Die Flüsse tragen das Land
Wenn du unterwegs ein Vogelnest findest auf einem Baum oder auf der Erde mit Jungen oder mit Eiern und die Mutter sitzt auf den Jungen oder auf den Eiern, so sollst du nicht die Mutter mit den Jungen nehmen, sondern du darfst die Jungen nehmen, aber die Mutter sollst du fliegen lassen, auf dass dir's wohlgehe und du lange lebest.
von Hans-Joachim Döring
Jenseits von allem politologischen Zeitgeist wurde bereits vor 2500 Jahren gefragt: Wie erhält man sein Leben in kargen Gegenden und gefährdeten Zeiten? Im 5. Buch Mose, in einer nomadischen Umwelt, findet sich vorangestellte Regel. Sie ist praktisch, unromantisch, warmherzig und plausibel zugleich. Sie enthält wichtige Punkte einer Definition über das, was heute als Nachhaltigkeit bezeichnet wird. Auf deinem Weg - Wanderer - wirst du immer wieder auch auf Ressourcen und Gaben stoßen. Wanderer, du wirst dich ihrer bemächtigen können, denn du bist stärker, für eine bemessene Zeit. Du darfst die "Früchte" des Nestes nutzen. Dir ist erlaubt dich zu stärken. Aber bedenke: Nutze so, dass die Gabe und die Ressource sich erneuern kann - Eier legen, Junge erbrüten und Früchte austragen.
Das letzte Maß deines Handelns ist nicht dein Hunger, schon gar nicht deine Gier, sagt uns die Regel. Das Maß ist die Erneuerbarkeit des Bestandes, von dem du im Moment dich nährst. Denk auch an die, die nach dir folgen auf der verdeckten Schnur der nomadischen Karawanenwege zwischen den Dünen und bis hinter den Horizont. Nutzen ist erlaubt, ja, aber lass die Mütter, die Trägersysteme leben. Erhalte sie, begrenze dich, damit es dir gut geht und du lange lebst auf Erden.
Ein Aufruf zum Maßhalten - für Ertrag und gegen Gewinn. Wo Gewinner sind, trifft man meist auch Verlierer. Nutzung ja, Ausbeutung nein. Solche Regeln sind vor allem in Gegenden von Sinn, in denen es wenig soziale und politische Kontrolle des Stärkeren - des Wanderers, der Menschen - und keinen juristischen Schutz der Schwächeren - der Vogelmutter, der Natur - gibt. Also in der Wüste, aber auch beim Welthandel.
Gerade nach der Sommerflut an Donau, Mulde und Elbe muss es wieder gesagt und daran erinnert werden: Bei aller verheerenden Zerstörung tragen die Flüsse auf ihren Armen das Land. Sie modellieren mit Adern und Fingerspitzen die Landschaften. Mitunter ziehen sie auch mit Hammerfäusten und Schlammschuhen gen Meer. Offenkundiger als im Flachland ist dies im Gebirge zu sehen. Höhenzüge trennen, Bäche und Flüsse verbinden. Gebirge wirken als Barrieren, Ströme als Kulturkanäle. Längs von Rhein, Donau und Elbe besiedelten die Menschen Europa. Flussläufe förderten durch Wagenwege, Binnenschifffahrt und als Ferntrassen frühzeitig die Industrialisierung und brachten Wohlfahrt. Die Flüsse tragen das Land.
Damit die Flüsse das Land weiterhin tragen können, muss den Strömen nach ihren geologischen Anforderungen Raum gelassen werden. Sonst schlagen sie über die Stränge wie in diesem Sommer. Das kann grausam und katastrophal für den Einzelnen werden. Die harten Schläge sind aber für uns in Mitteleuropa weder unerkennbares und unabwendbares Fatum noch von höherer Gewalt. Das erfahrene Leid wurde von Menschen verursacht, ist handgemacht und maschinengestützt.
Warnungen über mittelbare und unmittelbare Auswirkungen der planmäßigen Zerstörung der Fluss-Auen und ihrer Wälder waren gegeben. Das Wissen über die tatsächlichen Verläufe alter Flusswege und die Areale der Überschwemmungspolder ist vorhanden. Die Alten kannten Regeln. Die Wissenschaft hatte Konzepte. Trotzdem wurden die Flächen verkauft und bebaut. Nicht erst in der jüngsten Zeit. Den Flüssen wurde der Stauraum der Auen genommen. Sie wurden in zu schmale und zu hohe Deiche gezwängt, die Flusssysteme überlastet. Ihre Fähigkeit tragen zu können, schwand weithin. In dem Maße, wie unsere technischen Möglichkeiten wuchsen, sank unser Respekt vor den Gaben und Gefahren der Flüsse, den Verbindungslinien inmitten der Natur.
Auch die Achtung vor den anderen Trägersystemen der Erde, den Grundlagen unseres Zusammenlebens, fiel weiter. Achtungsschwund führt zu Respektlosigkeit. Respektlosigkeit fördert Übermut und Nachlässigkeit, und gepaart mit Gewinnsucht wächst daraus Gefahr. Das gilt für Grimma und Bitterfeld ebenso wie für Zentralindien und die Bauern am chinesischen Jangtsekiang. Dann hat das Schicksal scheinbar leichtes Spiel. Kollektives Vergessen trifft die einzelne Familie.
Zufällig zur Zeit der "Jahrhundertflut" in Ostdeutschland begann im südafrikanischen Johannesburg der UN-Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung (WSSD). Zehn Jahre nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro sollten Bilanzen aufgestellt werden über die bisher zurückgelegten Meilen und inzwischen schon wieder verworfenen Ziele auf den Wegen nachhaltiger Entwicklungen.
Die Parallelen zwischen dem Hochwasser und diesem Hochamt der UN-Diplomatie sind offensichtlich. Es geht um weltweite Regeln und Konzepte, welche die Tragfähigkeiten unserer ökologischen und sozialen Systeme erhalten sollen. Wasser war auch auf dem Weltgipfel ein wichtiges Thema. Nicht nur zu viel, auch zu wenig Wasser wird für die nächsten Jahrzehnte weltweit prognostiziert. Im Süden wird es vermehrt Wüsten und Konflikte ums knappe Trinkwasser geben; im Norden dafür Überschwemmungen. Eine Hauptursache ist die weltweite Klimaerwärmung aufgrund der Kohlendioxid-Emissionen. Hier zu viel, da zu wenig - Turbulenzen an vielen Orten. Der Fortschritt von gestern hielt nicht, was er für heute und morgen versprach. Neue, nachhaltige Entwicklungsschritte sollten in Johannesburg von einer mehrfach zerspaltenen Interessengemeinschaft erneut verabredet werden, damit Leben auf Grundlage von Leben weiterhin erstehen kann. Doch der Mut reichte nur für halbherzige Schritte. Warum sieht man nicht, was doch so deutlich ist?
Bauernregeln wie die aus dem 5. Buch Mose finden sich in manch alten Kulturen. Diese Vorschrift wurde ein wenig geheiligt, sie ist in die Bibel aufgenommen worden. Sie passt erstaunlich genau zu jener politischen Definition von Nachhaltigkeit, die sich unter Hunderten von Vorschlägen am weitesten durchgesetzt hat. Im Bericht der Brundtland-Kommission von 1987 wird Nachhaltigkeit beschrieben als eine Entwicklung, die "die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Die Botschaft ist deutlich: Erhaltet die Trägersysteme, schöpft aus ihnen, meinetwegen auch aus dem Vollen, aber schöpft sie nicht aus. Um uns selbst und unserer Nachkommen Willen.
Martin Luther hat den christlichen Glauben seinerzeit unter anderem beschrieben als das, was dich trägt und hält. Und Gott als den, dem man dafür danken kann und soll. Nachhaltigkeit als ein Konzept angestrebter Tragfähigkeit in einer tendenziell instabilen Welt hat auch Bezug zu dem, was einen selbst und persönlich trägt und hält.
Sensibilität für das eigene Gehalten-oder Gestoßenwerden des Glaubens, getragen (oder gefallen) zu sein, kann unser Verständnis für die Pflege von Trägersystemen in der Natur, in der Gesellschaft, selbst in der Wirtschaft schulen. Aus Verständnis könnte Achtung, Respekt und Ehrfurcht wachsen. Ehrfurcht treibt Ideenreichtum voran, entwickelt Courage für notwendige Schritte und macht Mut zum Weniger. Bei aller praktischen Arbeit der Kirchen in der Entwicklungszusammenarbeit und im Umweltschutz sollte die theologische und spirituelle Herausforderung zwischen "innerer" und "äußerer" Tragfähigkeit beziehungsweise dem "Getragenwerden" gesehen, angenommen und ins Gespräch gebracht werden. So viel Zeit und so viel Theologie sollte sein. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft, gerade auf dem vermeintlich technischen Feld der Nachhaltigkeit.
aus: der überblick 03/2002, Seite 117
AUTOR(EN):
Hans-Joachim Döring:
Hans-Joachim Döring ist Leiter der Fachstelle Umwelt und Entwicklung beim Kirchlichen Forschungsheim Lutherstadt Wittenberg.