanziell überleben kann sein Theater nur durch ausländische Geber, vor allem Hilfswerke, die Jahr für Jahr das Budget sichern. »Von der eigenen Regierung können wir außer administrativer und moralischer Unterstützung nichts erwarten«, bekräftigt Kompaoré, der in Ouagadougou über ein eigenes Theatergebäude mit zwei Aufführungsälen verfügt.
Manche Geber verbinden mit ihrem Beistand konkrete Aufträge. Sie legen die Themen fest, die in Theaterform aufgearbeitet werden sollen. So hat die schwedische Diakonie den Trupp um Kompaoré beauftragt, während der Förderphase 2000 bis 2004 Aufführungen zu Demokratie, Menschenrechten und der Rolle von Frauen in den Vordergrund zu stellen. Das »Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz« (heks) hingegen bezuschusste Stücke, die sich mit seinen eigenen Arbeitsschwerpunkten Ernährungssicherung und Konfliktprävention in Burkina Faso deckten.
Neben Forum-Schöpfungen studiert man hin und wieder klassische Theaterstücke ein, darunter kürzlich Jean Anouilhs Antigone und die für Theater adapierte Erzählung No longer at Ease von dem nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe.
Eigene Schöpfungen mit dem Forum-Ansatz überwiegen jedoch. Besonders oft aufgeführt werden gegenwärtig Stücke, die sich mit Gesundheitsthemen auseinandersetzen, darunter L'Or bleu und La toux du serpent, in denen der Zugang zu Trinkwasser und der Kampf gegen Tuberkulose aufgegriffen werden. Nach der theatralischen Mobilisierungskampagne habe die Zahl der Menschen, die sich in den Gesundheitszentren untersuchen ließen, signifikant zugenommen, bestätigt die Lungenspezialistin Célestine Ky, Leiterin des Nationalen Tuberkulose-Programms.
Stark an Bedeutung gewonnen haben auch Darstellungen zu Kinderhandel und Kinderprostitution, die von den Eltern erzwungene Heirat ihrer minderjährigen Kinder und das Thema der sexuellen Belästigung, vor allem an Schulen. »In der Öffentlichkeit wird darüber noch immer Stillschweigen bewahrt, im Theater können solche Themen offener dargestellt werden«, sagt Prosper Kompaoré. »Das Forum-Theater ist ein Ort, an dem man sich frei ausdrücken kann. Das fördert die öffentliche Debatte. So üben wir den sozialen Dialog ein. Er bringt schließlich den sozialen Wandel voran.«
Alleine in der Spielsaison 2003/2004 hatten die ATB-Schauspieler in den Städten und auf dem Land Kampaorés Worten zufolge 236 Aufführungen gegeben, zu denen rund 90.000 Besucher gekommen waren. Zum gegenwärtigen Repertoire gehören 18 Theaterstücke, zehn Neuschöpfungen und acht Reprisen.
Angehende Schauspieler, die Aufnahme im ATB-Ensemble finden, absolvieren eine zweijährige Ausbildung, die erfahrenen Angehörigen der Truppe beteiligen sich jedes Jahr an Fortbildungskursen. In einer Graines d'artistes genannten Theaterschule kümmert man sich um den Nachwuchs, der dort auch das Singen und Tanzen erlernt. Auf dem Land erteilen die ATB-Trainer mittlerweile in 50 Dörfern jeweils eine Woche lang Schauspielunterricht.
Wie für die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen ist der Schauspielerberuf für Safiatou (26), die seit vier Jahren zum ATB-Ensemble gehört, mehr als nur ein Broterwerb: »Es gelingt uns, mit unseren Stücken ungeheuer viele Leute anzusprechen und das zeigt, dass unsere Arbeit für die Gesellschaft wertvoll ist. Diese Wertschätzung ist es, die mich motiviert.«
aus: der überblick 02/2005, Seite 49
AUTOR(EN):
Thomas Veser
Thomas Veser ist freier Journalist und schreibt für mehrere Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist spezialisiert auf Afrika.