Ökumenischer Studienprozess zu Christentum, Armut und Reichtum
"Wo stehen die Kirchen?" fragten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz "Christianity, Poverty and Wealth", die vom 13. bis 19. November 2000 in Neu-Delhi tagte. Wo stehen die Kirchen aus der Sicht von mehr als fünfzig Vertretern von protestantischen und orthodoxen lokalen Kirchen, Hilfswerken und kirchennahen Nichtregierungsorganisationen, um an der Schwelle zum 21. Jahrhundert das Engagement gegen Armut und Ausgrenzung zu verstärken?
von Jürgen Reichel
Viel Arbeit lag hinter den meisten Konferenzteilnehmern. Symbolisch für das 21. Jahrhundert waren seit 1999 in 21 Ländern Studien erstellt worden. 21-mal breitet sich ein Teppich von Erfahrungen aus, haben Gruppen die soziale Lage ihrer Landsleute diskutiert und beschrieben. 21-mal können wir nachlesen, ob und wie die Kirchen dazu beitragen, den Kampf gegen Armut zu führen. Jede der Studien begründet das soziale Engagement der Kirchen biblisch-theologisch. Die Autorengruppen haben Empfehlungen an lokale und nationale Kirchen, nationale und internationale Politik, die kirchliche und die staatliche Nord-Süd-Zusammenarbeit formuliert. Die Konferenz in Neu-Delhi hat eine Auswertung der Studien vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis: Protestantische und orthodoxe Kirchen bleiben politisch weit hinter ihren Möglichkeiten.
Dabei ist die Ausgangssituation der Kirchen nicht schlecht. In sehr vielen Ländern hat die Jubilee-2000-Kampagne Widerhall gefunden. Ein zentrales biblisches Thema hat die Öffentlichkeit politisch mobilisiert: die wirtschaftliche und soziale Befreiung von Menschen und Gesellschaften aus knechtenden Bedingungen zu neuem Anfang. "Ihr sollt eine Freilassung im 50. Jahr ausrufen für alle... Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen", wird den Israeliten im 3. Buch Mose aufgetragen. Jesus fasst seine Sendung so auf, dass Gott diese handfeste Befreiung zum Neuanfang mit ihm durchsetzt: "Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen,... zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn" (Lukas 4,18f).
Die meisten Studien fordern die Kirchen dazu auf, im "Geist der Freilassung" gesellschaftlich aktiv zu werden, so die Fallstudie Bangladesch: "Im neuen Jahrtausend sollten Christen und Kirchen sich überall in der Welt bemühen, den Geist der Freilassung auf allen Ebenen zur Geltung bringen. Sie helfen so dazu, zu Gleichheit und vergleichbaren Möglichkeiten für alle Menschen einer Gesellschaft zu finden."
Kleine Minderheitskirchen wie die in Bangladesch oder solche, die als gesellschaftliche Kraft in Kolumbien, Südafrika oder Korea anerkannt sind, stimmen theologisch überein: Der Einsatz gegen Armut und Ungerechtigkeit gehört zum Kern der Frohen Botschaft und der Mission der Kirche.
Die Studien feiern aber bemerkenswerterweise keine Erfolgsgeschichte christlicher Kirchen im Einsatz für Gerechtigkeit. Vielmehr "entsteht ein lebendiges Bild von Leiden und Kampf, aber auch von Hoffnung und Kraft in aller Verschiedenheit. Studie für Studie zeigt, dass die Kirchen oft stumm bleiben, während von einigen wenigen Privilegierten exzessiver Reichtum angesammelt wird und die verwundbarsten Bevölkerungsschichten an den Rand gedrängt werden", fasst Rob van Drimmelen, der Generalsekretär von APRODEV, dem Zusammenschluss protestantischer Hilfswerke in Europa, die Ergebnisse der Konferenz zusammen.
Dieses Resümee - kirchliches Engagement gegen Armut, aber Stummheit gegenüber Reichtum - spießt die entscheidende Kehrtwendung der Konferenz auf. Der bloße Kampf gegen Armut greift zu kurz. Es ist zu wenig, sich mit der Situation der Armen zu beschäftigen und Armutsbekämpfungsstrategien zu entwickeln. Die Studien analysieren, welche Bevölkerungsgruppen von sozialer Entwicklung ausgeschlossen bleiben. Sie können überzeugend Zusammenhänge zwischen globalen Finanz-, Wirtschafts- und Handelsströmen und lokalen Ausgrenzungserfahrungen herstellen. So handeln die Kirchen: Sie entwickeln diakonische Arbeitsfelder als Antwort auf soziale Nöte und Bedürfnisse. Das alles ließe sich mit großen Kraftanstrengungen intensivieren: noch bessere Analysen, noch bessere Mobilisierung kirchlicher Mittel, noch zielgerichtetere Programme, noch intensivere Unterstützung durch Hilfsmittel aus dem Norden.
Ausgeblendet bleibt die Herausforderung an die vermögenden Gruppen der Gesellschaft, im Norden wie im Süden. "Was ist denn seit 1990 neu?", wurde in der Konferenz gefragt, "was hat sich geändert, wenn es nicht die Lage der Armen ist?" Die Antwort ist prompt gekommen: Globalisierung hat das Menschenbild in vielen Gesellschaften gewandelt. Neu ist eine enthemmte Kultur der Gier. Menschen werden als Einzelwesen definiert, deren Zielbestimmung darin liegt, Besitz zu erwerben. Es ist zunehmend gesellschaftlich akzeptiert, dass Menschen schnell sehr reich werden und dass es immer mehr Menschen mit exzessivem Reichtum gibt.
Beiträge während der Konferenz aus Entwicklungsländern wie aus Industriestaaten mit ausgebauten Wohlfahrtssystemen beziehungsweise anderen Typen von sozialer Marktwirtschaft (Dänemark, Finnland, Norwegen, Deutschland) haben übereinstimmend ausgesagt: Der entscheidende Wandel der 90er-Jahre ist die Entsolidarsierung der Gesellschaft gewesen. Junge Menschen wachsen heute mit der prägenden Vorstellung auf, dass es nicht nur anerkannt, sondern sogar von ihnen gefordert wird, schnell viel Geld zu machen. Religiös fundierte Gemeinschaftswerte, die in verschiedenen Kulturen gegolten haben, werden ausgehebelt, indem Gier als treibende Kraft belohnt wird.
Eine indígena in der Chile-Studie beschreibt das so: "Als Mapuche-Frau frage ich mich oft, was technische Fortschritte sein sollen. Vielleicht sind sie auch gut, aber es gibt auch den Verlust von Werten, den Verlust der Identität. In meinem Volk werden uns wichtige Werte vermittelt, die wir achten und die ich an meine Familie weitergeben möchte. Aber in einer Gesellschaft, die uns beibringt, wie wir gegeneinander zu konkurrieren haben und wie wir vortäuschen sollen, etwas Anderes zu sein als wir sind, geht unsere Identität verloren."
"Es gibt noch verschiedene Gebiete des menschlichen Lebens, die als Nester gegen die Herrschaft der Geldkultur Widerstand leisten", schreibt die namibische Studie. "Eines dieser Widerstandsnester ist die Religion". Gemeinhin wird seit den 90er-Jahren unter "Reichtum" ausschließlicher materieller Besitz verstanden. Reichtum, so die Konferenz, ist aber vielfältiger. Biblisch umfasst Reichtum auch geistliche, soziale und kulturelle Güter. Reichtum als ethische Kategorie ist Gabe und ruft nach Verantwortlichkeit, nach Dank, nach "Verzehntung", Teilen.
Wenn Kirchen über Armutsbekämpfung nachdenken, haben sie gleichzeitig zu fragen, wie Reichtum geteilt werden kann. Sie müssen nicht nur Armut analysieren, sondern auch Reichtum beschreiben, ebenso Erfahrungen damit, wie die verschiedenen Formen von Reichtum geteilt werden, austauschen. So wie sie Armutsberichte vorlegen, müssen sie Reichtumsberichte erstellen. Sie haben Aufmerksamkeit darauf zu richten, wo Reichtum gesammelt wird, und welche Mechanismen gesamtgesellschaftlicher Solidarität zu empfehlen sind.
Tatsächlich haben die Länderstudien darauf sehr wenig Aufmerksamkeit verwandt. Sie holen Armut aus der Anonymität, indem sie Gruppen von Benachteiligten und Ausgegrenzten sichtbar machen. Die Studien versuchen aber meist nicht einmal ansatzweise, über Reichtum, insbesondere exzessiven Reichtum, Aufschluss zu geben. Dabei hatte das Thema "Christianity, Poverty and Wealth" beides eingeschlossen. Die Schere im Kopf hat aber gut funktioniert: Reichtum ist tabu. "Weder die Studien noch die Konferenz sind sehr weit damit gekommen, über Reichtum nachzudenken, außer dass klar erkannt worden ist, dass es viel deutlicher hätte geschehen müssen", stellt das Abschlusspapier der Konferenz fest.
Für die Zukunft wird unter anderem vorgeschlagen, die Auseinandersetzung mit exzessivem Reichtum und Armut von nun an zu verschränken. Den Globalisierungsbefürwortern wird gesagt: "Eine Kultur, in der Gier und die übermäßige Anhäufung von Besitztümern als normal und legitim betrachtet werden, muss durch alternative Werte ersetzt werden: Selbstbeschränkung, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, eine Kultur des Gebens. Es bedarf eines gesamtheitlichen Begriffs von Reichtum, der spirituelle, kulturelle und soziale Dimensionen mit einschließt."
Als ökumenisches Projekt wird ein zweijähriger Armuts- und Reichtumsbericht der Kirchen vorgeschlagen. Die Länderstudien bieten so viel Material, dass aus ihnen ein Pilotbericht erstellt werden kann. Der Bericht soll einen Wohlstandsindex beziehungsweise Ziele für menschliche Entwicklung enthalten, "die unsere Vision, dass alle Menschen Leben in Fülle haben, widerspiegelt".
Ein solcher Bericht kann die Kompetenz von Kirchen in den Fragen von Armut und Reichtum widerspiegeln und auf den lokalen Erfahrungen aufbauen. Er würde ein regelmäßiges und aktuelles Referenzdokument der Lobby- und Advocacy-Arbeit sein, die sich auf internationaler Ebene immer stärker vernetzt.
Unter Beteiligung des Ökumenischen Rates der Kirchen ist im Dezember 2000 die Ecumenical Advocacy Alliance gebildet worden. Viele Kirchen im Süden haben sehr darauf gewartet, dass die ökumenische Zusammenarbeit an Themen wie Menschenrechten, sozialer Entwicklung oder Internationalem Handel politische Prägnanz gewinnt. "Wir verstehen ökumenische Anwaltschaft als eine spezifische Form des Zeugnisses zu politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Themen", erklärt die Alliance, "um Politik, Regierungspraktiken, internationale Institutionen und den privaten Sektor dahingehend zu beeinflussen, dass eine gerechtere, friedlichere und Welt entsteht." Fairer Welthandel, insbesondere in Auseinandersetzung mit der WTO, und "Ethik des Lebens unter besonderer Berücksichtigung von HIV/AIDS" sind die Arbeitsschwerpunkte der kommenden drei Jahre.
Der Lutherische Weltbund wird sich bei seiner Vollversammlung 2003 in Winnipeg/Kanada schwerpunktmäßig mit Globalisierung befassen. Wichtige Ergebnisse von "Christianity, Poverty and Wealth" sind vom LWB für einen Diskussionsprozess, der vor dem Treffen in seinen Mitgliedskirchen stattfinden soll, aufgenommen worden. Nicht zuletzt die Frage der Sozialpflichtigkeit von Eigentum wird dann als Anfrage an die ökonomische Globalisierung neu diskutiert werden. Martin Luther hat dazu im Großen Katechismus in der Auslegung zum 7. Gebot zu sagen: "Jeder missbraucht den Markt nach seinem Mutwillen und ist dazu auch noch trotzig und stolz, als hätte er die Befugnis und das gute Recht dazu, das Seine so teuer herzugeben als es ihn gelüstet und als dürfe ihm niemand dreinreden."
Hinweis:
Die Studien sind ins Internet gestellt und unter
www.noedhjaelp.dk/usr/noedhjaelp/poverty.nsf zu finden.
aus: der überblick 01/2001, Seite 147
AUTOR(EN):
Jürgen Reichel :
Jürgen Reichel ist Referatsleiter für Entwicklungspolitischen Dialog im Inlandsressort des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED).