Die neue Entwicklungszusammenarbeit des Landes Nordrhein-Westfalen
Wozu braucht ein Bundesland eine eigene Entwicklungszusammenarbeit? Diese Frage hat die Ministerpräsidenten der Länder bereits vor 45 Jahren beschäftigt. Sie haben damals, im Jahr 1962, zu einer Zeit also, als Konrad Adenauer Bundeskanzler und Franz Meyers Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen war, einen wegweisenden Beschluss gefasst. Danach ist die Durchführung von Entwicklungshilfemaßnahmen im Ausland zwar grundsätzlich Sache des Bundes, aber auch die Länder leisten in Abstimmung mit dem Bund technische Hilfe, insbesondere Bildungs- und Ausbildungshilfe.
von Armin Laschet
Im Jahr 1988 haben die Ministerpräsidenten diese Rolle bekräftigt und ausgeweitet. Kurz vor der deutschen Wiedervereinigung wurden vier Säulen für die Arbeit der Länder in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) definiert. Dies sind die Ausund Fortbildung von Fachkräften vor Ort und im Inland, die personelle Hilfe, die Durchführung von Projekten in Entwicklungsländern sowie – als Neuerung – die entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit im Inland.
All dies ist bis heute gültig. Doch in den vergangenen 20 Jahren sind wir Zeugen tiefgreifender weltpolitischer Veränderungen geworden. Man denke an das Ende des Kalten Krieges oder die Globalisierung. Deshalb arbeiten die Ministerpräsidenten zurzeit an einem Beschluss, der die Aufgaben der Länder den veränderten Bedingungen anpasst und die entwicklungspolitische Inlandsarbeit ebenso wie die EZ mit dem Ausland neu aufstellt. Dabei soll auch die wachsende Bedeutung der Kommunen in der EZ angemessen berücksichtigt werden. Nordrhein-Westfalen hat die Federführung bei der Erarbeitung dieses Beschlusses übernommen.
Dafür gibt es viele gute Gründe. Mit rund 18 Millionen Einwohnern ist es nicht nur das bevölkerungsreichste Bundesland mit vielfältigen Außenbeziehungen, sondern gehört auch im europäischen Vergleich zu den Ländern, deren globaler Einfluss stetig steigt. Nordrhein-westfälische Unternehmen sind überall auf der Welt aktiv, nirgendwo sonst in Deutschland sind mehr Organisationen und Institutionen der bilateralen und multilateralen EZ auf so engem Raum konzentriert und in keinem anderen Bundesland leben mehr Menschen afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Herkunft. Zudem ist Bonn der einzige Sitz der Vereinten Nationen (UN) in Deutschland – vom Internationalen Seegerichtshof in Hamburg einmal abgesehen. Mit fast 40 Prozent und rund 19 Millionen Euro (2006) erbringt das Land den weitaus größten Teil der ODA-Leistungen (Official Development Assistance), also der öffentlichen Entwicklungshilfe der deutschen Länder. Außerdem sind so manche Initiativen aus Nordrhein-Westfalen wichtige Impulsgeber für neue Entwicklungen in der EZ der Länder.
Strahlkraft über die Landesgrenzen hinaus könnten auch die neuen "Leitlinien der Entwicklungszusammenarbeit des Landes Nordrhein-Westfalen" entfalten, ein Zehn-Punkte-Programm, das die Landesregierung im August dieses Jahres verabschiedet hat. Es löst die 14 Jahre alten entwicklungspolitischen Leitlinien des Landes ab und formuliert neue, zeitgemäße Zielvorgaben.
Worum geht es? Grundsätzlich gilt: Die EZ wird jetzt wesentlich umfassender, intensiver und zielgerichteter betrieben. Im Detail wurden folgende Zielvorgaben gesetzt:
1. Die UN-Millenniumsziele sind die Richtschnur für die neue Entwicklungspolitik Nordrhein-Westfalens. Armutsbekämpfung, die Verbesserung der Bildungschancen für die Menschen im Süden, die Gleichstellung der Geschlechter, die Bekämpfung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern, die Bekämpfung der großen Pandemien, der Umweltschutz sowie der Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft stehen dort im Mittelpunkt.
2. Die Landesregierung intensiviert die Zusammenarbeit mit deutschen und internationalen Entwicklungsorganisationen, den kirchlichen Hilfswerken und den Nichtregierungsorganisationen (NGOs).
3. Bonn wird als Sitz der UN und als internationaler Standort profiliert. Der weitere Ausbau wird gemeinsam mit der Stadt Bonn und dem Bund vorangetrieben.
4. Die engere Zusammenarbeit mit Migrantinnen und Migranten aus Entwicklungsländern stärkt ihren Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer und ihre Rolle als Brückenbauer.
5. Nordrhein-Westfalen profiliert sich als Wissenschaftsstandort für Entwicklung und intensiviert die Hochschulkooperation mit Entwicklungsländern.
6. Das Land leistet einen aktiven Beitrag zur UNDekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung".
7. Die Landesregierung strebt eine intensive entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit der Wirtschaft an.
8. Die Kompetenz Nordrhein-Westfalens als Energieland wird genutzt, um Klimaschutz und Ressourcen schonende Energienutzung in den Ländern des Südens voranzubringen.
9. Die Landesregierung unterstützt das bürgerschaftliche Engagement der ehrenamtlichen Eine-Welt-Gruppen, von denen mehr als 3000 im Land aktiv sind.
10. Nordrhein-Westfalen konzentriert die Entwicklungszusammenarbeit auf Subsahara-Afrika und schließt eine neue Länderpartnerschaft mit Ghana.
Mit der Ausrichtung seines entwicklungspolitischen Engagements an den UN-Millenniumszielen verfügt das Land jetzt über einen klaren und politisch überall anerkannten Bezugsrahmen, der anschlussfähig ist an nationale sowie internationale Politikstrategien und Finanzierungsinstrumente. Ebenso konsequent ist die Konzentration der EZ auf eine Weltregion, in der die Verwirklichung der Entwicklungsziele zum gegenwärtigen Zeitpunkt am schwierigsten zu erreichen ist – Subsahara-Afrika. Im Vergleich zu allen anderen Weltregionen macht Subsahara-Afrika die geringsten Fortschritte auf dem Weg, Armut zu bekämpfen und Bildungschancen für alle zu schaffen. Das zeigt nicht zuletzt die von den UN im Juli dieses Jahres vorgestellte Halbzeitbilanz zur Verwirklichung der Millenniumsziele.
Die Landesregierung ist davon überzeugt, dass Afrika mehr partnerschaftliche Unterstützung zur Lösung seiner Probleme braucht. Die Afrika-Reise der Bundeskanzlerin nach Äthiopien, Südafrika und Liberia im vergangenen Oktober hat dies erneut deutlich gemacht. Doch es sind nicht allein humanitäre Ziele, denen sich das Land verpflichtet fühlt. Es liegt auch im europäischen und im deutschen Interesse, unseren Nachbarkontinent stark zu machen. Denn Afrika verfügt über erhebliche ökonomische Potenziale, die aber, von Südafrika einmal abgesehen, noch immer weitgehend brach liegen.
In der wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegen also erhebliche Chancen, auch für kleine und mittlere Unternehmen. Es lohnt sich deshalb, diese dabei zu unterstützen, in Afrika zu investieren, sich an Ausschreibungen zu beteiligen oder Projekte im Rahmen von public-private-partnerships durchzuführen. Besonders erfolgversprechende Investitionsbranchen sind der Klimaschutz und die Ressourcen schonende Energienutzung. Dazu gehören die erneuerbaren Energien ebenso wie eine schonende Nutzung fossiler Brennstoffe. Nicht ohne Grund hat die ghanaische Regierung das Thema Clean Coal Technology für die neue Partnerschaft zwischen Nordrhein-Westfalen und Ghana auf die Agenda gesetzt.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung wird das Instrument der Entwicklungspartnerschaft künftig stärker nutzen. Eine Partnerschaft mit der südafrikanischen Provinz Mpumalanga besteht bereits seit 1995. Sie umfasst insbesondere die Bereiche Gute Regierungsführung, Jugend und Sport sowie Bildung und Gesundheit. Diese Zusammenarbeit wird fortgeführt und im Zuge der der FIFA-Weltmeisterschaft 2010 durch eine neue Schwerpunktsetzung erweitert. Nordrhein-Westfalen unterstützt den WM-Austragungsort Mpumalanga intensiv bei den Vorbereitungen.
Über das wirtschaftsstarke Südafrika hinaus will die Landesregierung auch zu anderen Ländern Subsahara-Afrikas intensivere Beziehungen aufbauen. Vor diesem Hintergrund ist Nordrhein-Westfalen eine offizielle Partnerschaft mit Ghana eingegangen. Mit dem wirtschaftlich und politisch gefestigten Ghana, das mit seiner Stabilität einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der gesamten Region hat, bestehen seit Jahrzehnten enge solidarische Verbindungen. So arbeiten die großen deutschen Entwicklungsorganisationen mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, aber auch das Bistum Münster und mehr als einhundert Vereine, Initiativen, Gemeinden und Stiftungen sowie einige Hochschulen seit vielen Jahren mit ghanaischen Partnern zusammen.
Für die Entscheidung, eine Partnerschaft mit dem westafrikanischen Staat einzugehen, spricht aber noch etwas anderes: In Nordrhein-Westfalen leben rund 4500 Ghanaer und ebenso viele deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die eine ghanaische Zuwanderungsgeschichte haben. Die ghanaische Diaspora, darunter viele hochqualifizierte Fachleute (Ingenieure, Ärzte oder Lehrer), ist gut organisiert und an einer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit interessiert. Die Beträge, die sie an ihre Familien im Herkunftsland überweist, betragen jährlich viele hunderttausend Euro. Außerdem kennt sie die Entwicklungspotenziale und -hemmnisse ihres Landes meist aus eigener Erfahrung.
Viel spricht also dafür, die Kenntnisse der Diasporagemeinden besser zu nutzen. Diesen Ansatz und die Verantwortung der europäischen Regionen für Entwicklungsfragen will auch die Europäische Kommission mit neuen Zielsetzungen und Programmen stärken.
Die Landesregierung will außerdem Bonn als internationalen Standort ausbauen und weiter profilieren. Gegenwärtig sind in Bonn fünfzehn UN-Einrichtungen mit mehr als 600 Beschäftigten angesiedelt, darunter das UN-Sekretariat der Klimarahmenkonvention, das Freiwilligenprogramm der Vereinten Nationen sowie das Europäische Zentrum für Umwelt und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation.
Hinzu kommen zahlreiche internationale NGOs sowie die Deutsche Welle als weltweit agierende Medienanstalt mit einer Belegschaft, der insgesamt 61 Nationalitäten angehören.
Das Land Nordrhein-Westfalen leistet als Gesellschafter beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und bei InWEnt mit einem Betrag von mehr als zwei Millionen Euro einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung der beiden Entwicklungsorganisationen.
Zahlreiche weitere Einrichtungen prägen das internationale Bild der Bundesstadt. Dazu gehören beispielsweise die Deutsche Welthungerhilfe, der Evangelische Entwicklungsdienst oder das Zentrum für Entwicklungsforschung, dessen zehnjähriges Bestehen am 4. Oktober 2007 gefeiert wurde. Insbesondere beim Zukunftsthema Klimaschutz verfügt Bonn über eine beachtliche Konzentration bedeutender Einrichtungen und Organisationen. Auch diese Standortkompetenz will die Landesregierung weiter auszubauen.
Zudem hat Bonn ein besonderes Profil als Austragungsort internationaler Konferenzen. Dieses wollen wir stärken, indem wir Veranstaltungen von UN-Einrichtungen und internationalen Organisationen unterstützen sowie eigene große Veranstaltungen ausrichten. Dazu gehört vor allem die "Bonner Konferenz für Entwicklungspolitik". Sie fand erstmals am 5. und 6. November 2007 im Bonner Post-Tower statt. Die hochkarätig besetzte Tagung stellte den Stand der Umsetzung der UN-Millenniumsziele in den Mittelpunkt. Sie soll künftig alle zwei Jahre stattfinden, um Fachleute aus aller Welt zu wichtigen entwicklungspolitischen Fragen zusammenzubringen.
Im Oktober 2008 richtet das Land die erstmals in Deutschland stattfindende "Metropolis-Konferenz" aus. An dieser internationalen Tagung nehmen rund 1000 Wissenschaftler, Politiker, NGOs, Wirtschaftsunternehmen und internationale Organisationen aus der ganzen Welt teil. Im Mittelpunkt werden die Themen Migration, Integration und Entwicklung stehen.
Die Landesregierung will darüber hinaus ihre Zusammenarbeit mit Entwicklungsorganisationen, Kirchen, Hilfswerken und NGOs intensivieren. In früheren Jahren ist dies leider vernachlässigt worden. Große Hilfswerke etwa wurden ausgeblendet, obwohl viele über ein beachtliches Potenzial an Wissen und Erfahrungen verfügen. Wenn das Land künftig Veranstaltungen oder Projekte plant, wird es gezielt nach Partnern suchen. Bei begrenzten öffentlichen Mittel vergrößern wir so unsere eigenen Möglichkeiten. Aber auch die Partner profitieren.
Erste gemeinsame Initiativen gibt es bereits. Dazu gehören die bereits genannte Bonner Konferenz für Entwicklungspolitik, die das Land zusammen mit dem DIE und VENRO veranstaltet hat, der Eine-Welt-Filmpreis 2007 in Kooperation mit dem Fernsehworkshop Entwicklungspolitik oder die Hilfsaktion der Landesregierung für die Flutopfer in Ghana, die im vergangenen September zusammen mit Misereor durchgeführt wurde. Zu den Partnern der Landesregierung gehört ebenso die große Gruppe der ehrenamtlich Engagierten.
So unterstützt das Land die Bildungsund Informationsarbeit des Eine-Welt-Netzes NRW und der mehr als 3000 Eine-Welt-Gruppen. Außerdem fördert es die Kooperation der Akteure untereinander, ohne ihre Eigenverantwortung und Eigeninitiative als zivilgesellschaftliche Akteure anzutasten – ebenfalls ein wichtiger Bestandteil unserer entwicklungspolitischen Leitlinien.
An neuen entwicklungspolitischen Perspektiven arbeiten künftig auch verstärkt die nordrheinwestfälischen Hochschulen. Im Bereich der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit etwa soll die Brücke zur weltweiten Dekade "Bildung für nachhaltige Entwicklung" geschlagen werden. Der Zusammenhang zwischen Zuwanderung, Integration und Entwicklung wird ein weiteres Schwerpunktthema sein. Wichtiger Partner hierbei ist die Internationale Organisation für Migration, eine in Brüssel angesiedelte, auf dem Gebiet der Migration weltweit führende zwischenstaatliche Hilfsorganisation. Auch die Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten von Frauen sollen erweitert werden. Untersuchungen belegen, dass gerade Frauen in der Diaspora einen enormen Beitrag zur positiven Entwicklung der Herkunftsländer leisten.
All dies zeigt, dass die Entwicklungspolitik in Nordrhein-Westfalen nicht länger ein Randgebiet ist, sondern als ein übergreifendes Politikfeld verstanden wird und immer stärker auf Kooperation setzt. Die neuen Leitlinien verpflichten auch die anderen Ministerien der Landesregierung, sich mit ihren Ressorts in die Entwicklungszusammenarbeit einzubringen.
Darüber hinaus sind die Leitlinien ein Kooperationsangebot an all jene, die sich mit der Landesregierung gemeinsam für eine umfassende Entwicklungspartnerschaft engagieren wollen. Dies gilt für die staatlichen Akteure ebenso wie für die Kirchen, NGOs und die Wirtschaft.
Gewiss, die Entwicklungszusammenarbeit bleibt eine humanitäre Verpflichtung. Doch sie muss mit neuen Ideen bereichert und darf nicht länger als untergeordnetes Politikfeld behandelt werden. Erst so wird sie zu einem noch wirkungsameren Beitrag für eine gerechtere Welt.
aus: der überblick 04/2007, Seite 64
AUTOR(EN):
Armin Laschet
Armin Laschet ist Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration von Nordrhein-Westfalen.