Fahrkarte zwischen zwei Welten
Ein neuer Klassenunterschied tut sich in Südafrika auf, seit Eltern ihre Kinder täglich auf eine lange Reise zu privaten und früher weißen Schulen schicken. Viele Schulen der Townships bluten so allmählich aus.
von Thokozani Mtshali
Es ist nachmittags um halb vier. Im Bahnhof von Johannesburg, im betonierten Zentrum der Stadt, wimmelt es von Schulkindern. Das Blau, Rot und Grau ihrer Uniformen vermischt sich mit den Regenbogenfarben der Wandgemälde, die zu den Bahnsteigen führen, von wo die Kinder wieder nach Hause fahren. Sie verbringen ihre Tage in den Schulen der Stadt, doch sobald der letzte Gong ertönt, machen sich die Schüler auf zu den Zügen, die sie wieder nach Soweto, Tembisa, Katlehong, Mohlakeng und den anderen Townships am Rande von Südafrikas Industriemetropole bringen.
Dineo Melatu, eine Schülerin der 5. Klasse in der Vorbereitungsschule von Johannesburg für Mädchen in Berea, ist Teil dieser schwatzenden Menge. "Meine Mutter schickte mich auf eine weiße Schule, damit ich eine bessere Bildung bekomme und lerne, richtiges Englisch zu sprechen. Sie wusste, dass ich davon profitieren würde, weil der Unterricht in einer weißen Schule besser ist", sagt sie. Für diese Elfjährige und viele ihrer Generation sind die Schule und ihr Zuhause zwei verschiedene Welten. Im Bahnhof von Johannesburg kreuzen sie sich.
Dieses Phänomen entstand in den vergangenen zehn Jahren, als die Rassengesetze schwarze Eltern nicht mehr dazu zwangen, ihre Kinder auf die schwarzen Schulen zu schicken. Als Folge dieser neuen Freiheit begann ein umfangreicher Austausch von Schülern zwischen den Schulen. Beispielsweise zog es viele Kinder in Soweto zu Bildungseinrichtungen in bisher von Farbigen und Indern bewohnten Gebieten wie Eldorado Park und Lenasia. Manche entschieden sich auch für die überall aus dem Boden schießenden Privatschulen im Stadtzentrum. Andere wählten die früher so genannten Model C-Schulen mit ihren umfangreichen Einrichtungen. Sie nahmen lieber Schulgebühren von 3000 Rand und mehr - das sind rund 300 Euro - und einen Schulweg von insgesamt 100 Kilometer in Kauf, als auf eine Schule zu gehen, die nur 100 Rand (etwa 10 Euro) im Jahr kostete und um die Ecke lag.
In staatlichen Schulen sieht es derzeit so aus: Zwar sind dem Gesetz nach alle gleich, doch in der Praxis gibt es Unterschiede. Wegen des großen Gefälles in der Ausstattung, der Einsatzbereitschaft der Lehrkräfte und der Disziplin der Schüler zwischen den Schulen in den Vororten und den staatlichen Schulen der Townships meinen die Eltern, dass die Schulen in der Stadt eine bessere Bildung bieten.
Als Ergebnis ist die ethnische Zusammensetzung der Schülerschaft in vielen Schulen der Vororte so gemischt, dass sie dem tatsächlichen Zahlenverhältnis der Ethnien in der Bevölkerung nahe kommt. Doch der Zuwachs der Schulen in den Vororten und Innenstädten geht auf Kosten der Schulen in den Townships. Sie sind heute die einzig verbliebene Bildungsmöglichkeit für Kinder aus armen Familien. "Viele können nicht einmal die benötigten Schulgebühren aufbringen und den Schulen fehlt finanzieller Spielraum, da die zahlungskräftige Kundschaft in die Stadt abgewandert ist", sagt Professor Tamsanqa Kambule, ein Erziehungswissenschaftler, der früher eine erfolgreiche Privatschule in Soweto betrieb.
Schulen wie die Hleziphi-Grundschule in Katlehong bluten aus. Der Schulleiter Nkosana Gwegana sagt, dass die Schule 1000 Schüler aufnehmen könnte, doch hat sie nur 500. Mindestens zehn Grundschulen in der Nachbarschaft befinden sich in einer ähnlichen Lage. "Ich glaube, dass die meisten Schulen ihre Schüler verloren haben, weil die Verwaltung und die Lehrer nachlässig gearbeitet haben", sagt Gwegana. "Die neuen Bedingungen ermöglichen es den Eltern, gegen jede beliebige Schule zu stimmen, indem sie ihre Kinder einfach von ihr herunternehmen."
Die Orlando Highschool in Soweto ist ebenfalls in einer schwierigen Lage. Die Schule könnte fast 2000 Schüler aufnehmen, hat jedoch weniger als 600. Der stellvertretende Schulleiter Naughty Mabaso macht folgende Faktoren für den Schülerverlust verantwortlich: die Bevölkerungsabwanderung in die Vororte, der Ruf der Schule als Brutstätte politischer Aktivitäten während der Zeit der Apartheid und ihre Lage in einer von Kriminalität heimgesuchten Gegend. Auch die akademischen Leistungen der Orlando Highschool - im letzten Jahr bestanden 45,3 Prozent der Schüler die Abschlussprüfungen - nützen nichts bei der starken Konkurrenz, die sowohl von außerhalb, als auch aus Soweto selbst kommt. Mit ihren Abschlussquoten von jeweils 62, 84 und 89 Prozent ziehen die weiterführenden Schulen Morris Isaacson Secondary, Kwadedangendlale Secondary und Reasoma Secondary nach wie vor hohe Schülerzahlen an. In ähnlicher Weise können die Grundschulen Monde Primary in Katlehong und Igagasi Primary in Spruitview bei Germiston die Nachfrage nach Plätzen für Schüler nicht befriedigen. Als Einrichtungen mit herausragender Leistung in den Townships stellen diese Schulen die Behauptung ernsthaft infrage, dass eine gute Bildung nur in den Vororten zu finden ist. "Der einzige Unterschied zwischen uns und den Schulen in der Stadt besteht darin, dass die Kinder dort einen weißen Akzent haben, wenn sie Englisch sprechen. Abgesehen davon, sind wir besser als viele Schulen in der Stadt und die Eltern sind sich dessen bewusst geworden," sagt Schulleiter Dudu Jele von der Grundschule Igagasi-Primary.
Dabei tun die Schulen keineswegs irgendetwas Ungewöhnliches. Sie halten sich ganz einfach an bewährte Rezepte. Zu denen gehören gute Verwaltung, Beteiligung der Eltern und hohe Einsatzbereitschaft der Lehrer.
Doch der Exodus der Schüler hat nicht nur die Schulen der Townships beeinträchtigt. Manche Schulen in den Vororten, die Schüler aus den Townships aufgenommen haben, haben die Erfahrung gemacht, dass nun Weiße aus ihren Schulen "flüchten". 1996 waren etwa 80 Prozent der Schüler in der Grundschule Parkhurst Primary weiß. Heute sind nur noch drei der 605 Schüler Weiße. "Es wird angenommen, dass Vorortschulen mit vielen schwarzen Kindern niedrigere Standards haben. Dies führt dazu, dass an vielen Schulen, die mehr afrikanische Schüler aufgenommen haben, weniger weiße Schüler angemeldet werden, weil die Eltern sich für Privatschulen entscheiden", sagt Michael Philip, der stellvertretender Schulleiter der Grundschule Parkhurst Primary.
In dem Maße, wie die Schulen mit den Herausforderungen des Wandels fertig werden, finden sich die Schüler inmitten einer anderen Art des Kampfes wieder: Dies ist ein im Entstehen begriffener Klassenunterschied, der über das allgemeine Rassenmuster hinausgeht, das im Allgemeinen verwendet wird, um wirtschaftliche Ungleichheiten zu erklären.
Die Sprache der neuen Ordnung spiegelt eine wachsende Feindschaft wider zwischen jenen, die in den Vororten zur Schule gehen und jenen, die dahinter zurückfallen.
"Comrade", diese liebevolle Bezeichnung, mit der die Jugendlichen einst Kameradschaft und das Gefühl für gemeinsame Ziele ausdrückten, ist ersetzt worden durch solch abwertende Namen wie "cheese boys" und "cheese girls" für jene, die den Luxus genießen, nicht nur Käse essen zu können, sondern auch in der Stadt zur Schule zu gehen. Andere ihnen angehängte Etiketten sind "Model C", amabhujwa (Zulu für Bourgeoisie) und "Kokosnüsse".
Es gibt jetzt eine Art neuer Apartheid. Wenn Schüler Hilfe in einem bestimmten Fachgebiet benötigen, in dem man sich gut auskennt, werden sie nicht um Hilfe bitten, wenn der Betreffende keine Township-Schule besucht , erklärt Nomathemba Mtshali, Schüler in der Mittelschule Eden Park Secondary, eine frühere Schule für Farbige im Osten Johannesburgs.
Mtshali hatte selbst erfahren, wie es ist, "Kokosnuss" genannt zu werden. Sie erkannte, dass diejenigen, die sie beleidigten, ihr vorwarfen, etwas Besseres sein zu wollen. "Selbst wenn man in einer Hütte wohnt, aber in der Stadt zur Schule geht, haben die Menschen etwas gegen einen und werfen einem so seltsame Bezeichnungen an den Kopf wie Miss Kellogg", sagt sie.
Doch Lebelo Maloka, der in dem privaten Pace College in Soweto zur Schule ging und nun Sprecher der Schulbehörde von Gauteng ist, sagt, dass Ähnlichkeiten bestehen zwischen dem, was jetzt geschieht und was in den turbulenten achtziger Jahren geschah. Damals verachteten die Kinder ebenfalls ihre Gleichaltrigen, die es wagten, sichere, private Bildungseinrichtungen zu besuchen. "Es war sehr befremdlich. Die Schüler, die normale staatliche Schulen besuchten, hassten uns", sagt Maloka.
Die Behörde, die Schulleiter, die Lehrer und die Eltern der Kinder, die in Soweto, Katlehong oder Tembisa geblieben sind, sind sich dessen bewusst, dass viele staatliche Schulen in diesen Gegenden ausbluten. Gemeinsam und einzeln versuchen sie, die Schulen zu stärkeren Einrichtungen auszubauen, doch die Umgestaltung einer Schule kann viele Jahre dauern. Trotz ihrer großen Anstrengungen und trotz einiger erfolgreicher Beispiele haben sie es nicht geschafft, diejenigen, die das Bildungssystem der Townships hinter sich gelassen hatten, zur Rückkehr in ihre lokalen Schulen zu bewegen.
Maria Maboko, Lehrerin der sechsten Klasse in der Tsumbedzo-Grundschule in Soweto hat zwei Kinder, die Schulen in den Vororten besuchen. Sie sagt, dass sie weit reichende Veränderungen im Lernen und Lehren im Township verlangt, bevor sie ihre Kinder wieder dorthin schicken würde. "Es sollte mehr als eine Handvoll guter Schulen in den Townships geben, damit die Eltern eine bessere Auswahl haben. Auch sollten die Finanzmittel fairer zugeteilt werden, damit die Schulen in den Townships die gleichen Bedingungen genießen wie die Schulen in der Stadt. Was ich auch möchte, ist eine bessere Leitung der Schulen. Es muss auch mehr Kooperation zwischen der Schulleitung, den Eltern und den Lehrern stattfinden - nicht so wie jetzt, wo sich die meisten Schulleiter mit der Schulverwaltung in den Haaren liegen."
aus: der überblick 04/2002, Seite 30
AUTOR(EN):
Thokozani Mtshali:
Thokozani Mtshali ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die südafrikanische "Sunday Times", wo dieser Artikel erstmals am 10. November 2002 erschien. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion nach.