Eindrücke von der Vollversammlung des Lateinamerikanischen Kirchenrates
Kein Lüftchen geht im Versammlungszelt. Gottesdienstzettel, Liederhefter oder Fächer - was immer dazu dienen kann, sich Luft zuzufächeln, wird zu Hilfe genommen. Aus dem Dunkel des Spätabends treibt allerlei fliegendes Getier hinein, es wird von Scheinwerfern gnadenlos aufgesogen. Die Grillen in den Gärten haben es da besser. Wenn die Menschen im Abschlussgottesdienst der Vollversammlung schweigend beten, ist deren durchdringender Gesang zu hören.
von Christoph Anders
Drinnen wird der Entstehung der Pfingstbewegung vor 100 Jahren gedacht. Ein Pfingst-Pfarrer ist erfüllt von Dankbarkeit: Für die Ausbreitung seiner Bewegung, die Erneuerungen im Leben der Kirchen des weltweiten Christentums. Früchte, die durch das vollmächtige Wirken des Geistes erkennbar geworden seien. Aber noch gebe es Länder auf der Erde, die diese Erfahrungen nicht hätten, wo Werte verfielen, Gott nicht geehrt werde. Deshalb ruft er zum Kreuzzug für Christus auf, zum Aufbruch in all die Länder, die von der Kraft des Geistes Jesu nichts wüssten oder sie leugneten. Ob auch die Kirchen in Deutschland gemeint sind? Immerhin sind Hunderte von Missionaren aus Lateinamerika bereits in Europa tätig und viele bereiten sich voller Sendungsbewusstsein auf eine geistliche Reconquista des alten Kontinentes vor. Freundlicher Applaus der Gemeinde.
Direkt danach in der Predigt das Kontrastprogramm: Rev. Salvador Dellutri, ein früherer Leiter der argentinischen Bibelgesellschaft zieht gegen Show-Gottesdienste, falschen Enthusiasmus und Wohlstandstheologie zu Felde, verweist auf die Mühen der Nachfolge und auf die strenge Bindung an die Heilige Schrift als das einzige Fundament des Glaubens. Dieser dürfe nicht zur Ware werden; steigende Mitgliederzahlen bei anderen sollten all jene nicht verwirren, die standhaft blieben. Wie Daniel und seine Freunde, die damals in Babylon ihre Knie nicht beugten vor der goldenen Statue. Nicht zurückweichen ist also das Gebot der Stunde. Ebenfalls freundlicher Applaus.
Deutlicher hätte die Bandbreite theologischer Positionen und damit verbundener kirchlicher Praxis kaum artikuliert werden können. Versöhnte Verschiedenheit hört sich eigentlich anders an. "Kein Problem", beruhigen kontextualisierte Gottesdienstteilnehmer: Klare Ansagen gehören offenbar zum ökumenischen Geschäft in Lateinamerika.
Vollversammlungen sind immer auch Standortbestimmungen. Die des Lateinamerikanischen Kirchenrates (CLAI) finden alle sechs Jahre statt, zuletzt 2001 in kolumbianischen Barranquilla. Der Kirchenrat des riesigen Kontinents ist in fünf Regionen gegliedert: Anden, Karibik und Groß-Kolumbien, Mittelamerika, Brasilien und die dieses Mal gastgebende Rio de la Plata-Region. Etwa fünfhundert Delegierte aus den rund 180 Mitgliedskirchen und -organisationen des CLAI sind für fünf Tage zusammengekommen. Sie repräsentieren damit ungefähr 10 Prozent der vielfältigen evangelischen Kirchenlandschaft in Lateinamerika. Getagt wird im weitläufigen methodistischen Colegio Ward, malerisch in einem der besseren Viertel am Rand der von Buenos Aires - übersetzt gute Winde - gelegen. Dort wo der riesige Rio de la Plata (Silberfluss) sich in den Atlantik ergießt.
Ein Treffen mit umfassenden theologischen Debatten sollte es werden - und war es auch. Nach den morgendlichen, überaus inspirierenden Bibelarbeiten stellte am Vormittag jeweils eine Region die Ergebnisse von umfassenden Konsultationsprozessen zu spezifischen Themen vor. "Dienste, Charisma und Macht", "Das Recht auf ein Leben in Fülle", "Spiritualitäten und Identitäten", "Die Kirche und die ethischen Herausforderungen" und schließlich "Mission und Evangelisation". Es folgten jeweils zwei kommentierende Statements und meist sehr kurze Reaktionen aus dem Plenum, bevor es dann in regionale Arbeitsgruppen ging. Gleich nach dem Mittagessen begannen die Geschäftssitzungen, manchmal unterbrochen von Treffen in regionalen oder konfessionellen Gruppen. Darin Arbeitsberichte, Bilanzen der Finanzen und eine überaus komplizierte Wahlprozedur für den neuen Vorstand. Nach der Abendandacht, einem meist an Mensa-Zeiten erinnernden Abendessen und allemal nicht vor zwanzig Uhr wurden die Teilnehmenden mit Bussen in Hotels oder andere Unterkünfte gebracht.
Bereits das Thema des Treffens war programmatisch: "Die Gnade Gottes rechtfertigt uns, sein Geist befreit uns zum Leben" - ein Motto, das aus dem Brief des Paulus an die Römer 5,21 entwickelt wurde. Die ausdrückliche Betonung der rechtfertigenden Gnade Gottes entspringt dabei weniger einer grundsätzlichen Besinnung auf die eigenen kirchlichen Wurzeln. Sie darf vielmehr als Kampfansage gehört werden. Gegen eine Strömung, die als Teologia de la prosperidad also als "Theologie des Wohlergehens" benannt und kritisiert wird. Diese als häretisch und verführerisch betrachtete Haltung wird vor allem bei den neu-pfingstlerischen Fernsehkirchen und charismatischen Gruppen diagnostiziert.
Die aus Brasilien sich ausbreitende Igreja Universal do Reino de Deus gilt als Hort dieses Denkens. In einem Tagungsdokument aus Brasilien heißt es dazu in deutlicher Abgrenzung: "So entwickelt man die Idee, dass Reichtum ein erreichter (gekaufter) Segen und Armut eine durch das Individuum erlangter (geerbter) Fluch darstellen. Ohne dabei das Teuflische anzuklagen, welches die Einbeziehung von Wenigen (Segen) und der Ausschluss von Millionen (Fluch) darstellt. Man betont nicht die Gnade - Grundlosigkeit der Liebe Gottes in Christus - sondern man glaubt der Illusion, dass Segen erreicht werden kann durch die Vermittlung des religiösen Führers und durch den spontanen finanziellen Beitrag für die Kirche. So kommt es zur quantifizierenden Objektivierung der Liebe Gottes statt zu Bekehrung und Rettung. So entsteht der Konsum des Heiligen anstatt das Evangelium zu leben und eine Verpflichtung mit dem Reich Gottes einzugehen. So wird Segen zum erlangten Eigentum und nicht länger zur Gnade als einer liebenswürdigen Tat Gottes".
Diese offenbar zentrale Frontstellung zog sich durch Debatten und Erklärungen: Gegen die direkte und offenbar anziehende Verbindung von Segen und materiellem Wohlergehen wurden die Bedeutung des Kreuzes, der Unverfügbarkeit der rechtfertigenden Gnade Gottes und deren Konsequenzen für die Jesus-Nachfolge unterstrichen. Häufig ging es dabei auch um weitere wichtig bleibende Begriffe der kirchlich-theologischen Debatten: Der handelnde Geist Gottes, die vielfältig befreienden Dimensionen von Glaube, Theologie und kirchlicher Praxis, schließlich die Betonung des "Lebens" - gegen alle ausschließenden und zerstörenden Wirkungen politischer und wirtschaftlicher Systeme.
Etwa zur Halbzeit der Vollversammlung wurde auch ein neuer Präsident gewählt: Bischof Julio Murray Thompson ist Nachkomme afrikanischer Vorfahren, die von Barbados und Jamaika nach Panama gekommen waren. Damit bekleidet nun erstmalig ein Schwarzer diesen Posten. Wie sein Vorgänger gehört auch er einer anglikanisch-episkopalen Kirche an. Für nicht wenige war seine Wahl eine Überraschung, hatten sie doch eher mit einem Erfolg des Gegenkandidaten, des langjährigen CLAI-Generalsekretärs Felipe Adolf gerechnet. Thompson ist ganz offensichtlich ein Mann der Kirche, bewegender Prediger mit jugendlichem Auftreten und überzeugenden kommunikativen Gaben. So symbolisiert er für einige Delegierte den Aufbruch in eine neue Zeit.
In Gesprächen nach seiner Wahl formulierte er die anstehenden Aufgaben: "Wie der CLAI so müssen auch wir als Kirchen ( ) eine konstante Lektüre und Relektüre der gegenwärtigen Konjunktur im Horizont des Wortes Gottes durchführen. Wir leben in Prozessen der Demokratisierung aber wir fragen uns, warum es - anstatt das Leben zu verkünden und voranzubringen - immer noch nicht gelingt, mit konkreten Maßnahmen an der Basis anzukommen." Er kennt keine Scheu vor deutlichen Antworten, benennt Ross und Reiter, verbindet pastorale und prophetische Sprache. Viele Einzelthemen stehen auf seiner Tagesordnung, aber im Zentrum geht es ihm darum: "Wir wollen die Kirchen begleiten, um sie dabei zu unterstützen, bessere Interpreten der sozialen Lage zu sein, in der wir leben. So sollen sie zugleich vom Evangelium her zu Protagonisten werden von Zeugnissen, die das Leben voranbringen". Da geraten Gemeinden in den Blick, als Orte "friedlicher Konvivenz, wo es Partizipation, und Einbeziehung gibt und wo wir, vom Wort Gottes ausgehend einen Platz bieten für Gastfreundschaft, Respekt und Anerkennung." Nicht zufällig gehört er zu denen, die in der vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ausgerufenen "Dekade zur Überwindung der Gewalt" eine wichtige Aufgabe der weltweiten Christenheit sehen.
Bischof Murray wird mit dem Vorstand nun zum wichtigen Gegenüber für den Generalsekretär Israel Batista aus Kuba. Er stand nicht zur Wahl und dennoch gab es in einzelnen Regionen engagierte Debatten über Form und Inhalt der Leitung des CLAI. Im Hintergrund haben wohl auch Fragen nach der inhaltlichen Ausrichtung eine Rolle gespielt: Soll im CLAI und den ihn tragenden Kirchen eine stärkere Öffnung gegenüber charismatisch-pfingstlichen Gruppierungen und Kirchen vorangebracht werden? Oder besteht die wichtigere Aufgabe darin, das eigene historisch-protestantische Profil zu stärken? Für Juan Abelado Schvindt, wiedergewähltes Mitglied des CLAI-Vorstandes und Generalsekretär der La Plata Kirche, gehört es jedenfalls zu den entscheidenden Aufgaben der Zukunft, zwischen katholischen und charismatischen Einflüssen protestantische Identität neu zu definieren. Die politischen Veränderungen in einigen lateinamerikanischen Ländern, hierzulande gern als Linksruck tituliert, spielte in den Debatten keine wichtige Rolle. Dies überrascht, versteht sich doch der CLAI seit seiner Gründung vor etwa drei Jahrzehnten als Repräsentant einer stark gesellschaftspolitischen orientierten Strömung der Kirchen in Lateinamerika. Im Kampf gegen Militärdiktaturen und die katastrophalen Folgen neoliberaler Globalisierung ist er mit prophetischer Kritik deutlich zu hören gewesen. Ob die Zurückhaltung daran gelegen hat, dass viele Frauen und Männer aufgrund ernüchternder Erfahrungen in der Vergangenheit vorsichtig geworden sind gegenüber vorschnellen Aufbruchstimmungen?
In der Abschlusserklärung der Konferenz sind dann aber doch - fast poetisch klingende - Richtungsangaben versammelt: "Mit Freude und Hoffnung feiern wir die neuen Zeichen, die es in Venezuela, Nikaragua, Bolivien, Ecuador und Chile gibt. Dort werden Anstrengungen unternommen, um die Würde der am stärksten Benachteiligten zu stärken, durch konkrete Aktionen für eine integrale Entwicklung unserer Gesellschaften. Ausgehend von biblisch-theologischen Einsichten spüren wir das Fließen der Gnade und den Geist, der uns zum Leben befreit. Er hat uns dazu geführt, gemeinsam durchzuatmen und erwartungsvoll Atem zu holen im Kontext neuer Winde und frischer Luft für das Zusammenwachsen der Völker unseres indo-afro-latinoamerikanischen Kontinents".
Trotz solcher Hoffnungszeichen ist die Kraft des "Imperiums" offenbar ungebrochen. Die umfassende Macht der Agenten der neoliberalen Globalisierung mit ihren desaströsen Folgen für die verarmten, ausgeschlossenen Massen auf dem gesamten Sub-Kontinent wird in verschiedenen Tagungsdokumenten und der Abschlusserklärung nachdrücklich beklagt. Der Kampf gegen die illegitimen Auslandsschulden steht weiterhin auf der Tagesordnung. In Aufnahme der eher schwierigen Globalisierungsdebatte auf der Vollversammlung des ÖRK, abgehalten vor einem Jahr im - fast benachbarten - brasilianischen Porto Alegre, wurden Grenzen des Verstehens geltend gemacht gegenüber den anwesenden Geschwistern aus den Kirchen des Nordens. Aus der Perspektive der armen Massen in Lateinamerika bestehe wahrlich kein Anlass, sich auf eine andernorts häufig zu hörende differenzierte Betrachtungsweise der Globalisierungsfolgen einzulassen. Entsprechende Gruppen warben für ihre politischen Anliegen unter anderem mit dem Motto: "CLAI Lasst uns 'Nein' sagen zum Völkermord der Auslandsschulden." Man darf wirklich gespannt sein, wo die ökumenischen Foren aufgebaut werden, um diese wichtige Debatte zwischen Vertretern der Kirchen in Süd und Nord in konstruktive Bahnen zu lenken.
Deutlich kritische Töne herrschten im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der etablierten ökumenischen Strukturen vor. Im Bericht des Generalsekretärs an die Vollversammlung wird der Versuch, die Krise der traditionellen ökumenischen Bewegung zu leugnen immerhin mit dem Ansinnen verglichen, die Sonne mit einem Finger bedecken zu wollen. "Die Krise der ökumenischen Bewegung ist real, die Herausforderung besteht darin, neue Wege zu finden und die neuen Zeichen zu deuten". In dem lesenswerten Studiendokument mit dem Titel "Realität und Perspektiven der ökumenischen Bewegung in Lateinamerika" finden sich überraschend klare Ansagen: "Die institutionalisierte Ökumene muss im Blick auf die Herausforderungen dieses Jahrhunderts (Diversität, Relativismus, Deinstitutionalisierung ) dringend ihre ideologischen, theologischen und philosophischen Paradigmen neu definieren. ( ) Sie muss die Einheitsbestrebungen in anderen Sektoren der protestantischen Christenheit anerkennen und Brücken der Kooperation zu ihnen bauen ( ).
Es muss anerkannt werden, dass es auch eine andere ökumenische Rationalität gibt. Sie kommt aus den evangelikalen und pentekostalen Sektoren und fordert die Denkmodelle, Beziehungen und Aktionen der traditionellen Ökumene heraus". Gleichzeitig wird daran festgehalten, dass an den Prinzipien des Eintretens für das Leben, für Menschenrechte und die Einheit der Kirche nicht gerüttelt werden darf.
Der brasilianische Theologe Antonio Carlos de Mello Magalhaes verstärkt diese kritische Bilanz: "Die ökumenischen Institutionen und Initiativen sollten klare Programme entwickeln, um einen wirklichen Dialog zu betreiben mit einer unglaublich großen Anzahl von ökumenischen Initiativen in verschieden Kontexten Lateinamerikas. Unsere Institutionen sind noch zu sehr verankert in den traditionellen Gruppen und Kirchen. Meine These ist: Das ökumenische Leben und die ökumenischen Erfahrungen sind zur Zeit größer, dynamischer und reicher als unsere ökumenischen Institutionen. Diese müssen genau beobachten, ob die traditionellen ökumenischen Kirchen nicht langsam ihre ökumenischen Ideale verlieren. Ich sehe eine klare Tendenz bei einigen traditionell ökumenischen Kirchen, einen sehr konservativen Denominationalismus ins Leben zu rufen. Das macht mir große Sorge."
Diese Sorgen machten auch andere Redner geltend, es wurden aber auch neue Signale und Erfahrungen der Einheit benannt. Insgesamt war die Vollversammlung mit solchen differenzierten Überlegungen jedoch überfordert, die entsprechenden Plenums-Debatten blieben eher oberflächlich. Und wie kreativ auf einen "informellen und spontanen Ökumenismus der Nähe auf ortsgemeindlichem Niveau" (Batista) geantwortet werden kann, ist angesichts der bleibend deutlichen Frontstellungen und erklärten Profilierungsabsichten noch nicht recht absehbar. Und dennoch: Hier und an anderen Stellen des Treffens ist ein Wille deutlich geworden, die Augen nicht zu verschließen, den Luftzug der Veränderungen nicht an geschlossenen Türen der institutionalisierten Ökumene vorbei wehen zu lassen.
aus: der überblick 01/2007, Seite 148
AUTOR(EN):
Christoph Anders
Christoph Anders ist Pfarrer und Direktor des Evangelischen Missionswerkes in Deutschland (EMW).