Ständige Bedrohung
Kirchliche Schulen haben in Indien eine 300-jährige Tradition. Sie standen und stehen im Spannungsfeld zwischen Bekehrung und Belehrung, zwischen Kirche und Staat. Einher geht die Frage, wer unterrichtet werden soll: Sollen einzelne bekehrt, wenige zu Gemeindehelfern ausgebildet oder allen eine christliche Geisteskultur und Ethik vermittelt werden?
Gewalt und Einschüchterung gegen Schülerinnen beeinträchtigen deren Leistungen im Schulunterricht.
von Renate Wilke-Launer
"Teach, don't touch" (Lehre, aber lass die Finger weg) - das ist einer der Slogans der Kampagne gegen geschlechtsbezogene Gewalt in südafrikanischen Lehranstalten. Professor Kader Asmal, der Erziehungsminister, hat sie am 27. Mai 2002 in Pretoria eröffnet. Zuvor hatten Berichte über sexuelle Übergriffe an südafrikanischen Schulen immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Dabei war keineswegs immer der Lehrer der Täter, oft war es ein oder waren es mehrere Schüler - selbst noch Kinder.
Dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern Mädchen und - wenn auch in geringerem Ausmaß - Jungen an vielen Schulen sexueller Gewalt ausgesetzt sind, belegen verschiedene Untersuchungen. Eine groß angelegte Studie von "CIETafrica" (Community Information, Empowerment and Transparency) im Raum Johannesburg hat ergeben, dass jedes dritte Schulmädchen sexuell belästigt worden war. Während die Mädchen die ständige Bedrohung beklagten, ergab die Befragung der Jungen, dass sie Gewalt gegen Mädchen für ihr gutes Recht halten beziehungsweise Vergnügen daran finden. Ein Viertel der befragten Jungen sagte, dass jackrolling (Gruppenvergewaltigung als eine Art Freizeitbeschäftigung, vgl. "der überblick" 2/93) Spaß mache. Wenn ein Mädchen "nein" sage, so mehr als die Hälfte der Befragten, dann sage es eigentlich "ja".
Ebenfalls im Jahr 2000 präsentierte der Medical Research Council (MRC) des Landes eine Untersuchung über Vergewaltigung von Kindern. Dabei kam auch heraus, dass Lehrer die größte Tätergruppe stellen. Ein Drittel der befragten Opfer im Alter von 10 bis 14 Jahren wurde von Lehrern vergewaltigt. Die Forschungsgruppenleiterin Dr. Rachel Jewkes sagte dazu, dass sie über diesen Tatbestand sehr schockiert gewesen sei, dass aber mit dem Erziehungswesen Vertraute überhaupt nicht überrascht gewesen wären.
Eine weitere, diesmal nationale Befragung von CIETafrica im Februar 2002 ergab, dass der sexuelle Missbrauch von Schülern Mädchen wie Jungen weiter ansteigt. Bei der anschließenden Diskussion der Ergebnisse mit Gruppen von Schulkindern gaben viele offen zu, mit anderen Kindern gegen deren Willen Sex gehabt zu haben. Neil Andersson, der Direktor von CIET in Südafrika schloss daraus, dass Vergewaltigung von Kindern durch Kinder dabei sei, zum festen Bestandteil der Kultur sexueller Gewalt in Südafrika zu werden: Die Kinder glauben, dass sie auf dem Gebiet etwas vorweisen müssen, wenn sie im Leben Erfolg haben wollen. Mädchen zwischen 10 und 14 hätten sich offen dazu bekannt, bei anderen Kindern gegen deren Willen sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben. "Sie haben herbe Ansichten über Sex, ähnlich denen von erwachsenen Männern", so Andersson.
Für viele Kinder in Südafrika sind Schulen offenbar kein sicherer Hort des Lernens, sondern ein Ort der Gewalt und der Bedrohung. Was das für die Mädchen bedeutet, hat Human Rights Watch im März 2001 in einem ausführlichen Bericht beschrieben (Scared at School. Sexual Violence Against Girls in South African Schools). Sexuelle Gewalt , so das Ergebnis, ist keineswegs nur ein Problem von Schulen mit schlechter Ausstattung. Sexuelle Gewalt durchdringt das gesamte südafrikanische Bildungssystem ... Sexuelle Übergriffe gibt es in angesehenen, überwiegend weißen Schulen, in armseligen, überwiegend schwarzen Township-Schulen, in Schulen für Lernbehinderte und sogar in Grundschulen. Auch eine privilegierte Umgebung schützt Mädchen nicht vor sexueller Gewalt, während Armut sie Übergriffen gegenüber noch verletzlicher machen kann.
Südafrikanische Mädchen sind verschiedenen Arten von sexueller Gewalt ausgesetzt: das reicht von Vergewaltigung über sexuelle Übergriffe, anzügliche Berührungen und Bemerkungen bis hin zu emotionaler Misshandlung. Täter sind Mitschüler, Lehrer, Schulangestellte und Männer, die ihnen auf dem Schulweg auflauern. Nicht alle sexuellen Beziehungen zwischen Lehrern und Schülerinnen sind allerdings von physischer oder psychischer Gewalt geprägt; auch das macht die Studie an einzelnen Beispielen deutlich. Manches Mädchen lässt sich freiwillig auf ein Verhältnis ein. Sind die Eltern arm, unterstützen sie in einzelnen Fällen eine solche Beziehung, schließlich hat der Lehrer oder der Mann, der das Mädchen zur Schule fährt, Arbeit und Geld.
Häufiger als von den Lehrern werden die Mädchen von ihren Mitschülern belästigt und angegriffen. In der Regel sind es mehrere, die gemeinsam vorgehen. Alle interviewten Schülerinnen gaben zu Protokoll, dass sie von zwei oder mehr Jungen attackiert worden waren. Human Rights Watch berichtet von Mädchen, die in Schultoiletten, in leeren Klassenräumen und auf Gängen, in Unterkünften und Schlafsälen und in anderen no go-Zonen des Schulgeländes sowie auf Ausflügen angegriffen wurden. Die Jungen setzen sexuelle Gewalt ganz gezielt ein, um die Mädchen unterwürfig zu machen oder Aufmüpfige zu bestrafen: Aussehen, Kleidung, Bewegungen, Aktivitäten aller Art können sie so bestimmen oder einschränken.
Vertrauen sich die Schülerinnen jemand an, finden sie keineswegs immer Unterstützung, weil die Schulverantwortlichen die Sache herunterspielen oder gar als erfunden abtun. Manch ein Direktor oder Lehrer will sich auf die Sache nicht einlassen, will keine Unruhe, keine Polizei auf dem Gelände und kein Gerichtsverfahren angestrengt sehen. Und oft genug wird auch nichts oder nicht genügend getan, um den Mädchen die weitere Präsenz des Täters zu ersparen.
Die Folgen von Anmache, Übergriffen und brutaler Gewalt sind gravierend. Human Rights Watch beschreibt schon das Wissen darum und die Angst davor als Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Wahlmöglichkeiten. Sexuelle Gewalt hat auch für den Schulerfolg erhebliche Konsequenzen: Einschüchterung, geringe Beteiligung im Unterricht, Isolation, geringes Selbstwertgefühl und kaum Selbstvertrauen, Nichtteilnahme an bestimmten Aktivitäten oder erzwungener Wechsel an eine andere Schule oder Schulabbruch, insbesondere bei Schwangerschaft. Manchmal werden die Mädchen - entgegen den gesetzlichen Bestimmungen - sogar von der Schule verwiesen.
Nicht nur mit Gesetzen, auch mit Disziplinarverfahren, Aufklärung und Kampagnen aller Art versuchen Regierung, Behörden, Verbände und viele engagierte Einzelpersonen etwas gegen die sexuelle Gewalt in den Schulen zu unternehmen. Auch deshalb, so Human Rights Watch, habe man Südafrika für diese Studie ausgesucht. Selbst für Mädchen, denen man einzureden versucht, dass die sexuelle Gewalt etwas mit Zuneigung zu tun hat, hat man am Ostkap einen Slogan gefunden: If it hurtsit is not love (Wenn es wehtut, handelt es sich nicht um Liebe).
aus: der überblick 04/2002, Seite 19
AUTOR(EN):
Renate Wilke-Launer :
Renate Wilke-Launer ist Chefredakteurin des überblicks.