Viele verarmte Juden in São Paulo erhalten Beistand von Glaubensbrüdern
Bei TEN YAD in der Straße Ribeiro de Lima im Arbeitervorort Bom Retiro von São Paulo werden Besucher auf Hebräisch und Portugiesisch willkommen geheißen. Dieser jüdische Hilfsverein versorgt seit 1992 tausende verarmter brasilianischer Juden mit Lebensmitteln, kleidet sie ein und leistet ihnen spirituellen Beistand.
von Larry Luxner
Die hebräischen Schriftzeichen der Hinweistafel wirken fremd zwischen der koreanischen Leuchtreklame. Koreanische Geschäfte dominieren in der Straße Ribeiro de Lima im Arbeitervorort Bom Retiro von São Paulo. Bei Ten Yad werden die Besucher dagegen auf Hebräisch und Portugiesisch willkommen geheißen. Dieser jüdische Hilfsverein versorgt seit 1992 tausende verarmter brasilianischer Juden mit Lebensmitteln, kleidet sie ein und leistet ihnen spirituellen Beistand.
Ten Yad bedeutet "eine Hand entgegenstrecken". Dieses Motto wird in dem weiträumigen fünfstöckigen Gebäude wörtlich genommen. Ein halbes Dutzend Freiwillige serviert den etwa 130 Pensionären in der Cafeteria ein koscheres Abendessen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs führt eine Handvoll älterer Juden eine politische Diskussion auf Jiddisch. Und in einem anderen Versammlungsraum hat der Rabbiner Yehuda Kamnitzer gerade einen Vortrag über Judaismus beendet.
"Wir wollen die Menschen nicht nur verköstigen, sondern ihnen auch die spirituellen Werte des Judentums nahe bringen", sagt Kamnitzer. Der Rabbiner kommt aus São Paulo und hat in einem Seminar bei Chabad Lubawitsch in New York studiert. (Chabad Lubawitsch ist eine chassidische jüdische Bewegung mit einigen Hunderttausend Anhängern, vor allem in den USA und Israel, die auf den im 18. Jahrhundert entstandenen osteuropäischen Chassidismus zurückgeht; Anm. d. Red.) "Wir legen den Leuten den jüdischen Gebetsschal Tefilin an, geben morgens Thora-Unterricht und feiern die jüdischen Feste."
Therezinha Davidovich ist für die Koordination der Arbeit bei Ten Yad zuständig. 93.000 Abendessen wurden nach ihren Angaben im vergangenen Jahr verteilt. Viel mehr als 1992 – in dem Jahr wurden 8.400 Essen an Bedürftige ausgegeben. Aber schon im Jahre 1993 hatte sich die Zahl auf 20.000 gesteigert. Mehr als 150 Personen, die Mehrzahl Frauen, helfen als Freiwillige in den zwölf verschiedenen Bereichen, in den Ten Yad tätig ist. Frisch Verheirateten ohne ausreichendes Einkommen hilft man bei der Finanzierung eines Apartments. Und täglich werden 135 Lebensmittelrationen an Juden ausgeliefert, die, weil sie an Behinderungen leiden oder nicht ins Stadtzentrum kommen können, auf Unterstützung angewiesen sind.
Seit der Abwertung der brasilianischen Währung Real im Januar 1999 hat sich die Situation vieler Juden stark verändert. Viele Pensionäre haben aufgrund der staatlichen Maßnahmen einen Großteil ihrer Sparguthaben verloren und sind dadurch zum ersten Mal im Leben gezwungen, fremde Hilfe anzunehmen. "In Brasilien erleben wir eine schwere ökonomische Krise. Jeder wird ärmer, und diejenigen, die man zur Mittelklasse zählen kann, werden jeden Tag weniger", sagt Mónica Wexler, eine der fünfzehn bezahlten Angestellten von Ten Yad. Die ehemalige Sozialarbeiterin hat früher bei der Congregación Israelita Paulista gearbeitet, der Israelitischen Vereinigung von São Paulo, die die größte Synagoge der Stadt unterhält. "Wir haben ein großes Problem mit der Arbeitslosigkeit", sagt Wexler. "Viele haben keine Universität besucht, und es ist schwierig, für sie Arbeit zu finden."
Wer die Dienste von Ten Yad in Anspruch nehmen möchte, muss sich einer Befragung unterziehen. Dort versucht geschultes Personal den Grad der Bedürftigkeit herauszufinden. Zusätzlich zur Abendessenausgabe verteilt Ten Yad pro Woche 175 Lebensmittelrationen an Personen, die an Unterernährung leiden: Milch, Brot, Käse, Kaffee, Tee, Schokolade, Margarine, Haferflocken, Dosensuppen. Im vergangenen Jahr wurde Ten Yad vom Forschungsinstitut Kaniatz & Asociados als eine der fünfzig effektivsten gemeinnützigen Organisationen Brasiliens ausgezeichnet.
Kamnitzer, über dessen Schreibtisch ein Porträt des verstorbenen Rabbi Menachem Mendel Schneerson hängt, versichert, dass Chabad Lubawitsch zwar die Arbeit seiner Organisation inspiriere, aber Ten Yad erhalte von den Lubawitscher Juden aus New York keine direkte Hilfe. (Rabbi Menachem Mendel Schneerson wurde 1902 in Russland geboren und war bis zu seinem Tod 1994 in den USA das Haupt von Chabad Lubawitsch; Anm. d. Red.) Auch die brasilianische Regierung oder die Stadtverwaltung von São Paulo gewähre keine finanzielle Unterstützung.
Ten Yad lebt von den Spenden der vermögenden Mitglieder der Jüdischen Gemeinde von São Paulo, die 80.000 Mitglieder zählt. Firmen wie Banco Safra, Constructora Kauffmann, Empiria Carmel und Rafi Electrónica Comercial, die in jüdischem Besitz sind, tragen zur Finanzierung der Arbeit bei. Zur finanziellen Absicherung der Hilfe organisiert Ten Yad jedes Jahr Konzerte mit jüdischer Musik. Dazu kommen auch Gruppen aus dem Ausland: Yerachmiel Begun oder der Jugendchor von Miami. "Jeden Pfennig, den uns die Menschen geben, benutzen wir, um den Bedürftigen zu helfen", sagte der bärtige Rabbiner Kamnitzer, der wie seine anderen Glaubensgenossen aus New York, Buenos Aires, Mexiko-Stadt und Jerusalem einen schwarzen Hut, ein weißes Hemd und einen schwarzen Anzug trägt. Seine Peijes trägt er lang.
Die Existenz von Ten Yad, nur einige Straßenblocks vom Zugbahnhof São Paulo entfernt, führt Vorurteile ad absurdum, die auch in Lateinamerika üblich sind: Die relativ wenigen in der Region lebenden Juden seien alle reich und machtvoll. Zwar ging es den jüdischen Emigranten in Brasilien und in anderen lateinamerikanischen Ländern historisch gesehen wirtschaftlich stets besser als den übrigen Einwohnern. Heute aber leiden Tausende von Juden in Argentinien, Brasilien, Mexiko, Paraguay und Venezuela – Ländern, die früher einmal als ökonomisch stabil galten – unter der Wirtschaftskrise, so wie alle anderen Einwohner auch.
Die Armut ist in Bom Retiro unübersehbar. Früher war das Viertel von den Juden geprägt. In den letzten Jahren sind immer mehr koreanische Einwanderer hierher gezogen. "Vor zwanzig Jahren ging es der jüdischen Gemeinschaft ökonomisch gut. Deshalb sind diejenigen, die Geld gemacht haben, aus diesem Stadtviertel weggezogen und haben sich in den Vorstädten Higienópolis, Hardins und Morumbi angesiedelt", erklärte Davidovich, die seit der Gründung von Ten Yad dabei ist. "Wenn die Menschen ihre Arbeit verlieren, ist es schwer, nach vierzig Jahren eine andere zu finden. Wenn jemand krank wird und nicht mehr arbeiten kann, reicht das Geld, das man von der Regierung bekommt, nicht zum Leben. Und wenn es Probleme in der Familie gibt, ist es schwierig, unabhängig zu leben."
Kamnitzer betont, dass seine Organisation allen Juden hilft, egal ob es sich um religiöse Juden oder um mit Nichtjuden Verheiratete handelt. Ten Yad organisiert Ausflüge für jüdische Schüler, hilft armen Jungverheirateten, besucht Juden im Gefängnis oder im Krankenhaus und bietet Beratung durch Rabbiner und Sozialarbeiter an. Kritisieren könne man allenfalls, dass Ten Yad aufgrund der Beibehaltung der orthodoxen Tradition der Chabad Lubawitsch keinen Kontakt zu anderen, nichtjüdischen Wohltätigkeitsorganisationen hat. Trotzdem, betont Wexler: "Wenn wir Lebensmittelspenden bekommen, die wir nicht nutzen dürfen, weil sie nicht koscher sind, dann geben wir sie an Schulen, Hospitäler und andere Wohlfahrtseinrichtungen weiter."
aus: der überblick 01/2001, Seite 36
AUTOR(EN):
Larry Luxner:
Larry Luxner ist freier Journalist in Bethesda (Maryland, USA) und berichtet regelmäßig über Lateinamerika.