Aidskranke gestalten ein persönliches Vermächtnis für ihre Familie und Freunde
Mit den »Memory Boxes« (Erinnerungsschachteln) können Aidskranke an ihre Nachwelt weitergeben, was für sie im Leben wichtig war. Das hilft ihnen selbst, besser mit ihrer Krankheit klarzukommen, und erleichtert die Kommunikation mit Familie und Freunden.
von Christina Stucky
Sechs Jahre lang sprach Phumzile mit keinem Menschen über HIV sechs Jahre lang blieb das Virus ihr Geheimnis. Erst als sie mit 22 schwanger wurde und ihr Kind HIV-positiv auf die Welt kam, erzählte sie ihren Eltern, dass sie mit 16, durch ihren ersten Freund, mit dem Virus infiziert wurde. Doch die Wege der Kommunikation zwischen Phumzile und ihrer Familie blieben verschlossen.
Auch als ihr Baby krank wurde, musste Phumzile allein damit zurechtkommen. Als sie sich einer Selbsthilfegruppe für HIV-Positive anschloss, erhielt sie endlich die Unterstützung, die ihre Familie ihr nicht geben konnte oder wollte. In dieser Gruppe hörte sie zum ersten Mal von memory boxes, von Erinnerungsschachteln. »Ich dachte damals, 'Mein Baby ist krank und die reden über Schachteln',« erinnert sich Phumzile. Als sie aber anfing, ihre eigene Memory Box aus einem alten Karton zusammenzustellen und ihre Lebensgeschichte für ihr Memory Book (Buch zum Gedenken) aufzuschreiben, spürte sie die heilende und befreiende Kraft der Erinnerungsarbeit. »Es ist, als ob man den ganzen Stress, den man spürt, in die Box rein tut. Sogar als mein Baby starb, gab diese Arbeit mir die Kraft, meine ganze Geschichte aufzuschreiben. Die Memory Box hilft dir, positiv zu leben, weil du nicht mehr diese Last tragen musst und sie in die Schachtel rein tun kannst.«
Ihr Memory Book half auch, wieder eine Brücke zwischen ihr und ihrer Mutter aufzubauen. Als sie ihr Buch fertig hatte, übergab sie es ihr. »Meine Mutter sagte, 'Warum hast du mir das alles nicht schon vorher gesagt?' Ich sagte, dass ich es versucht hätte, dass sie mich aber schlecht behandelt hätte. Meine Mutter war so beschämt. Ich sagte ihr aber, dass ich keine Wut oder Hass verspüre. Ich sagte ihr, dass ich meine Familie liebe. Meine Mutter hatte einfach nicht genügend Informationen über HIV und Aids und hat mich und mein Baby nur deshalb schlecht behandelt. Seitdem hat sich meine Beziehung zu meiner Mutter geändert. Sie ist besorgt und fragt mich immer, wie es mir gehe.«
Phumzile wurde später als Trainerin ausgebildet, um andere von den positiven Auswirkungen von Memory Boxes und Memory Books zu überzeugen. »Ich war erst 16, als ich HIV-positiv wurde. Dies war meine Chance, anderen zu helfen und vor allem junge Menschen zu erwischen, bevor sie infiziert werden,« sagt Phumzile. »Obwohl heute über HIV/Aids gesprochen wird, werden HIV-Positive stigmatisiert. Die, die offen über ihren Status reden, sind meist willens, eine Memory Box zu machen. Die, die ihren Status verleugnen, widersetzen sich der Idee.«
Memory Boxes und Memory Books werden nicht in Isolation zusammengestellt. In Gruppen helfen HIV-Positive einander, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Analphabeten können ihre Geschichte diktieren. Was aber in die Schachteln kommt und wie sie dekoriert werden auch die Größe der Schachtel selbst ist dem Einzelnen überlassen. Einige legen Kleidungsstücke, Gegenstände oder Tonbandkassetten in ihre Schachteln. Phumzile legte Spielzeugautos in ihre Memory Box, weil ihr Sohn gerne damit gespielt hat. Dazu legte sie Fotos und ihre Schuluniform, weil sie als Kind immer Ärztin werden wollte. Sie ist zwar nicht Ärztin geworden, doch glaubt Phumzile, dass die Memory Box und das Erinnerungsbuch ihr geholfen haben, wieder zu träumen. »Wenn du erfährst, dass du HIV-positiv bist, sperrst du alle deine Träume aus. Die Memory Box hilft dir, wieder an die Zukunft zu denken und dafür zu planen.« Phumziles Beispiel zeigt, welch eine positive Kraft Erinnerungsarbeit auf den Einzelnen ausüben kann.
Die Idee der Memory Boxes wurde in Afrika erstmals 1997 in Uganda von einer Selbsthilfegruppe für HIV-positive Frauen, der Ugandan National Community of Women Living with HIV/Aids (Nacwola), konzipiert. Sie haben die Memory Boxes vor allem in der Arbeit mit aidsbetroffenen Kindern eingesetzt. Seitdem werden Memory Boxes und Erinnerungsbücher in vielen Ländern Afrikas angewendet.
Das südliche Afrika ist am härtesten betroffen: Dort sind mehr als 12 Millionen Kinder unter 15 Jahren als Folge von Aids verwaist. Die nichtstaatliche Organisation (NGO) Family Health International (FHI) schätzt, dass bis zum Jahr 2010 zwischen 20 und 30 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in elf Ländern südlich der Sahara Aidswaisen sein werden, selbst wenn neue Infektionen verhindert werden und Medikamente den Ausbruch von Aids verzögern könnten. FHI glaubt daher, dass Kinder nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung betrachtet werden sollten. Kinder seien nicht eine passive, machtlose Zielgruppe, der geholfen werden müsse. Sie müssten als fähige und wichtige Kräfte in den Kampf gegen HIV/Aids mit einbezogen werden.
Ähnlich denkt auch Philippe Denis, Professor an der Universität von KwaZulu-Natal und Leiter des Sinomlando Centre for Oral History and Memory Work in Africa. Durch die Memory Box-Methode könnten Kinder offen über ihre Gefühle sprechen, und Erwachsene würden lernen, zuzuhören.
In Afrika hat der Staat nicht genügend Geld und Fachkräfte, diesen Kindern psychologische Hilfe zu leisten. Es musste also ein Konzept geschaffen werden, das billig ist und überall angewendet werden konnte. Die Memory Box-Methode ist ein Mittel, Kindern psychosozialen Beistand zu geben. Denis meint, die Methode trage außerdem dazu bei, die Einstellung der Erwachsenen gegenüber leidenden Kindern zu verändern. »Sie schafft eine Umgebung, in der die Gefühle der Kinder respektiert werden. Kinder haben Stärken und können mit ihrer Situation klar kommen. Doch diese Kräfte müssen erkannt, unterstützt und bestätigt werden,« sagt Denis. »Wir glauben, wenn Menschen eine größere emotionale Stärke haben, können sie auch besser mit den materiellen Problemen der Armut umgehen.«
Der Grundgedanke der Methode ist, dass Kinder, die trotz Krankheit und Tod ihrer Eltern sich gerne an sie erinnern, besser mit ihrer schwierigen Situation umgehen könnten. Sie entwickeln, was Psychologen resilience nennen, erklärt Denis. Resilience bedeutet, dass die Kinder sich nicht klein kriegen lassen, sondern eine Krise trotz gelegentlicher Rückfälle, Probleme und Tiefs selbstständig oder mit Hilfe anderer bewältigen.
Erinnerungsarbeit kann zudem eine wichtige Rolle im Kampf gegen das Stigma spielen, das mit HIV/Aids assoziiert ist. Beispielsweise ermöglichte das Erinnerungsbuch Phumzile, mit ihrer Mutter über das Virus zu sprechen, Stigmata abzubauen und das Leben mit der Krankheit zu bewältigen. In anderen Fällen, können Memory Boxes und Memory Books Betroffenen helfen, den HIV-Status vor Familienangehörigen zu enthüllen.
Erinnerungsarbeit verschafft unausgesprochenen Gefühlen und Ängsten Ausdruck, schlägt eine Brücke zwischen den Generationen und öffnet die Kommunikationswege. Simbabwische Kinder, die 2002 an einem Memory Projekt des Internationalen Roten Kreuzes teilgenommen hatten, sagten später aus, sie hätten gelernt, dass HIV/Aids »wie jede andere Krankheit ist« und »nicht das Ende bedeutet«. Andere erklärten, sie fühlten sich jetzt ihren Müttern viel näher und empfanden es als Vorteil, dass sie deren HIV-Status kennen. Die teilnehmenden Mütter fühlten sich »frei und nicht stigmatisiert«. Einige sagten: »Das Memory Projekt hat unsere Familie wieder zusammengeführt.«
Der Schwerpunkt der Erinnerungsarbeit hat sich jedoch in den Ländern, wo inzwischen antiretrovirale Medikamente erhältlich sind, verlagert. Memory Boxes sollen Betroffenen helfen, sich auf den eigenen Tod, den Tod der Eltern oder des Betreuers vorzubereiten und sich mit der Trauer auseinanderzusetzen. In Südafrika, wo Aids-Medikamente an staatlichen Krankenhäusern verteilt werden, liegt der Schwerpunkt nicht beim unabwendbaren Tod, sondern beim gesunden, positiv eingestellten Leben. Das bedeutet zwar nicht das Aus für Memory Boxes, aber Trainer wissen, dass diese Schachteln Särgen ähnlich für eine Reihe von Menschen den Tod symbolisieren. Sie müssen dann mit der Gruppe diese Einstellung durchdiskutieren.
»Aids-Medikamente haben die Dynamik verändert, weil HIV-Positive nun länger und gesünder leben,« sagt Glen Mabuza, genannt »Mama G«, eine Projektleiterin bei HIVSA in Johannesburg, einer NGO zur Unterstützung von HIV/AIDS betroffenen Menschen. Sie hat Jahre lang mit Memory Boxes gearbeitet. »Ich glaube, das Konzept muss vielleicht überarbeitet werden, aber es ist immer noch eine gute Methode. Memory Boxes zeigen offene Wunden aus der Vergangenheit, die dann heilen können. Das Wichtigste ist aber, dass Memory Boxes Betroffene dazu bringen, Verantwortung für ihr Leben und für das Virus zu übernehmen. Die Methode stellt Stolz und Würde der Betroffenen wieder her. Vor allem für Kinder ist es ein sehr, sehr spezieller Prozess.«
Jonathan Morgan, Koordinator des 10 Million Memory Projekts (10 MMP) zur Unterstützung von Techniken psychosozialer Hilfe, glaubt aber, dass die Memory Box-Methode zu sehr auf die Erwachsenen fokussiert ist und die Kinder immer noch zu sehr als passive Empfänger behandelt. Das Projekt, das vom Internationalen Roten Kreuz, der Regional Psychosocial Support Initiative (REPSSI) und Save the Children unterstützt wird, will 10 Millionen Kinder in Afrika bis 2010 mit Erinnerungsarbeit erreichen. Memory Boxes, Erinnerungsbücher oder Body Maps (Arbeit mit Körperkonturen) werden alle eine Rolle spielen, aber auch Hero Books (Helden Bücher). Dieses Konzept spreche Kinder direkt an, da sie die Autoren, Illustratoren und Redakteure ihrer eigenen Werke seien, sagt Morgan. Bei der Planung eines Hero Book benennen die Kinder ein Problem, das sie beschäftigt, und setzen sich mit Worten und Zeichnungen damit auseinander. Sie identifizieren auch einen »leuchtenden Moment«, wo sie selbst zu Helden wurden und einen Augenblick der Hoffnung oder der persönlichen Macht über das Problem verspürten. Das Hero Book gibt ihnen dann die Möglichkeit (mit Hilfe eines Betreuers), Tricks und Taktiken zu entwickeln, die ihnen ein Gefühl der Kontrolle über ihre schwierige Situation oder das Problem vermittelt und somit ihre resilience, ihre Widerstandskraft, aufbaut. Solche bunten Mini-Büchereien von Hero Books sollen quer durch Afrika eingerichtet werden, erklärt Morgan.
Mama G ist überzeugt, dass Erinnerungsarbeit auch in Zukunft eine tragende Rolle in der Bewältigung der Aids-Epidemie spielen wird. »Erinnerungsarbeit gibt Menschen mit HIV die Chance, über ihr eigenes Leben nachzudenken. Es geht aber nicht nur um HIV und Aids, denn Memory Boxes und Bücher können auch die Faktoren ausleuchten, welche diese Menschen von Anfang an verletzbar gemacht haben, beispielsweise ihr soziales und wirtschaftliches Umfeld. Memory Boxes werden so nicht nur zum Vermächtnis eines Erwachsenen an ein Kind, sondern zum Teil unseres nationalen Erbes. HIV/Aids ist ein Markstein für uns alle, damit wir über uns selbst nachdenken.«
aus: der überblick 02/2005, Seite 40
AUTOR(EN):
Christina Stucky
Christina Stucky ist freiberufliche Journalistin und Medientrainerin in Johannesburg, Südafrika.