Überlieferte Weisheit - Entwicklungshemmnis, Folklore oder Zukunftshoffnung?
Der peruanisch-spanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa hat den indígenas der Anden vorgeworfen, ihre Traditionsverbundenheit sei das größte Entwicklungshemmnis für das Land. Gleichzeitig werden Folkloretänze als Touristenattraktion vermarktet, wobei der kulturell-religiöse Hintergrund kaum eine Rolle spielt. In den Urwäldern suchen Pharmakonzerne nach Mitteln gegen Krebs und AIDS und greifen auf das Wissen argloser indígenas zurück, die ihre Geheimnisse ausplaudern.
von Klaus Beisswenger
Auch unter den indígenas selbst ist der Umgang mit ihren eigenen Traditionen keineswegs unumstritten. Wenn sie auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstädte kommen, versuchen viele, der Diskriminierung zu entgehen, indem sie ihr Indianersein verstecken und trotz bitterer Armut modische Markenkleidung auf Raten kaufen. Andere bleiben in ihren Dörfern und betreiben Subsistenzwirtschaft wie seit Urzeiten.
Aber den meisten ist klar, dass sie allein mit traditionellem Wissen nicht aus der Misere herauskommen. Wenn irgend möglich, wollen sie ihren Kindern eine gute Schulbildung zukommen lassen. Was sie nicht wollen, ist der Verlust ihrer kulturellen Wurzeln, der sie zum Spielball der auch in Lateinamerika dominierenden westlich-nordamerikanischen "Kultur" machen würde. Aus diesen Überlegungen heraus entstand - mit Unterstützung des Evangelischen Missionswerks in Deutschland - das IETSAY (Instituto de Estudios de las Tradiciones Sagradas de Abia Yala), das Institut zum Studium der heiligen Traditionen Amerikas.
Die Kulturen der indigenen Völker werden hier nicht als festgezimmerte ewige Wahrheiten gesehen, sondern als Prozesse verstanden: Im Laufe von etwa 12.000 Jahren hatten sich in Mexiko, Mittelamerika und den Andenländern die berühmten indianischen Hochkulturen entwickelt. Die Eroberung hat diesen eigenständigen Prozess jäh unterbrochen. Rein und unverfälscht erhaltene indigene Kulturen trifft man deshalb höchstens in den unzugänglichsten Wäldern und Bergen Südamerikas an. In den meisten Fällen findet man Synthesen, Überlagerungen und Neuinterpretationen durch die unterdrückten Gemeinschaften, die ihre Widerstandskraft bewiesen und sich nie völlig vereinnahmen ließen.
Es ist kein Zufall, dass im "Scherentanz" der Quechuas ein europäisches Werkzeug in ein traditionelles Ritual integriert wurde. Vor der katholischen Kirche von Chichicastenango/Guatemala bringen die Mayas ihre traditionellen Räucheropfer dar. In Boruca/Costa Rica wird alljährlich der "Tanz der Teufelchen" zelebriert, bei dem die Geschichte auf den Kopf gestellt wird und indígenas mit grässlichen Masken den spanischen Eroberer besiegen. Solche Beispiele lassen sich in beliebiger Zahl finden.
Wichtig ist, dass die indigenen Völker auf diese Weise adäquate Formen entwickelt haben, um ihr eigenes Wissen und ihre Weisheit trotz aller Verfolgungen von Generation zu Generation weiterzugeben. Genau diese Weitergabe ist heute bedroht! Was in 500 Jahren nicht ausgerottet werden konnte, ist heute in seiner Existenz gefährdet, und zwar durch drei Hauptfaktoren:
Das IETSAY nahm 1993 seine Arbeit in San José/Costa Rica auf. Im Jahr darauf erschien die erste Publikation mit Erzählungen der Kunas aus Panama, die auch auf Deutsch übersetzt wurde. Später hat man beschlossen, nur noch zweisprachige Publikationen zu veröffentlichen: auf Spanisch und in der jeweiligen indigenen Sprache.
Viele indigene Sprachen sind vom Aussterben bedroht und brauchen dringend eine solche Aufwertung. In Costa Rica beispielsweise leben acht indigene Völker, aber nur noch vier sprechen die einheimische Sprache im Alltag. Gerade diesen kleinen und besonders anfälligen Gruppen gilt deshalb das Hauptaugenmerk.
Das Sammeln der Geschichten erfolgt durch die Leute vor Ort. Dafür wird zwischen IETSAY und einer lokalen Autorität eine Vereinbarung unterzeichnet, die garantiert, dass die Erforschung der Traditionen ein Werk von indígenas für indígenas ist - und nicht, wie so oft, ein Forschen von Fremden über indígenas. Die Betroffenen sind also Subjekte und nicht Objekte des ganzen Prozesses. Bei Bedarf werden sie von einer Praktikantin unterstützt, die begleitend und motivierend wirkt. Oft sind es Studentinnen und Studenten, die von Youth for Understanding oder vom Intercultural Youth Exchange an IETSAY vermittelt werden.
Da die Kenner der Geschichten alles im Gedächtnis gespeichert, aber noch nie aufgeschrieben haben, ist eine intensive Begleitung unerlässlich. Regelmäßige Besuche in den Dörfern gehören dazu - auch wenn sie oft beschwerlich sind. Vor allem in der Regenzeit sind manche Gegenden fast unzugänglich. Veränderungen vor Ort - sei es, dass die treibende Kraft familiäre Probleme hat, der Lehrer versetzt wird oder die lokale Autorität wechselt - können das Projekt ebenfalls verzögern.
Sind die Geschichten aufgeschrieben, müssen sie in eine verständliche und lesbare Form gebracht werden. Gedankensprünge und Wiederholungen, wie sie der mündlichen Überlieferung eigen sind, werden behutsam bearbeitet. Begriffe und Zusammenhänge müssen für Außenstehende erklärt werden. Mitarbeiter des IETSAY und die lokalen Beauftragten besprechen, korrigieren und ergänzen das Textmaterial Zeile für Zeile. Am Ende dieser mühseligen, aber lohnenden Arbeit steht ein Text, der von der lokalen Gruppe akzeptiert und zum Druck freigegeben wird. Die Bücher werden an Schulen und lokale Organisationen verteilt.
Die Zusammenarbeit bis hin zur Publikation der Überlieferungen kann Jahre dauern. In dieser Zeit wird IETSAY selbstverständlich mit den verschiedensten Situationen und Problemen der Gemeinschaft konfrontiert. Wenn es sich um Themen wie Produktion, Vermarktung oder soziale Probleme handelt, fungiert IETSAY als Brücke zu Organisationen, die auf diesen Feldern kompetent sind. Nur Angelegenheiten in den Bereichen Kultur und Bildung kann IETSAY selbst aufnehmen. So wurde ein kleiner Stipendienfonds gegründet, um einigen bedürftigen Mädchen die Schulbildung zu ermöglichen. In Guatuso, im Norden von Costa Rica, wurde in Kooperation mit dem costarikanischen Nationalmuseum ein Heimatmuseum errichtet. Im Süden des Landes bauten junge indígenas zusammen mit einer Gruppe aus Stuttgart ein Versammlungshaus mit Palmblattdach.
Nachdem die zweisprachigen Publikationen mit Geschichten der Bribris und der Guaymíes an den Schulen verteilt waren, mussten wir feststellen, dass es damit nicht getan ist. Damit die Bücher sinnvoll eingesetzt werden können, müssen sie in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden. So entstand die Idee, Jugendcamps zu veranstalten, bei denen etwa 25 Jugendliche und einige Lehrer zusammenkommen. Im Austausch zwischen verschiedenen indigenen Gruppen sollen sie sich ihrer eigenen Werte und ihrer kulturellen Identität bewusster werden.
Gleichzeitig lernen die Lehrer für sie oft neue Zugänge und Methoden kennen. Mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer von IETSAY-Programmen geben inzwischen selbst Sprachunterricht. Einige Jugendliche haben sich aktiv bei den drei "Märschen für Land und Autonomie" engagiert, die die Guaymíes seit 1998 veranstalteten: Sie legten 300 Kilometer zu Fuß zurück, um dem Staatspräsidenten ihre Forderungen zu unterbreiten.
Und hiermit kam eine neue Aufgabe auf das IETSAY zu: Ich wurde als deutsche Mitarbeiter gebeten, internationale Unterstützung für die politischen Forderungen der indígenas zu organisieren. Es geht darum, dass die bestehenden Rechte auf Landeigentum und Selbstbestimmung auch in die Praxis umgesetzt werden, denn Costa Rica glänzt auf internationaler Ebene mit Gesetzen, die nur auf dem Papier stehen: Im Durchschnitt ist die Hälfte der Reservatsflächen in der Hand weißer Siedler! In Zusammenarbeit mit Organisationen im Ausland konnte ein Netzwerk gebildet werden, das die Verhandlungsposition der indígenas deutlich stärkte.
Welche Bedeutung haben die indigenen Kosmovisionen und Kulturen für das 21. Jahrhundert? Wir konnten beobachten, dass diejenigen jungen Leute, die sich mit ihrer Abstammung identifizieren und die Überlieferungen ihrer Vorfahren kennen, auch bei politischen und sozialen Inititativen am aktivsten sind. Das Wissen um ihre Traditionen und der Stolz auf ihre Herkunft verleihen ihnen die Kraft, sich für ihre Rechte und ihr Land einzusetzen. Ein Beispiel ist Joél, ein junger Mann vom Volk der Brunkas, der als Hausmeister zum Team des IETSAY kam. Sein Großvater war in Boruca eine angesehene Autorität, seine Mutter ist Lehrerin. Joél machte hier das Abitur, den Führerschein und einen Computerkurs. Ist er jetzt kein indígena mehr? Doch, denn er hat seine Wurzeln: der Stolz auf seine Herkunft und die Kenntnis der Traditionen der Brunkas haben ihn motiviert, sich für die Belange der indigenen Völker einzusetzen, und mit den neuen Kenntnissen kann er dies qualifizierter tun.
Bei den Jugendcamps ist er unersetzlich. Die so entstandenen Beziehungen zu Studenten und Studenten nutzt er, um sich in Fragen der Jugendpolitik einzumischen. Seine Heimat wird durch ein gigantisches Staudammprojekt bedroht, das ein ganzes Reservat überschwemmen soll. Joél bildet eine Brücke zwischen den Betroffenen vor Ort und IETSAY und anderen Organisationen, die sich dafür einsetzen, dass die Betroffenen selbst entscheiden können, ob der Staudamm gebaut wird oder nicht.
Sind die halsstarrigen indígenas also doch ein Entwicklungshemmnis? Nein - denn sie stemmen sich ja nicht pauschal gegen den "Fortschritt". Sie wollen aber auch nicht die Opfer des "Fortschritts" der Anderen sein. Sie fordern vielmehr eine Entwicklung, die den Menschen zugute kommt. Anstatt ein Kraftwerk zu bauen, das Strom von Costa Rica nach Mexiko exportiert und dessen Gewinne kanadischen Investoren zufließen, fordern sie eine Entwicklung, an der sie teilhaben und die ihren Kindern Lebensmöglichkeiten erschließen. Als in Boruca eine Sekundarschule gebaut und mit Computern ausgerüstet wurde, hat die Bevölkerung dies gefeiert. Um die Schule herum wird nach wie vor an Neujahr der "Tanz der Teufelchen" aufgeführt. Die traditionelle Webkunst und das Färben der Stoffe mit Naturmaterialien bleiben eine Einkommensquelle der Frauen.
Kultur ist also ein Prozess, in dem Alt und Neu zusammenkommen, sich vermischen und wiederum Neues entstehen lassen. IETSAY setzt sich dafür ein, dass die Betroffenen selbst diese Mischung bestimmen, kontrollieren und in ihren Gemeinschaften verwirklichen. Dies geht nicht ohne kräftige Wurzeln.
Zum Weiterlesen:
Allgemeiner Kulturrat der Kunas: Lebens- und Leidensgeschichte unseres Volkes, Concordia Reihe Monographien, Band 18, Aachen 1996
aus: der überblick 01/2001, Seite 142
AUTOR(EN):
Klaus Beisswenger :
Klaus Beisswenger ist Mitarbeiter beim Instituto de Estudios de las Tradiciones Sagradas de Abia Yala (IETSAY) in San José, Costa Rica.