Das Evangelische Missionswerk fragt nach - Eine Dokumentation
Das Evangelische Missionswerk in Deutschland hat im Vorfeld zum EKD-Zukunftskongress in Wittenberg unter dem Titel "Hinterm eigenen Horizont geht's weiter" Rückfragen an das Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit - Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert" gestellt. Wir dokumentieren Auszüge aus dieser Stellungnahme:
7) Die eigene Form Kirche zu sein - noch ergänzungsbedürftig?
"Außenorientierung statt Selbstgenügsamkeit. Auch der Fremde soll Gottes Güte erfahren können, auch der Ferne gehört zu Christus. Das Bild von 'Christus als Haupt der Gemeinde' veranschaulicht, dass seine Gegenwart in der Welt immer größer und weiter ist als der je eigene Glaube und die je eigene Gemeinde (vgl. Kolosser 1,15ff)." (S.45)
Der Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums an alle Völker hat von Beginn an den Horizont der Weltgemeinschaft im Blick. Dies war und ist für einzelne Menschen und Gemeinschaften aller Zeiten und Regionen ein Antrieb, um Mitmenschen auch in den fernsten Winkeln der Erde mit der Guten Nachricht zu erreichen. Im Laufe dieses Prozesses sind seit zwei Jahrtausenden überall auf der Erde christliche Gemeinden und Kirchen in großer Vielfalt entstanden. In der Suche nach Einheit werden Verschiedenheiten auch als Reaktionen auf die Mehrstimmigkeit des biblischen Zeugnisses verstanden.
Wird die oben zitierte Außenorientierung ernst genommen, so verbindet sich mit solcher Eingebundenheit in den Leib der weltweiten Christenheit die Einsicht, dass von den Stimmen anderer Kirchen für den eigenen Weg etwas zu hören, zu lernen und zu gewinnen ist. Dies gilt auch für Versuche, im Gespräch mit Partnern den je eigenen Kirchentyp zu profilieren. Partikularität und das Wissen um die eigene Ergänzungsbedürftigkeit gehören zusammen. Beides verlangt nach geschwisterlichen Begegnungen auch mit fernen Nächsten, die von ausdrücklicher Lernbereitschaft geprägt sind. Dabei wäre dann nicht das - vermeintlich oder wirklich - Unübertragbare zu betonen, sondern zuerst zu prüfen, was andernorts an Gutem, Vorwärtsweisenden für den eigenen Kontext zu erkennen ist.
Wer diese Dimension ökumenischen Miteinanders übersieht, steht in der Gefahr, Reform-Potentiale letztlich doch nur bei sich selbst zu suchen. Damit würde eine Betonung der Außenorientierung wenig glaubhaft und die Einsicht in die eigene Ergänzungsbedürftigkeit verdrängt.
8) "Wachsen gegen den Trend" - Wohin wird da geblickt?
"Bei einem aktiven Umbauen, Umgestalten und Neuausrichten der kirchlichen Arbeit und einem bewussten Konzentrieren und Investieren in zukunftsverheißende Arbeitsgebiete wird ein Wachsen gegen den Trend möglich." (S.7)
Weltweit betrachtet ist das Christentum die am stärksten wachsende Religion. Dieser Megatrend steht gegen jenen, der im Impulspapier ausführlich beschrieben wird und sich v. a. für Mitteleuropa feststellen lässt. Hier sind die empirischen Daten und Prognosen für einen Abwärtstrend evident.
Wenn nun auf einen Mentalitätswechsel mit dem Ziel einer Trendwende hingearbeitet wird, dann wäre es nahe liegend, Anschauungsmaterial heranzuziehen, das Auskunft geben kann über das beeindruckende Wachstum von Kirchen in anderen Weltgegenden. Denn der oft zu findende Hinweis, es handele sich da vor allem um mentalitätsverschiedene, charismatisch-pentekostale Gruppen mit Gemeindeaufbauerfahrungen, die für unseren kirchlichen Kontext eher unergiebig seien - er verdient eine ideologiekritische Durchleuchtung.
Genaues Hinschauen ist angebracht auf Prägungen wachsender Kirchen und die dort wirksamen gesellschaftlichen Trends; auf die zur Mitgliedergewinnung genutzten, offenbar anziehenden Instrumente (z.B. Umgang mit Charismen, Gebet, kenntlicher Spiritualität, Musik, präzise ethische Handlungsanweisungen, Verhältnis von überschaubaren Hausgemeinden zu Großveranstaltungen). Welche Konsequenzen zeigt der Einsatz für Gerechtigkeit und Versöhnung? Welche menschlichen Bedürfnisse werden vorausgesetzt und was wird vom lebendigen Gott erbeten?
Diese und andere Fragestellungen sind z. T. bereits umfassend untersucht worden. An Universitäten, Pastoralkollegs, aber auch bei Gemeindeveranstaltungen werden entsprechende Erfahrungen und Einsichten durch Menschen - etwa aus dem Kontext von Missionswerken und Partnerschaftsgruppen - vermittelt.
Im Impulspapier tauchen weder ähnliche Fragen noch Untersuchungsergebnisse auf. Auch dies deutet darauf hin, dass die Kraft zur Veränderung allein aus den beschriebenen Chancen und Potentialen unseres eigenen Kontextes erwachsen soll. Wir bezweifeln die Tragfähigkeit dieses Vorgehens und regen an, im weiteren Verlauf der Debatte Wachstumserfahrungen von Geschwistern an anderen Orten explizit mit einzubeziehen.
9) Die Konzentration von Landeskirchen und das Denken von Alternativen.
"Dennoch wird es für den inneren Zusammenhalt und die äußere Präsenz der evangelischen Kirche entscheidend sein, dass Landeskirchen eine ausreichende Größe und Kraft zur Wahrnehmung ihrer zentralen Aufgaben haben." (S. 94) Verschiedentlich wird zudem darauf hingewiesen, dass nach evangelischem Kirchenverständnis die organisatorisch-strukturelle Form der Kirche keine heilige Ordnung darstellt (z.B. S.33). "Bleibender Maßstab für diese Ordnung ist, dass sie die Aneignung des Evangeliums nicht erschwert oder gar verstellt, sondern für möglichst viele Menschen ermöglicht." (ebd.)
In den Umsetzungen wird dann u.a. von Konzentration gesprochen, dem Abbau von Arbeitsbereichen, dem Umbau von Strukturen und ihrer Ergänzung, von anderen Gemeindeformen neben den vorwiegend parochial ausgerichteten.
Und wieder: Die Existenz anderer Formen von Kirchen in unserem Land (z. B. Freikirchen u. ACK-Spektrum), in Europa (KEK, GEKE) und der Welt (ÖRK, LWB) sowie die Verbindung der EKD mit ihnen wird dabei nicht theologisch reflektiert. Ebenso wenig der Umstand, dass unsere territorial-bekenntnismäßig gewachsenen Kirchen-Gebilde in weltweiten Zusammenhängen eher die Ausnahme bilden. ...
Es mag am Ende einer langen Debatte aus mancherlei guten Gründen die Einsicht stehen, die bestehenden volkskirchlichen Formen seien - mit gewissen Korrekturen - bleibend die im Vergleich besten für unseren Kontext. Aber angesichts von Reformnöten, Aufbruchspathos und Aufwärtsagenda verwundert es doch, dass bereits der gedankliche Rahmen relativ eng gesteckt ist. Wenn andere Kirchen es geschafft haben sollten, auf ähnliche Herausforderungen in anderen Ordnungen erfolgreich zu reagieren, wäre eben zu prüfen, welche Strukturelemente dazu beigetragen haben.
10) Der Slogan "Evangelisch in Deutschland" - Das Land als Programm?
Die Beheimatung in der EKD als Ausdruck eines Evangelisch-in-Deutschland-Seins steigt angesichts der Mobilität der Menschen und ihrer zunehmenden situativen Teilnahme an kirchlichen Angeboten an. (S. 98)
Die EKD existiert als Evangelische Kirche in Deutschland eben dort, der Name hat ortsbeschreibenden Charakter. Nun soll programmatisch "Deutschland" als zentrale Bezugsgröße benannt werden. Dabei ist mit der Beschreibung eines "Evangelisch-in- Deutschland-Seins" eine Öffnung intendiert. Gegenüber ausschließlichen Beheimatungen in Orts- oder Schwerpunktgemeinden wird eine wachsende Bedeutung des EKD-Rahmens behauptet. Der Slogan möchte also eine "offenere und flexiblere Form von Zugehörigkeit" (ebd.) unterstützen.
Wieder ist zweifelhaft, ob "evangelisch" angemessen beschrieben werden kann, ohne sich explizit auf das Miteinander mit anderen protestantischen Kirchen hierzulande zu beziehen.
Problematisch ist hier: Wer den Slogan hört, ohne um seinen anti-lokalen Begründungszusammenhang zu wissen, wird den nationalen Bezugsrahmen zuerst in Abgrenzung gegenüber anderen Nationen hören. Dies ist nach WM-Erfahrungen und ähnlichen Kampagnen im säkularen Bereich sehr nahe liegend. Denn "Deutschland" klingt zuerst nach "Nicht-Dänemark" etc. und nicht nach "Nicht-Wittenberg". Trifft dies zu, dann sind problematische Konnotationen im Spiel.
Zudem ist in Zeiten innereuropäischen Zusammenwachsens und wachsender Bewusstwerdung der Globalisierung zu fragen, worin der Ertrag des nationalen Rahmens für kirchliches Leben bestehen soll. Welche Profilschärfung ergibt sich daraus, zumal wenn Hinweise auf multi-kulturelle und multi-religiöse Situationen im eigenen Land fehlen? Dieses Problem wird verschärft durch den an sich schlüssigen Duktus des Papiers, der Außenbeziehungen ausblendet und so mit einer gewissen Folgerichtigkeit in diesen Slogan mündet.
Er ist aufgrund der diskursiven Verortung des Begriffes "Deutschland" in seiner jetzigen Form kaum ausreichend geschützt gegen ethnisch-provinzielle Fehlinterpretationen.
Fazit, Konkretionen und Ausblick
Fazit
Im Impulspapier "Kirche der Freiheit" - "Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert" spielt weder in der Situationsanalyse noch in den Beschreibungen der Zukunftsvision die Existenz anderer Kirchen eine qualifizierte Rolle. Eine Auseinandersetzung mit ihren Antwortversuchen auf möglicherweise ähnlich gelagerte Fragen findet folglich nicht statt. Dass dies bewusst geschieht, macht den Umstand nicht besser. Denn der Hinweis, dass nach einer Konzentration auf zunächst entscheidende Handlungsfelder wieder eine Weitung des Reform-Blicks erfolgen soll, bleibt problematisch. Wenn Profilschärfung, Mentalitätswechsel und "Wachsen gegen den Trend" aussichtsreich in Angriff genommen werden können ohne qualifizierte Berücksichtigung der Ökumene als Grunddimension der Kirche, dann wird deren nachträglicher Eintrag kaum folgenreich sein. Was de facto erscheint, ist das Bild einer Kirche, die auf Erfahrungen, Ratschläge und Fürbitten ihrer Geschwister in der Nähe und Ferne, also auf eine lebendige ökumenische Gemeinschaft nicht angewiesen zu sein scheint. Entgegen anderslautenden Absichterklärungen sehen wir in solcher Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit eine bedauerliche Blickverengung.
Konkretionen ...
2) Ökumenisches Bewusstsein an der Kirchen-Basis ist schwer messbar. Wenn an konkreten Zielvorgaben für einzelne Arbeitsbereiche weiterhin festgehalten wird, wäre zu fragen, ob sich auch relevante Ökumene-Kriterien finden lassen. Dabei geht es jedoch nicht um Quantität. Vielmehr müsste gemeinsam und umfassend geprüft werden, welche der bekannten Instrumente sich auch heute noch bewähren, um auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen nachhaltige ökumenische Lernerfahrungen zu ermöglichen. Den regionalen Missionswerken kommt als bereits etablierten Kompetenzzentren für den Welthorizont dabei eine Schlüsselrolle zu.
3) Weil das Wissen um die Ökumene als Grunddimension kirchlicher Arbeit erst geschaffen, erhalten oder vertieft werden muss, sind unterstützende Maßnahmen zu prüfen und zu ergreifen. Dies bezieht sich auf die Verankerung der Thematik in der theologischen Aus- und Fortbildung ebenso wie auf die Qualifizierung von Laien. Fachbereiche für Mission und Ökumene, Missionsseminare und Ökumenische Werkstätten sind hierfür zentrale Orte. Auch in Zeiten knapper finanzieller Mittel sollte die horizonterweiternde Bedeutung ökumenischer Begegnungen, besonders auf Gemeindeebene, im Blick behalten werden.
Ausblick
Leuchtfeuer wurden - so lesen wir - als Orientierungslichter für Segler und Wanderer zur Zielfindung bei schwerem Wetter gesetzt. Jenes Ziel mag ein sicherer Hafen sein. Aber das Meer lenkt den Blick auf einen weiten Horizont, auch eine Ausfahrt benötigt Orientierung. Die Alternative zwischen Hafenrundfahrt und Weltreise für den Weg der evangelischen Kirche bis ins Jahr 2030 mag überspitzt sein, aber das hier formulierte Anliegen versuchsweise ins Bild setzen.
Wir hoffen, dass die Resonanz auf das Impulspapier anhält und der intendierte Erneuerungsprozess in den evangelischen Kirchen Deutschlands tatsächlich in Gang kommt. In der Gemeinschaft seiner Träger wird sich das EMW gern an der Debatte beteiligen und für bleibende und neue Verantwortungen im Horizont weltmissionarischer, ökumenischer Beziehungen eintreten.
aus: der überblick 01/2007, Seite 144