Der lange Schatten der Tyrannei
Die Zeit der Diktaturen in Südamerika ist lange vorbei, doch Peru, Chile und Argentinien ringen weiterhin mit ihrer Vergangenheit. In allen drei Demokratien wird nach Wegen für eine Vergangenheitsbewältigung gesucht. Welche Antworten werden gefunden? Und wird der Staat die Last des Geschehenen zu lindern wissen?
von Antje Krüger
Eine Fahne hängt am einzigen gemauerten Gebäude eines verlorenen Dorfes irgendwo im Hochland der Anden. Im Haus sitzt eine Truppe der Armee, abkommandiert zur Terroristenjagd. Die Fahne leuchtet drohend in der Mittagsglut, bedeutet Stigma, ist Gefahr. “Wer Perus Flagge entfernt”, hatte der Militärchef vor der versammelten Dorfgemeinde gebrüllt, “wird als Vaterlandsverräter hingerichtet.” Des Nachts kommt die Guerilla aus den Bergen. Holt sich Essen aus der “befreiten Zone”. Entdeckt die Fahne. “Wenn die da morgen noch hängt”, zischt der Anführer, “wird getötet, wer sie nicht abgenommen hat.” Eine Szene aus Francisco Lombardis Film “Der Rachen des Wolfes”. Fiktiv und wahr. In Peru wurde im vergangenen Jahr öffentlich, was Lombardi schon 1988 auf Zelluloid gebannt hatte - die Tragik von zwanzig Jahren Terrorismus, Guerillagewalt und staatlicher Repression. Die meisten Opfer: indigene Bauern zwischen allen Fronten.
Zwei Jahre lang hatte die Comisión de la Verdad y Reconciliación (Kommission für Wahrheit und Versöhnung, CVR) die Verbrechen der Auseinandersetzungen von 1980 bis 2000, begangen von den Guerillaorganisationen Leuchtender Pfad und Tupac Amaru und der peruanischen Armee mit ihrer Todesschwadron Colina, untersucht. Die neunbändige Dokumentation, die Ende August 2003 Präsident Alejandro Toledo übergeben wurde, übertrifft selbst die schmerzlichsten Schätzungen. Über 69.000 Menschen fielen der Gewalt zum Opfer. Als eine Zeit der nationalen Schande bezeichnete der Präsident der CVR, Salomón Lerner, diese zwanzig Jahre. Eine Zeit der doppelten Schande, denn sie offenbart nicht nur die äußerste Rücksichtslosigkeit von Guerilla und Armee. Sie zeigt vor allem auch die Ausmaße der Diskriminierung der indigenen Bevölkerung Perus. “Die Ergebnisse der Untersuchungen”, so Lerner, “bringen uns auf den Gedanken, noch immer in einem Land zu leben, in dem der Ausschluss bestimmter Bevölkerungsschichten derart absolut ist, dass zehntausende Bürger verschwinden können, ohne dass überhaupt Notiz davon genommen wird. Wir Peruaner haben in unseren bösesten Vorahnungen immer von 35.000 Opfern gesprochen. Was lässt sich jetzt über unsere Gesellschaft sagen, wo wir wissen, dass noch einmal 35.000 unserer Brüder verschwunden sind, ohne dass sie jemand vermisst hätte?”
Jetzt muss die Suche nach angemessenen Entschädigungen für Opfer und Hinterbliebene sowie die juristische Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen beginnen. Abimael Guzmán, Chef des Leuchtenden Pfades, sitzt schon seit 1992 in einem Hochsicherheitsgefängnis. Und auch dem inoffiziellen Geheimdienstchef von Ex-Präsident Alberto Fujimori, Vladimiro Montesinos, der aufgrund verschiedener Massaker schon zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurde, stehen noch mehr als 100 Verfahren bevor. Fujimori selbst, ein hinter einer scheinbaren Demokratie versteckter Diktator, hatte sich nach seinem Sturz im Jahr 2000 nach Japan abgesetzt. Seit seine Selbstamnestie jedoch aufgehoben wurde, verlangt der amtierende Präsident Toledo immer wieder die Auslieferung seines Amtsvorgängers. Aber der Nachfahre japanischer Einwanderer besitzt neben der peruanischen auch die japanische Staatsbürgerschaft, Grund genug für Japan, ihn bislang vor der Strafverfolgung in Peru zu schützen.
Inzwischen ist es nach der ersten Welle der Entrüstung wieder still geworden in Peru. Bedrohlich still. Die Regierung Toledos verharrt lediglich in der Betroffenheitsgeste, während die Angst vor einem Wiedererstarken der Guerilla sowie der aggressive Ton, mit dem das Militär auf den Bericht reagierte, das Land lähmen.
Anders ist es in Chile: dort geht das Ringen um den 88-jährigen Ex-Diktator Augusto Pinochet weiter. Fast scheint es ein Katz- und Mausspiel. Ein seniler Mann, behaupten die einen. Lüge, sagen die anderen. Ein makabres “Spiel”, denn es geht um die Sühne von mehr als 3000 Toten und Verschwundenen und 100.000 Folteropfern. Doch wo die Allmacht ein Ende hat, hilft die Demenz weiter. Am “fortschreitenden Alterschwachsinn” Pinochets, festgestellt im Mai 2001, prallen sämtliche Anklagen wegen der während der Diktatur von 1973 bis 1990 begangenen Menschenrechtsverbrechen ab. In keinem anderen Land ist die Diktatur und ihr langer Arm derart personifiziert wie in Chile. Gelingt es, Pinochet vor Gericht zu bringen, könnte ein ganzer Apparat in sich zusammenbrechen, wäre der Weg zur Loslösung von den alten Strukturen, die eine hinreichende Aufarbeitung der Diktatur unmöglich machen, frei.
So verwundert es nicht, mit welcher Vehemenz über des Generals Demenz gestritten wird. “Einen Zirkus” nennt Pinochets Anwalt, Pablo Rodríguez, die Versuche der Gegenseite, seinen Mandanten der Gesundheit zu überführen. “Leider scheinen meine kommunistischen Kollegen in der Sowjetunion stecken geblieben zu sein”, erklärte Rodríguez Ende letzten Jahres, als der Richter Juan Guzmán erneut Anklage gegen Pinochet wegen seiner Beteiligung an den Verbrechen des Plans Condor erhob, über den die Militärregierungen über Grenzen hinweg ihre brutale Verfolgung der Opposition koordinierten. Ein Interview des Generals vom November 2003 im US-amerikanischen Fernsehen, in dem er sich selbst für unschuldig erklärte und seine Untergeordneten der Verbrechen beschuldigte, soll nun als Beweis seiner geistigen Klarheit dienen.
Währenddessen laufen in Chile mehr als 300 Verfahren. Nach jahrelanger Suche haben engagierte Anwälte und Richter eine Lücke in der Amnestie gefunden. Mehr als 1000 Gefangene tauchten nach ihrer Verhaftung nie wieder auf, verschwanden spurlos. Genau hier setzt die Anklage an. Denn Mord und Folter fallen unter die Selbstamnestie, nicht aber das Verbrechen der so genannten “permanenten Entführung”.
Auch das Militär sagt sich, wenn auch nur zögernd und zaghaft, von seiner Rolle in der Diktatur los. Nie wieder, so versprach zum Jahresbeginn General Juan Emilio Cheyre, Chef der chilenischen Armee, dürfen in Chile Menschenrechte verletzt werden. Ein Versprechen, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte, in Chile aber erst 13 Jahre nach Ende der Diktatur möglich ist. Ebenso wie der “Es gibt kein Morgen ohne das Gestern” genannte Plan von Präsident Ricardo Lagos, den dieser anlässlich des 30. Jahrestages des Putsches am 11. September vergangenen Jahres verabschiedete. Vorgesehen sind darin eine 50-prozentige Erhöhung der Renten für Hinterbliebene von Opfern, die Gründung eines “Instituts für Menschenrechte und Bürgerliche Freiheiten”, die Ratifizierung verschiedener internationaler Menschenrechtskonventionen sowie erstmals auch eine Entschädigung für Folteropfer.
Doch solange sowohl die Selbstamnestie der Militärs als auch die Verfassung der Diktatur noch Gültigkeit besitzen (vergl. “der überblick” 3/1999), bleiben sogar die wohlmeinendsten Projekte zage Gehversuche weit entfernt vom großen Schritt zur Loslösung der Politik und Justiz von altersschwachsinniger Macht und deren Getreuen.
Auf der anderen Seite des Kontinents, in Buenos Aires, Plaza de Mayo, Donnerstag 17 Uhr. Die Januarsonne, hier auf der Südhalbkugel, brennt noch unerträglich heiß. Gegenüber vom rosafarbenen Regierungsgebäude versammeln sich Frauen, Mütter, Großmütter. Sie kommen mit weißen Kopftüchern, und begrüßen einander mit einem Kuss auf die Wange. Jede kennt jede. Mit gedämpften Stimmen tauschen sie Neuigkeiten aus und sehen manchmal zu den Schaulustigen hinüber, die abwarten, was mit dieser Schar passiert. Langsam bilden die Frauen einen kleinen Zug und fangen an zu laufen, immer im Kreis um die Marmorstele auf dem Platz.
Seit 1977 drehen sie ihre wöchentlichen Runden, ein Ritual, das zur Institution geworden ist. Nichts als Schritte, eine scheinbar harmlose Geste, die Ende der siebziger Jahre die regierenden Generäle zur Weißglut brachte, Schritte, deren Nachhall öffentlich machte, was nicht gesehen werden sollte oder wollte, Schritte, die heute vor dem Vergessen warnen.
Sie hatten sich zusammengefunden, weil ihre Kinder vom Militär abgeholt worden waren. Weil keiner ihnen sagen wollte, wo diese sind und was mit ihnen geschehen ist. Die Mütter der Plaza de Mayo haben mit ihren stillen Protesten weltweite Achtung erlangt. Die Geste ihrer donnerstäglichen Runden steht wie keine andere für Widerstand und Mut.
Die meisten Kinder sind nie wieder aufgetaucht, ob in Argentinien, Chile, in Peru, Bolivien, Brasilien, in Paraguay oder Uruguay. Die Verantwortlichen sind noch immer oder erneut auf freiem Fuß. Formal haben all diese Länder nach Jahrzehnten der Diktatur die Demokratie wieder hergestellt. Doch verhindern Amnestien, die Angst und der Schulterschluss von Politik, Wirtschaft und Armee im Namen des Kampfes gegen Subversion und Terrorismus sowie Ignoranz und Gleichgültigkeit bis heute eine umfassende Aufarbeitung und Ahndung der Verbrechen dieser Willkürherrschaften.
Es war wie ein Weihnachtsgeschenk. Mitten in der Adventszeit kündigten die Großmütter der Plaza de Mayo an, ihr 76. Enkelkind gefunden zu haben. Gustavo, heute 25 Jahre alt, kam 1978 im Folterzentrum Campo de Mayo zur Welt. Seine Eltern, beide von den Militärs verhaftet, tauchten nie wieder auf. Gustavo wurde von einem Händler “adoptiert”. Dieser ließ sich den Jungen von den Militärs aushändigen und als sein eigenes Kind eintragen. Eine Praxis, mit der in Argentinien während der Diktatur von 1976 bis 1983 über 400 Kinder von gefangenen Frauen einfach ihrer Identität beraubt wurden. Die Großmutter von Gustavo machte sich sofort auf die Suche nach dem Baby. Als sie 1983 starb, verfolgte eine Tante die Spuren weiter. Über einen Gentest wurde inzwischen die Herkunft von Gustavo bewiesen, der nun seine vier wahren Geschwister und diejenigen, die von der Familie überlebt hatten, kennen lernen konnte.
Über zehn Jahre lang leisteten die Menschenrechtsorganisationen in Argentinien bei der Suche nach der Wahrheit und den Schuldigen Sisyphusarbeit. Dabei hatte alles so vielverspechend angefangen. Argentinien war das einzige Land, in dem Mitgliedern der Junta 1985 offiziell der Prozess gemacht wurde. Doch schon wenige Jahre später beugte sich Präsident Raúl Alfonsín dem Druck des Militärs, das zweimal zu putschen versucht hatte, und verabschiedete das “Schlusspunktgesetz” und das “Gesetz des unbedingten Gehorsams”. Die beiden Gesetze haben eine weitere Strafverfolgung der Verbrechen praktisch unmöglich gemacht. Sein Amtsnachfolger Carlos Menem amnestierte dann sogar im Jahr 1989 die schon einsitzenden Militärs.
Doch gärte es weiter in Argentiniens Gesellschaft. In keinem anderen Land in Südamerika ist das Thema der Diktatur derart in der Öffentlichkeit präsent wie hier. Alleine der Bericht Nunca más (“Nie wieder”), in dem die Wahrheitskommission Comisión Nacional solve Desapararicion de Personas (CONADEP) die Verbrechen der Diktatur dokumentierte, wurde in 22 Auflagen gedruckt und stets ausverkauft. In mehr als 400.000 Haushalten steht das Buch im Regal. Der Kulturkalender ist voll mit Terminen von Filmen, Theaterstücken und Ausstellungen zum Thema Diktatur und Ankündigungen von Demonstrationen, bei denen die Häuser von verantwortlichen Militärs mit Farbe gekennzeichnet werden.
Mit der Regierungsübernahme des neuen Präsidenten Néstor Kirchner im Mai 2003 scheint der Wille zur Gerechtigkeit doch noch seinen Weg auch in die Institutionen gefunden zu haben. Mit einer seiner ersten Amtshandlungen erreichte Kirchner, dass das “Schlusspunktgesetz” und das “Gesetz des unbedingten Gehorsams” vom Kongress und Senat für ungültig erklärt wurden. Wenn sich jetzt auch noch der Oberste Gerichtshof dieser Entscheidung anschließt, können rückwirkend sämtliche Prozesse wieder aufgenommen werden, die durch diese beiden Gesetze verhindert wurden.
Im Zuge der Erneuerung des Obersten Gerichtshofs schlug der Präsident jetzt Carmen Argibay für eine freie Stelle vor. Die weltweit hoch angesehene Richterin, die selbst während der Diktatur neun Monate im Gefängnis saß, ist seit 2001 am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig. Auf sie stützt sich die Hoffnung, dass im Obersten Gericht eine Mehrheit gegen die Gesetze der Straflosigkeit stimmen wird. Dann könnte aufgrund der schon vorhandenen Beweislage mehr als 4000 Militärs sofort der Prozess gemacht werden.
Diese Wende in der argentinischen Politik - zeitgleich wurde der UN-Konvention über Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen Verfassungsrang eingeräumt - sorgte für großes Aufsehen in Südamerika und brachte das Thema der Menschenrechtsverletzungen wieder an die Öffentlichkeit. “Es ist zu hoffen, dass Argentinien mit dieser Entscheidung auch für andere Länder Vorbildwirkung hat. Denn hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig die politische Unterstützung der Bemühungen der Menschenrechtsbewegung ist. Nur mit Hilfe einer aktiven Regierungspolitik ist eine umfassende Ahndung und Ächtung der Verbrechen der Diktatur in der gesamten Gesellschaft möglich. Sonst verbleibt dieses Thema ohne Auswirkungen auf das ganze Land in bestimmten Schichten der Bevölkerung”, sagt die argentinische Politologin Cecilia Lucca.
Mehr als 6500 Jahre Haft verlangt die Anklage gegen Adolfo Scilingo. Angehörige von Opfern der Diktatur werfen dem ehemaligen argentinischen Korvettenkapitän Folter und Mord an 30 Personen vor. Scilingo, der 1995 als erster in der argentinischen Zeitung Página / 12 das System der so genannten Todesflüge, bei denen Gefangene lebendig ins Meer geworfen wurden, öffentlich machte, hatte sich freiwillig dem spanischen Richter Baltasar Garzón gestellt. Mit ihm gemeinsam wartet der Folterer Ricardo Miguel Cavallo auf seine Verurteilung in Madrid. Cavallo war Mitte vergangenen Jahres in Mexiko mit internationalem Haftbefehl festgenommen und an Spanien ausgeliefert worden.
Damit gelang Garzón erstmalig, woran 1998 der Prozess gegen Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet in Spanien gescheitert war - die internationale Zusammenarbeit bei der Ahndung von Menschenrechtsverbrechen. Damals war Pinochet in einer Londoner Klinik auf Antrag von Garzón hin verhaftet worden, doch Großbritannien hatte sich einer Auslieferung nach Spanien widersetzt.
In verschiedenen europäischen Ländern sowie der USA laufen Anklagen und Verfahren gegen lateinamerikanische Militärs. Häufig - wie in Deutschland, Schweden und Frankreich - sollen die Verantwortlichen an den Morden von Staatsbürgern des eigenen Landes gerichtet werden. So hatte erst im Dezember 2003 die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth Haftbefehl gegen die argentinischen Junta-Mitglieder Emilio Massera und Jorge Videla ausgestellt. Damit werden erstmalig nicht nur mittelbare Täter, sondern die Köpfe des Regimes des Mordes an den beiden Deutschen Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank angeklagt.
Jedoch sind die Verfahren im Ausland umstritten. Sie scheitern zumeist am fehlenden Willen der jeweiligen Regierungen, die Angeklagten auszuliefern. Hauptargument: Ein solcher Prozess im Ausland ist eine Einmischung in Souveränität und Rechtshoheit, eine Anmaßung. Solange sich jedoch die Militärs im eigenen Land aufgrund des Rechtssystems aus der Verantwortung ziehen können, bleibt den Angehörigen der Opfer zumeist kein anderer Ausweg, als engagierte Richter außerhalb zu suchen. “Die Souveränität wird nicht durch Prozesse gegen Militärs und Zivile im Ausland verletzt, sondern durch diejenigen, welche vor Ort eine Situation der Straflosigkeit geschaffen haben”, so die Politologin Cecilia Lucca. “Wenn es Prozesse im Ausland gibt, dann nur, weil die politische und soziale Korruption im eigenen Land diesen Prozessen Platz gemacht hat.”
StrafverfolgungErnst gemeint?Es war 1976. In Uruguay und Argentinien herrschten die Militärs - koordiniert über die Ländergrenzen hinweg durch den Plan Condor. María Claudia Guyena de Gelman war 19 Jahre alt und im siebten Monat schwanger, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Marcelo Gelman in Buenos Aires entführt, nach Montevideo in Uruguay verschleppt und nach der Geburt ihrer Tochter getötet wurde. Die Leiche von Marcelo wurde gefunden. Nach María Claudia aber sucht ihr Schwiegervater, der argentinische Dichter Juan Gelman, noch immer. Der Fall Gelman wurde vom argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner inzwischen zur Staatsangelegenheit erklärt. Und er lässt die Emotionen auf politischer Ebene hochkochen. Denn Anfang Januar strengte die argentinische Regierung ein Ermittlungsverfahren an, dass den Verbleib von María Claudia aufklären und ihre Mörder zur Verantwortung ziehen soll. Dafür ist vorgesehen, dass auch uruguayische Militärs, Polizisten und selbst der Präsident, Jorge Battle, aussagen. Dieser reagierte entrüstet. Uruguay, so erklärte er, habe Argentinien sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt. Doch seit 1986 das uruguayische Amnestiegesetz verabschiedet wurde, das die Strafverfolgung der Verbrechen der Militärs zwischen 1972 und 1985 verhindert, ist im Fall Gelman nicht weiter ermittelt worden. Das Thema Diktatur ist in Uruguay, wo der Übergang zur Demokratie mit der Armee ausgehandelt wurde, faktisch ein politisches Tabu. Argentiniens Druck kommt Präsident Battle deshalb ungelegen, ein diplomatisches Debakel naht. Es füllt die ersten Seiten der Zeitungen beider Länder. Ein Disput löst den nächsten ab. Erst im Dezember 2003 lehnte Argentinien die Ernennung des uruguayischen Marinekapitäns Juan Craigdallie für einen Posten in der Botschaft ab. Er soll an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein. Derartige Auseinandersetzungen um die Diktatur auf Regierungsebene sind neu in Südamerika. Bisher blieb es den Menschenrechtsorganisationen überlassen, auch länderübergreifend Gerechtigkeit einzufordern. Der Fall Gelman könnte nun neue Zeichen setzen. Antje Krüger |
ZitateNichts sehen, nichts sagen?“Wir haben nie etwas gesehen. Da gab es zwar diese grünen Ford Falcon, von denen alle sagten, sie holen Menschen ab. Die kannten wir auch, die fuhren ja durch die Stadt. Aber ansonsten war es für uns die sicherste Zeit. Man konnte ohne Probleme mit Geld auf die Straße gehen, nicht so wie heute.”
“Am härtesten traf es Freunde von uns, polnische Juden. Sie hatten den Holocaust im argentinischen Exil überlebt und mussten nun mit ansehen, wie sie hier ihren Sohn holen kamen. Sie haben nie wieder etwas von ihm gehört.”
“Über die Diktatur sprechen wir nie. Das spaltet nur alle, zerreißt Familien und Freunde. Das Thema muss ein Tabu sein, wenn wir miteinander auskommen wollen. Frag lieber nie danach.”
“Ich kann’s nicht mehr hören. Am besten wäre, der Alte stirbt. Dann hätten wir endlich alle unsere Ruhe.”
“Gorki? Nein, von Gorki habe ich keine Bücher mehr. Die musste ich damals alle verbrennen. Meine halbe Bibliothek ist ins Feuer gewandert. Fleisch haben wir damit gegrillt, damit es nicht so auffiel.”
“Die waren so dumm. Wenn sie nicht so viel Leid zugefügt hätten, wäre es zum Lachen. Zum Beispiel stand das Buch La cuba electrolítica auf der schwarzen Liste. Es war verboten, weil Cuba drin vorkommt. Dabei ist es ein Buch über Inkubatoren für Frühchen.” Zitate aus Alltagsgesprächen in Argentinien und Chile, u.a. mit Aldo Barone, Horacio Destailliats, Victoria Santucho, Claudio Bachmann und anderen. |
aus: der überblick 01/2004, Seite 119
AUTOR(EN):
Antje Krüger:
Antje Krüger arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt Südamerika und bereist häufig diesen Kontinent.