In Westafrika sollen Flüchtlingskinder zu Sex-Diensten genötigt worden sein. Waren Mitarbeiter kirchlicher Werke beteiligt?
Hilfsbedürftige Frauen und Kinder in Westafrika werden nicht selten von Helfern sexuell ausgebeutet. Diese Anschuldigung erhebt eine Untersuchung des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Genannt werden in dem Bericht mehr als 40 Hilfsorganisationen, darunter zwei Mitglieder von "Kirchen helfen gemeinsam" (ACT). Ein Untersuchungsteam von ACT und eines des Lutherischen Weltbundes (LWB) haben indes keine Belege für einzelne Vorwürfe finden können, wohl aber bestätigt, dass Missbrauch in Flüchtlingslagern ein großes Problem ist.
von Rainer Lang
Sexuelle Dienstleistungen gegen Geld sind nichts Neues. Es gehört zum traurigen Alltag rund um den Globus, dass Prostitution für Frauen und Mädchen oft der einzige Weg ist, um zu überleben. Doch neu und schockierend war, dass Mitarbeiter von Hilfsorganisationen an der sexuellen Ausbeutung von Flüchtlingen - unter ihnen vor allem Kindern - beteiligt sein sollen.
Dies ist in einer Untersuchung nachzulesen, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gemeinsam mit dem britischen Hilfswerk Save the Children (SC-UK) in Auftrag gegeben hat. Danach sind sexuelle Ausbeutung von und sexuelle Gewalt gegen Flüchtlingskinder in den drei westafrikanischen Ländern Guinea, Sierra Leone und Liberia weit verbreitet. Mitarbeitern der Vereinten Nationen und von mehr als 40 Hilfsorganisationen wird vorgeworfen, sich an diesen Praktiken beteiligt zu haben. Auf eine kurze Formel gebracht heißt das: Sex gegen Lebensmittel, medizinische Hilfe, Schutz oder Geld.
Der Bericht, dessen explosiver Inhalt Anfang dieses Jahres - drei Monate nach seiner Fertigstellung - den Medien zugespielt wurde, löste bei den Hilfsorganisationen einen Schock aus. Allgemein bekannt war schon zuvor, dass im Gefolge von UN-Friedensmissionen Prostitution und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern stark zunehmen. So ist unbestritten, dass zum Beispiel erst mit den Soldaten der UN-Friedenstruppe Aids nach Kambodscha gekommen ist. Dass nun aber diejenigen, die dazu da sind, den Flüchtlingen zu helfen, an deren Ausbeutung in großem Ausmaß beteiligt sein sollen, löste bei den Verantwortlichen der Hilfswerke Entsetzen aus - nicht nur bei den Organisationen, deren Namen in dem Bericht auftauchen. Darunter sind zwei Mitglieder der globalen Allianz für Katastrophenhilfe "Kirchen helfen gemeinsam" (Action by Churches Together, ACT), die in Liberia und Sierra Leone tätig sind. ACT, die Dachorganisation von rund 200 protestantischen und orthodoxen Kirchen und Hilfswerken mit Sitz in Genf, hat deshalb ein Team in die Region entsandt, um den Vorwürfen nachzugehen. Dem Team gehörte auch eine Mitarbeiterin der Diakonie-Katastrophenhilfe an, die Mitglied des ACT-Verbunds ist.
"Wenn man keine Frau, Schwester oder Tochter hat, die man den Helfern anbieten kann, dann ist es äußerst schwer, an Hilfe heranzukommen", wird ein Flüchtling in Sierra Leone im Bericht vom UNHCR und SC-UK zitiert. Ein zehnjähriger Junge in einem Flüchtlingslager in Guinea erzählt, wie "der große Mann Liebe macht mit dem kleinen Mädchen, das dafür Geld bekommt". Eine Mutter in einem Lager in Sierra Leone wird mit den Worten zitiert: "Wenn die Familie kein Mädchen hat, ist sie in einer schweren Krise." Die meisten der sexuell ausgebeuteten Kinder, vor allem Mädchen, seien 13 bis 18 Jahre alt gewesen, das jüngste jedoch fünf Jahre. Weiter heißt es, dass die Mädchen im Gegenzug oft sehr wenig erhalten hätten, manchmal gerade zehn Cents, womit man nicht einmal eine Mahlzeit kaufen könne, sondern nur eine Handvoll Erdnüsse.
Dem ACT-Team wurde schnell klar, dass es innerhalb von zwei Wochen nicht möglich war, Anschuldigungen, die gegen Helfer oder Hilfsorganisationen erhoben worden waren, nachzuweisen. Zu diesem Ergebnis kam auch das Team, das der Lutherische Weltbund (LWB) - ein Mitglied von ACT, das vor Ort Hilfe leistet und im UNHCR-Report erwähnt wird - entsandt hatte. Die möglichen Opfer stehen unter enormem Druck. Darauf weist UNHCR-Sprecherin Delphine Marie hin: "Nennen die Kinder den Namen ihrer Peiniger, verliert oft die ganze Familie ihr Einkommen." Deshalb geht ein Team des UN-Flüchtlingshilfswerks gegenwärtig den Anschuldigungen in Westafrika nach. Mindestens 40 Fälle von Missbrauch werden verfolgt. Die UN hoffen, dass sich wenigstens die Hälfte der Vorwürfe belegen lassen. Die Ergebnisse werden später veröffentlicht.
Dass es so schwierig ist, die Vorwürfe konkret nachzuweisen, liegt auch an dem von UNHCR und SC-UK veröffentlichten Report und wie das Flüchtlingshilfswerk damit umging. Schwere Kritik hat die langsame Reaktion des UNHCR ausgelöst. Die Täter seien gewarnt und hätten ausreichend Zeit, ihre Opfer zum Schweigen zu zwingen, heißt es. Die Kritiker weisen auch auf methodische Mängel des Untersuchungsberichts hin. Zum Beispiel bleiben alle Interviewpartner anonym. Die Vorwürfe lassen sich nicht mehr zurückverfolgen. Dagegen werden 70 Mitarbeiter von Organisationen namentlich beschuldigt.
Die Liste der kritischen Fragen ist lang: Viele Aussagen im Report sind allgemein und unspezifisch. Alle möglichen Formen sexueller Ausbeutung in der Gesellschaft werden aufgelistet. Dem Report mangelt es an analytischer Schärfe. So wird nicht klar herausgearbeitet, wann Helfer angeblich von sich aus sexuelle Leistungen erpressen oder ob Frauen und Mädchen aus Verzweiflung ihren Körper verkaufen. Beides ist skandalös, aber jede dieser Praktiken erfordert unterschiedliche Gegenmaßnahmen. Die Praxis sexueller Ausbeutung wird vor allem lokalen Mitarbeitern zugeschrieben, ohne plausible Begründung.
Trotz aller Kritik benutzt niemand die Mängel des Berichts, um den Skandal herunterzuspielen. So teilen Hilfsorganisationen die im Bericht genannte Einschätzung, dass "diese Anschuldigungen nur die Spitze eines Eisbergs sein dürften". Die Aussagen der Flüchtlinge liefern ein drastisches Bild - 1500 Mädchen und Jungen hatte das UN-Team im Herbst 2001 in Lagern in Westafrika interviewt. Die Hilfsorganisationen sind sich einig, dass hier eine Null-Toleranz-Politik nötig ist. Die Studie wird als "Weckruf" gewürdigt.
Bei den Treffen des ACT-Teams mit Vertretern von Partnern und Kirchen vor Ort sei die Bestürzung über den UNHCR-Report deutlich zu spüren gewesen, berichtet Callie Long, Sprecherin von ACT und Mitglied des Untersuchungsteams. Die bedrückende Situation in den Lagern sei vielen aus eigener Erfahrung bekannt, wie in Liberia, wo die meisten Vertreter des nationalen Kirchenrats selbst Flüchtlinge waren. Die Kirchenführer beklagen den Zusammenbruch von Moral und Werten in einem Land, in dem Kindersoldaten unter Drogen eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben - sie haben zerstört, geplündert, vergewaltigt und getötet. Auch heute sei Vergewaltigung weit verbreitet.
Ester Musah vom LWB in Liberia zeigte sich erleichtert, dass sie in den vergangenen sieben Jahren niemals von einem Fall gehört hatte, dass ein Helfer für Lebensmittel Sex gefordert hätte. Aber sie habe genauso wie viele andere gewusst, dass Flüchtlinge sowohl von einheimischen Soldaten als auch Angehörigen der UN-Friedenstruppe sexuell ausgebeutet worden seien. Ein Gefühl der Schuld, dass man tatenlos zugesehen hat, haben viele. Die Stuttgarter Pfarrerin Sabine Förster, die für die lutherische Kirche in Liberia arbeitet, ist jetzt Zeugin geworden, wie Frauen in Auffanglagern keine andere Wahl hatten, als Soldaten gefügig zu sein.
Pastor Plezzant Harris bedrängen viele Fragen: Wo liegen die Ursachen für die sexuelle Ausbeutung, die Armut, die unglaubliche Promiskuität, den täglichen Kampf ums Überleben? "Die Besucher saßen schweigend am Tisch. Es waren harte Fragen", erinnert sich Callie Long. Bei der Suche nach Ursachen für den Sexskandal werden die Armut, zu geringe Hilfsrationen, Unkenntnis über Rechtsansprüche auf Hilfe und der Mangel an Privatsphäre genannt.
Westafrika ist ein extremes Beispiel. Die jüngste Geschichte dieser Region macht das deutlich. Im vergangenen Jahrzehnt waren Sierra Leone und Liberia Schauplätze brutaler Bürgerkriege. Hunderttausende von Menschen mussten vor den Kämpfen fliehen und in Lagern leben. Während jetzt in Sierra Leone Frieden herrscht, sind in Liberia wieder Kämpfe aufgeflammt, die zeitweise auch das benachbarte Guinea, das die Rebellen in Liberia unterstützt, erfasst haben.
Das Team von ACT hat Empfehlungen vorgelegt. Zum Beispiel sollten Toiletten von Frauen und Männern räumlich getrennt sein, um Übergriffe zu verhindern. Für Helfer sollten Seminare organisiert und ein Verhaltenskodex formuliert werden - in den bisherigen Standards wird sexuelle Ausbeutung nicht thematisiert.
Besonders Kinder sind ohne Schutz, obwohl die drei westafrikanischen Länder die Konvention für die Rechte von Kindern unterzeichnet haben. Diese Rechte für alle unter 18-Jährigen sind aber in Westafrika, wo das heiratsfähige Alter laut Gesetz zwischen 14 und 16 Jahren liegt, noch realitätsfern. Nach dem Gewohnheitsrecht dürfen Mädchen schon mit zwölf heiraten. Allein das macht es schwierig, Beschuldigte vor Gericht zu bringen. Ohnehin ist das Rechtssystem oft kaum funktionsfähig.
Der Helfer Peter Kamei, ehemals selbst Flüchtling, sagt, er habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschenwürde der Flüchtlinge oft missachtet werde. Ihn bedrückt, dass es sehr wenig internationale Unterstützung gibt. Die ungeheure Armut ist für alle, die die Situation in Westafrika kennen, die eigentliche Wurzel des Übels. Allein die Tatsache, dass Helfer über ein Handy verfügen, verleiht ihnen eine Machtposition.
Cornelia Füllkrug-Weitzel, die Direktorin der Diakonie-Katastrophenhilfe und Mitglied der Leitung von ACT, weist darauf hin, dass das Gros der afrikanischen Frauen und Mädchen über keinerlei wirtschaftliche Macht verfügt. Das "absolute Machtungleichgewicht" begünstige "den sexuellen Missbrauch von Abhängigen in Situationen dramatischer Hilflosigkeit." Sie fordert deshalb entschiedenere Maßnahmen der reichen Länder zur Armutsbekämpfung.
Die Flüchtlinge, die schon alles verloren haben, verlieren noch mehr, wenn jetzt wegen des Skandals auch noch die Spenden zurückgehen. Sie fließen ohnehin schon spärlich genug. Bischof Tilewa Johnson aus Gambia, ein Mitglied des ACT-Teams, ist wütend: Einige Helfer hätten die Lage schamlos ausgenutzt und damit die große Mehrheit der Helfer, die alles in ihren Kräften stehende tut, um Hilfe zu leisten, diskreditiert.
aus: der überblick 02/2002, Seite 121
AUTOR(EN):
Rainer Lang:
Rainer Lang ist Redakteur bei der "Südwest-Presse" in Ulm und von seiner Zeitung freigestellt für die Tätigkeit bei "Action by Churches Together (ACT) International - Kirchen helfen gemeinsam" in Genf. Bei dieser vom Ökumenischen Rat der Kirchen und dem Lutherischen Weltbund gegründeten globalen Allianz für Katastrophenhilfe ist er seit Juni 2000 tätig.