Gewaltverbrecher päppeln Papageien auf und werden dabei von den Vögeln gezähmt
Der Häftling Melvin van der Westhuizen führt seine Fähigkeiten in Tierpflege vor. Nachdem er seine Hände desinfiziert hat, entnimmt er einem Brutkasten eine Plastikschachtel, in der auf einem Rost vier Küken von Erdbeerköpfchenpapageien sitzen. Sorgsam stellt er jedes Küken auf die Waage, trägt dessen Gewicht auf einer Liste ein und beginnt dann, sie mit einem angerührten Brei zu füttern. Bevor den Vögeln der erste Löffel eingeflößt wird, wird der Brei vorgekostet: "Er darf ja nicht zu heiß sein." In den Pranken des kräftigen, athletisch gebauten Gefangenen wirken die Küken noch zerbrechlicher. "Sehen Sie", erklärt er, "diese kleinen Tiere könnten ohne unseren Schutz nicht überleben. In dieser Phase muss ich sie alle drei Stunden füttern, auch nachts."
von Werner Vogt
Hinter van der Westhuizen rumort ein hellgrüner Sittich auf dem Dach seines Käfigs. "Aha, jetzt ist er eifersüchtig", erklärt der Häftling, ohne die Küken aus den Augen zu lassen. Er spiele eben viel mit den Vögeln, sagt er, obwohl gerade vor der Fütterungszeit der Sittich nichts von ihm wissen wolle: "Das muss man natürlich respektieren."
Dann beschreibt van der Westhuizen seine eigene Wandlung. Dieses Vogelprojekt sei ein Geschenk Gottes gewesen. Die Vögel hätten ihm eine Aufgabe gegeben, Verantwortungsgefühl und mehr emotionales Gleichgewicht. Wenn er in frühestens anderthalb Jahren entlassen werde, so sei er sicher, dass ihn der Teufel nicht mehr in Versuchung führen könne. Van der Westhuizen hat im Gefängnis sichtbare Zeichen dieser Neuerung gesetzt: In den umliegenden Korridoren hat er sämtliche Wände mit Vogelmotiven und Naturszenen bemalt - eine willkommene Abwechslung zu den trostlosen weiß- und beigegetünchten Tunneln.
Das exotisch anmutende Vorhaben zur Rehabilitation von Gefangenen ist im Pollsmoor-Gefängnis außerhalb von Kapstadt beherbergt. Häftlinge, die sich speziell für dieses Projekt qualifizieren mussten, ziehen hier junge Vögel für den Verkauf an Vogelliebhaber auf. Hauptbedingung für eine Teilnahme ist gute Führung. Wird ein Gefangener zum Beispiel beim Drogenkonsum erwischt, würde er augenblicklich von der Liste gestrichen.
Verbrecher sind die meistgehassten Einwohner Südafrikas. Ein Wahlplakat für den Urnengang vom 2. Juni 1999 lautete: "Hängt Mörder und Vergewaltiger!" Und der Hotelkellner gibt sogar noch gute Ratschläge, als er vom bevorstehenden Besuch im Gefängnis hört: "Passen Sie nur auf, wenn Sie zu diesem Abschaum gehen." Um solche Ausbrüche zu verstehen, muss man sich den grundlegenden Unterschied in der Sicherheitslage bewusst machen: In Westeuropa ist ein großer Teil der Bevölkerung vielleicht schon einmal mit Diebstahl oder Hauseinbruch in Berührung gekommen. In Südafrika hingegen kennt die Mehrzahl der Bevölkerung Familienmitglieder, Freunde und Bekannte, die schon einmal ein Messer am Hals oder eine Pistole an der Schläfe hatten, von Schlimmerem ganz zu schweigen.
Unter dieser Geißel leiden die Ärmsten, und damit ein Großteil der schwarzen Bevölkerung, am meisten. Betroffen sind jedoch alle; Ereignisse im Freundes- oder Bekanntenkreis rufen einem immer wieder in Erinnerung, dass es trotz hoher Mauern, Elektrozäunen, Alarmanlagen und Rottweilern im Garten keine absolute Sicherheit gibt. Die Kriminalstatistik Südafrikas liest sich wie ein Horrorroman: Im Jahr 1998 verzeichnete man unter anderem 24.875 Morde, 29.418 Mordversuche, 88.319 Raubüberfälle mit Waffeneinsatz, 49.280 Vergewaltigungen und 243.056 Fälle von schwerer Körperverletzung.
Wie steht es mit denjenigen, die für ihre Straftaten hinter Gittern sind? Kann man hoffen, dass sie als bessere Menschen wieder herauskommen? Die Statistik ist auch hier niederschmetternd. Sarah Oppler vom renommierten Institute for Security Studies in Pretoria schreibt in einer Studie, dass je nach Kategorie der Straftat 87,5 bis 95 Prozent der Häftlinge nach ihrer Entlassung wieder straffällig werden. Dafür seien vor allem die Zustände in den Gefängnissen verantwortlich. Diese sind notorisch überfüllt. Martin Schönteich, Forscher am gleichen Institut erklärt dazu, dass die Gefängnisse Kapazität für 100.000 Insassen haben. Hinter Gittern sind jedoch 154.000; davon sitzt gegen ein Drittel in Untersuchungshaft und wartet monatelang auf einen Gerichtstermin. Das Budget jedoch wird deswegen nicht erhöht. Das Gefängnispersonal, ein Beamter auf fünf Gefangene, muss daher den Betrieb rationalisieren, wobei es an allen Ecken und Enden fehlt - vor allem an Örtlichkeiten und ausgebildeten Fachkräften für die Rehabilitation.
Hinter Gittern und namentlich in Massenzellen herrscht, wie Oppler schreibt, eine brutale Hackordnung; Schlägereien, Drogenkonsum und die Vergewaltigung von Mithäftlingen sind an der Tagesordnung. Die Wissenschaftlerin kritisiert, dass die Rehabilitation von Gefangenen generell unterentwickelt sowie personell und finanziell völlig unterdotiert ist. Auch deshalb ist das Vogelprojekt in Pollsmoor so bemerkenswert.
Auch Taliep Lewis nimmt daran teil. Er scheint ein noch krasserer Fall einer Metamorphose vom Saulus zum Paulus zu sein. Der Farbige ist der Prototyp eines Gangsters aus den Cape Flats. Die gesamte Reihe der unteren Schneidezähne fehlt ihm - er war im Gefängnis und zuvor oft in Schlägerein verwickelt. Die Cape Flats sind von Armen, namentlich Farbigen, bewohnte Vororte von Kapstadt - ein brutales Pflaster, wo die Bandenkriminalität grassiert. Einige dieser kriminellen Organisationen existieren außer- wie innerhalb der Gefängnismauern.
Auch Lewis hat offensichtlich ein starkes Mitteilungsbedürfnis, wie es für Personen, die zu viel Zeit und zu wenig bereichernde Kontakte haben, nicht untypisch ist. Er redet offen über seine Vergangenheit. Nach einer langen Gangsterlaufbahn in den Cape Flats wurde er wegen Mordes und Mordversuchs verurteilt. Mit einem Anflug von Reue erzählt er, dass in seinem vorherigen Leben die eigene Familie, seine Frau und seine fünf Kinder nichts gezählt haben: "Ich habe mich vor allem um mein Geld, mein Auto, meine Pistole und andere Frauen gekümmert. Die Erziehung der Kinder hat mich nicht interessiert, meine Frau war selber gehalten, zu sehen, wie sie zurechtkommt."
Nach seiner Verurteilung folgte nicht umgehend und schon gar nicht automatisch die Läuterung. Die Umgebung im Pollsmoor-Gefängnis, wo auch Nelson Mandela mehrere Jahre einsaß, war alles andere als geeignet dafür. "Ich fühlte mich wie ein Stück Dreck, bar jeden Selbstwertgefühls. Ich musste Erbrochenes aufputzen und Latrinenkübel leeren. Daneben hatte ich ständig Streit und Schlägereien mit anderen Insassen. Wenn meine Frau zu Besuch kam, habe ich sie aus lauter Frustration vor allem beschimpft, bis zu dem Punkt, an dem sie sich scheiden lassen wollte", erzählt Lewis.
Umso dramatischer war dann der Wandel, als man ihm eine Chance gab, am Vogelprojekt mitzuwirken. Er, der als Junge Vögel ausschließlich als Zielscheiben für seine Steinschleuder verwendet hatte, päppelt nun wie sein Kollege von der Nebenzelle kleine Papageien auf. "Diese kleinen Vögel haben mir gezeigt, wie schön es sein kann, wenn man sich um etwas kümmern und sorgen kann." Auch Lewis steht wie weiland ein Mönch alle drei Stunden in der Nacht auf, um seine Küken zu füttern.
Er ist vermutlich der Gefangene, der sich am auffälligsten verändert hat, seit er am Vogelprojekt beteiligt ist. Chris van der Merwe, ein in khaki gekleideter Gefangenenwärter, sagt, dass man vorher mit Lewis nichts als Ärger gehabt habe. Ständig habe es Disziplinprobleme gegeben; überdies habe sich Lewis permanent über das Essen und anderes beklagt. Dies sei wie weggeblasen. Der Initiator des Vogelprojekts, Wikus Gresse, ergänzt, dass Lewis nicht nur eine völlig andere Person geworden ist, sondern innerhalb des Vogelprojekts auch Führungsaufgaben übernommen habe. Er leitet die Sitzungen der 22 Beteiligten, führt Protokoll und verwaltet auch die Kasse. Die Hälfte der Einkünfte aus dem Verkauf von Papageien und Sittichen geht in die Materialkasse, die andere Hälfte kommt den beteiligten Gefangenen zu Gute.
Wikus Gresse ist Strafvollzugsbeamter sowie passionierter Vogelzüchter und Ornithologe. Der Vorstand seines vogelkundlichen Vereins hat eines Tages erörtert, wie man das Interesse an Vögeln bei jenen Menschen wecken könnte, die vom Apartheid-Regime benachteiligt worden waren. Vizedirektor Gresse schlug daraufhin einen Pilotversuch in seiner Strafanstalt vor.
Dieser ist jedoch aus Tierschutzgründen auf ungefähr 20 Teilnehmer beschränkt. Gresse will keine Abstriche bei der Lebensqualität und den hygienischen Bedingungen für die Tiere machen und lässt die für das Projekt verwendeten Räume regelmäßig von amtlichen Veterinären inspizieren. Die im Gefängnis aufgezogenen Vögel, so erklärt Gresse, erhalten vom Kükenstadium bis sie flügge sind viel mehr Aufmerksamkeit, als wenn sie in einer Voliere aufgezogen würden. Vögel, Papageien und Sittiche, die in ihren ersten Lebenswochen und -monaten wenig Aufmerksamkeit erhalten, seien aber später generell unnahbar und würden zum Beispiel den Besitzer in den Finger beißen. Nicht so bei den von Menschenhand aufgezogenen Vögeln, sagt Gresse. Die seien ungleich zahmer und deshalb sehr gesucht. Man habe noch nie ein Inserat aufgegeben, doch die Nachfrage sei infolge von Mund-zu-Mund-Propaganda schon größer als das Angebot.
Die langfristige Erfolgsbilanz des Projekts kann dessen Spiritus Rector noch nicht abschätzen, da erst zwei Beteiligte inzwischen entlassen worden sind. Gresse betont jedoch mit Genugtuung, dass sich diese so weit gut gehalten haben. Der eine hat begonnen, selbst Vögel zu züchten, und der andere tritt als Vortragsredner über Naturthemen an Schulen auf. Der Vizedirektor weiß aber auch um die Grenzen der Rehabilitation von Gefangenen mit Vogelaufzucht: "Aus offensichtlichen Gründen können wir nur Häftlinge in Einzelzellen zulassen, die sich durch Wohlverhalten und Disziplin dafür qualifizieren." Er weiß auch von hartgesottenen Gangstern, die für derartiges bestenfalls zynische Sprüche übrig haben.
Ein weiteres, vielversprechendes Vorhaben zur sozialen Reintegration von ehemaligen Gefangenen ist ebenfalls in der Nähe von Kapstadt angesiedelt. Im Vorort Montagu Gardens macht das junge Unternehmen BayGen Power Group mit zwei originellen Produkten von sich reden: einem Transistorradio zum Aufziehen und einer Taschenlampe, die man ebenfalls mit einer Handkurbel in Betrieb setzen kann. Das Kraftwerk der beiden unkonventionellen Elektrogeräte besteht aus einer Feder, genauer gesagt einem 10 Meter langen Band aus Edelstahl. Mit 60 Umdrehungen an der Handkurbel wird diese Feder gespannt und treibt in der Folge einen Generator an, der eine Gleichspannung von 3 Volt an das Gerät abgibt. Mit einer Ladung kann das Radio ungefähr eine Stunde lang betrieben werden.
Wie Purcell Lakey, der Firmensprecher, mitteilt, sind das Radio wie die Taschenlampe besonders geeignet für den Betrieb in Gegenden ohne elektrischen Strom, wie man sie typischerweise in Entwicklungsländern findet. Hierfür ist jedoch der Preis von 100 Mark für das Radio von einer Größenordnung, die für das Zielpublikum außer Reichweite ist. Es sei denn, man findet einen großzügigen Sponsoren. Entwicklungshilfeorganisationen aus der Europäischen Union haben beispielsweise für ein Hilfsprogramm in Malawi 10.000 Aufzieh- Radios gekauft. Sie werden erstens für Lernprogramme in Schulen verwendet und zweitens zur Weiterbildung der Subsistenzlandwirte. Die Bauern hören zu bestimmten Sendezeiten im Radio Hinweise für die Verbesserung der Produktivität. Auf diese Weise habe man die Ernte von einigen Agrarprodukten um über 30 Prozent steigern können. Der Löwenanteil der Monatsproduktion von 40.000 Radios geht jedoch in die USA und nach Europa, wo namentlich Camping- Begeisterte auf den batteriefreien Betrieb schwören.
Bemerkenswert an der jungen Kapstädter Firma sind nicht nur ihre Produkte, sondern auch die Zusammensetzung der Belegschaft. Sie besteht zu einem großen Teil aus Behinderten, ehemaligen Sträflingen und Familienangehörigen von derzeit Inhaftierten. Nach Auskunft des Firmensprechers arbeiten Taube, Stumme und Gelähmte Seite an Seite mit resozialisierten früheren Straftätern.
Eine Reihe von hochkarätigen Unterstützern hat dem Projekt Geburtshilfe geleistet. Zu ihnen gehört die gemeinnützige Stiftung des südafrikanischen Assekuranzhauses Liberty Life. Deren Vorsitzender, Hylton Appelbaum, hatte gedrängt, die Produktion der BayGen Power Group in Südafrika zu behalten, da die Arbeitslosigkeit zu den größten Problemen des Landes gehört. Auch in Übersee hat das Unternehmen mächtige Förderer. Zu den Hauptaktionären gehören die Pensionskasse des multinationalen Konzerns General Electric ebenso wie das Ehepaar Roddick, die Gründer der Body-Shop-Kette. Wie Purcell Lakey betont, sei jedoch keine Rede von einer "geschützten Werkstatt". Das Unternehmen sei profitabel und auf Expansionskurs. BayGen arbeitet im Forschungssektor mit der amerikanischen Firma Batelle zusammen an der Entwicklung eines Minensuchgeräts mit demselben Auflademechanismus wie das Radio zum Aufziehen. Daneben entwickelt man für die amerikanischen Streitkräfte ein Global-Positioning-System, das ebenso in Betrieb gesetzt werden kann.
Projekte wie diese haben in Südafrika Seltenheitswert. Sie reichen nicht annähernd aus, um den Mangel im Bereich der Rehabilitation von Strafgefangenen zu beheben. Vorläufig bekommen in Südafrika nur wenige Häftlinge eine solche Chance wie Lewis und van der Westhuizen.
aus: der überblick 01/2000, Seite 63
AUTOR(EN):
Werner Vogt:
Werner Vogt ist seit 1996 Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung für das südliche Afrika mit Sitz in Johannesburg sowie Vorsitzender der Foreign Correspondents' Association dort.