Die Kirchen und die Bekämpfung von Aids in Afrika
Kirchen haben in Afrika eine starke Stellung im Gesundheitswesen sowie Einfluss auf das alltägliche Verhalten. Deshalb können sie wesentlich zur Aids-Vorbeugung beitragen. Dazu müssen sie allerdings heikle Fragen wie das Sexualverhalten und das Geschlechterverhältnis ansprechen. Doch sie unterliegen denselben Tabus wie die gesamte Gesellschaft des jeweiligen Landes – manchmal noch verstärkt von der offiziellen kirchlichen Lehre.
von Christoph Benn
Für viele Zeitgenossen gehören die Kirchen, wenn es um Aids geht, eher zum Problem als zur Lösung. Sie werden in Verbindung gebracht mit rigider Sexualmoral und der Ablehnung von Vorbeugungsmaßnahmen wie zum Beispiel der Benutzung von Kondomen. Wie sagte einmal ein Mitarbeiter der Deutschen Aids-Hilfe, als es um eine mögliche Kooperation mit den Kirchen ging? "Aids und die Kirchen – das ist doch ein Widerspruch in sich." In der Tat haben die Kirchen oft erhebliche Schwierigkeiten gehabt, sich mit dem Thema HIV und Aids konstruktiv auseinanderzusetzen, und nicht selten wurden Bemühungen um eine wirksame Prävention eher behindert als gefördert. Dies ist auch öffentlich anerkannt und bedauert worden. So spricht die Studie des Ökumenischen Rates der Kirchen zu Aids davon, dass "die Reaktion der Kirchen im Großen und Ganzen unzulänglich gewesen ist und in einigen Fällen das Problem sogar noch verschlimmert hat".
Aber diese Aussage spiegelt nur einen Teil der Realität. In Afrika leben rund 70 Prozent aller HIV-Infizierten auf der Welt, und hier spielen die Kirchen eine bedeutende Rolle sowohl in der Gesundheitsversorgung als auch in der öffentlichen Meinung. In vielen Ländern des Kontinents haben die Kirchen durchaus zu einer wirksamen Aufklärung und einer menschenwürdigen Betreuung von Menschen mit HIV und Aids beigetragen. Es lohnt sich, die Reaktionen von Kirchen in unterschiedlichen Ländern im Einzelnen zu betrachten.
In Tansania wurden 1983 die ersten Aids-Fälle diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt war die Krankheit noch weitgehend unbekannt, und HIV-Tests waren noch nicht entwickelt. Die Krankheit erschien den meisten Menschen unbegreiflich und zugleich unheimlich. In den darauffolgenden Jahren unternahmen weder die Regierung noch die meisten Kirchen in Tansania irgendwelche Anstrengungen, die Bevölkerung vor der heraufziehenden Gefahr zu warnen. Aids war ein Tabu, über das nicht gesprochen wurde. Noch Mitte der achtziger Jahre konnte man in Kenia im Gefängnis landen, wenn man behauptete, dass es dort Aids gäbe. Eine solche Aussage wurde als rufschädigend für das Land und besonders für die florierende Tourismus-Industrie angesehen.
In dieser Atmosphäre war es bemerkenswert und weitsichtig, dass die Evangelisch-Lutherische Kirche in Tansania (ELCT) bereits 1987 ihr erstes Aids- Kontrollprogramm organisierte. Im Wesentlichen ging es dabei um Aufklärung und Information. In Kirchengemeinden und über die vielen kirchlichen Krankenhäuser und Gesundheitsstationen sollten die Menschen über die gefährliche neue Krankheit und ihre Übertragungswege aufgeklärt werden. Die Benutzung von Kondomen zu propagieren, war damals und ist bis heute allerdings ein Tabu. Die beiden einzigen akzeptierten Methoden, sich vor Aids zu schützen, waren und sind Abstinenz – also Verzicht auf Geschlechtsverkehr – sowie eheliche Treue. Kondome und auch Sexualaufklärung für Jugendliche wurden abgelehnt, da sie angeblich die Promiskuität fördern und damit die Sache noch verschlimmern würden. Leider wurden auch immer wieder Zweifel an der Wirkung von Kondomen geäußert, ohne dass wissenschaftliche Studien, die das Gegenteil belegten, zur Kenntnis genommen wurden.
Abgesehen von der Informationsarbeit stattete die ELCT über das Programm alle Krankenhäuser Tansanias mit Labormaterial aus, mit dem Blut auf HIV getestet werden kann. So ließen sich Infektionen durch Bluttransfusionen verhindern. Außerdem hielt sie Seminare für Theologen und kirchliche Mitarbeiter über die speziellen Anforderungen der Aids-Seelsorge ab. In einigen Diözesen bildeten sich Teams, die Theaterstücke zu Aids entwickelten und in Schulen, auf Marktplätzen und in öffentlichen Einrichtungen auf kreative Weise über Aids informierten.
Neben diesen durchaus begrüßenswerten Ansätzen gab es aber immer noch die andere Seite: In manchen Gottesdiensten wurde über Aids als Strafe Gottes gepredigt, und noch 1995 konnte der Generalsekretär einer lutherischen Diözese vor laufenden Fernsehkameras erklären, dass wahre Christen kein Aids bekämen. Insofern ist die ELCT durchaus typisch für die kirchliche Situation in vielen anderen afrikanischen Ländern. Neben guten Initiativen findet man eine weit verbreitete Doppelmoral und eine Scheu, sensible Themen wie Sexualität, Geschlechterverhältnisse, den Missbrauch vor allem von jungen Mädchen und den Kondomgebrauch offen anzusprechen.
Eine der aktivsten Kirchen in der Aids-Arbeit ist nicht nur in Afrika die Heilsarmee. In ihrem Krankenhaus in Chikankata in Sambia wurde Ende der achtziger Jahre das erste Programm zur häuslichen Betreuung von Aids- Patienten entwickelt (home based care). Die Mitarbeiter im Krankenhaus konnten die wachsende Zahl der Aids- Patienten nicht mehr aufnehmen und beschlossen daher, diese Patienten in ihrer häuslichen Umgebung zu betreuen. Es bildeten sich mobile Teams, die zusammen mit Dorfgesundheitshelfern eine gute und lokal angepasste Versorgung leisteten. Zugleich wurde deutlich, dass dieses Vorgehen auch für die Aufklärung ideal war, denn die betroffenen Familien hatten ein offenes Ohr für Gespräche über die Risiken von Aids und über mögliche Schutzmaßnahmen.
Das Chikankata-Modell der Heilsarmee gewann schnell internationalen Ruf und wurde von der Weltgesundheitsorganisation als nachahmenswertes Beispiel propagiert. Heute befindet sich in Chikankata ein Ausbildungsinstitut, in dem Menschen aus aller Welt wirksame Methoden der Betreuung von Aids-Patienten studieren und lernen, wie sie diese Arbeit mit Basisgesundheitsdiensten verbinden können. Die Heilsarmee führt mittlerweile Aids-Programme in zwölf afrikanischen Ländern durch und ist als wichtige und innovative Organisation international anerkannt.
Die katholische Kirche spielt sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der praktischen Aids-Politik in Afrika eine besondere Rolle, denn sie ist die größte Kirche mit den meisten Gesundheitseinrichtungen und vertritt sehr dezidierte Haltungen zu Fragen der Sexualität. Bekanntlich lehnt sie sogenannte künstliche Verhütungsmethoden strikt ab – gleich ob damit, etwa mit Kondomen, eine Schwangerschaft oder die Übertragung von HIV verhütet werden soll. Allerdings ist die theologische Begründung dafür anders als bei den meisten protestantischen Kirchen. Der Sexualakt soll laut der katholischen Kirche grundsätzlich für die Weitergabe des Lebens, also die Zeugung, offen sein, und insofern sind Kondome ebenso verpönt wie andere Kontrazeptiva. Diese offiziell immer wieder bekräftigte Haltung der katholischen Amtskirche wird in der Öffentlichkeit häufig als die Haltung der christlichen Kirchen insgesamt wahrgenommen.
Auf der anderen Seite ist die katholische Kirche in der Praxis durchaus sehr pragmatisch. Katholische Priester können durchaus akzeptieren, dass Paare Kondome verwenden, wenn sie dies aus seelsorgerlichen Gründen für angebracht halten. Es gibt katholische Krankenhäuser, die mehr oder weniger stillschweigend auch Verhütungsmittel einschließlich Kondome zur Verfügung stellen. Allerdings dürften sie dies nie als offizielle Haltung ihrer Kirche darstellen.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für den Pragmatismus unter Katholiken ist die Kampagne von Bernard Joinet. Er gehört zum Orden der Weißen Väter und lehrt an der Universität von Dar es Salaam in Tansania Psychiatrie. Schon frühzeitig hat er in seiner Kirche mit seinen offenen Briefen (Letters to my Superior) auf die Aids-Problematik aufmerksam gemacht und sich durchaus nicht gescheut, dabei heikle Themen anzusprechen. Später entwickelte er eine besonders originelle Bildergeschichte zur Aids-Aufklärung: die Flotte der Hoffnung. Er benutzte das Bild der Flut als Metapher für Aids und sagte, das Wichtigste beim Ansteigen der Flut sei, in ein Rettungsboot zu kommen. Im Prinzip gebe es drei Rettungsboote: Abstinenz, Treue und Kondome. Es sei nicht wichtig, welches Boot man wähle, sondern dass man überhaupt in ein Boot komme. Dieses Boot sei auch nicht notwendigerweise ein lebenslanger Aufenthaltsort – man könne zwischen diesen Booten hin- und herwechseln. Abstinenz könne ebenso wie die Benutzung von Kondomen ein Rettungsboot nur für eine Nacht sein.
Diese Bildergeschichte ist inzwischen in mehrere Sprachen übersetzt und wird in vielen Kirchen zur Aufklärung benutzt. Offensichtlich decken sich ihre Aussagen nicht mit der offiziellen Haltung der katholischen Kirche, aber selbst erklärten Gegnern von Sexualaufklärung und Kondombenutzung leuchtet das Bild der drei Rettungsboote weitgehend ein. Es führt auch zu der Einsicht, dass die Kirche niemanden von der Benutzung eines Rettungsbootes abhalten darf.
Ein weiteres erfreuliches Beispiel ist die Katholische Aids-Aktion (Catholic Aids Action) in Namibia. Dort führt die katholische Kirche ein landesweites Programm durch, das schon bemerkenswerte Erfolge erzielt hat. Sie kümmert sich nicht nur um Aufklärung und die Betreuung von Aids- Kranken und Waisenkindern, sondern es gelingt ihr auch, die Politik zu beeinflussen und dazu beizutragen, Aids in Namibia aus der Tabuzone herauszuholen. Die Katholische Aids-Aktion spricht auch in besonderer Weise Jugendliche an. In vielen Schulen haben sie Anti-Aids-Clubs gegründet. Die Mitgliedschaft in einem solchen Club ist mit einer Art Selbstverpflichtung verbunden. Jungen sollen sich bemühen, ihre traditionell dominante Rolle im Bereich der Sexualität Mädchen gegenüber nicht auszunutzen. Mädchen sollen ermutigt werden, selbstbestimmte Sexualität zu praktizieren und lernen, auch einmal Nein zu sagen. Dieses Konzept, das auch in vielen anderen afrikanischen Ländern wie Sambia und Uganda hauptsächlich von Kirchen gefördert wird, hat sich bislang als sehr hilfreich erwiesen. Es versetzt viele Jugendliche in die Lage, schädlichem Gruppendruck zu widerstehen und sich wirksam vor HIV zu schützen.
Nicht nur einzelne Kirchen, sondern auch ökumenische Institutionen haben sich im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit engagiert. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf hat Aids schon relativ früh zu einem Schwerpunktthema gemacht. Als es noch schwierig war, an fachlich gute Informationen über Aids heranzukommen, gab der ÖRK eine Broschüre heraus, die in vielen Ländern und Institutionen verbreitet wurde. In der Zeitschrift CONTACT, die kostenlos an Tausende von Mitarbeitenden im Gesundheitswesen verschickt wird, erschienen regelmäßig Reportagen und Reflexionen über Aids.
Anfang der neunziger Jahre wurde immer deutlicher, dass eine Aufklärung allein über Massenmedien und frontale Unterrichtsmethoden das eigentliche Ziel verfehlte, nämlich das Verhalten von Menschen auf einem so sensiblen Gebiet wie der Sexualität zu verändern. Das Sexualverhalten ist geprägt von Traditionen, kulturellen Prägungen und sozio- ökonomischen Strukturen. Es reicht nicht, Menschen nur über eine gefährliche Krankheit zu informieren und dann zu hoffen, dass sie ihr Verhalten dieser Bedrohung anpassen werden.
Aus der Sozialwissenschaft waren partizipative Methoden bekannt, die es den Menschen in ihren Gemeinschaften ermöglichten, ihre Situation zu analysieren, Probleme zu erkennen und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Einige dieser Methoden gehen zurück auf den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire, andere sind veröffentlicht worden unter dem Namen Participatory Action Research. Der ÖRK führte nun diese Methoden in einigen Pilotprojekten in Uganda, Zaire und Tansania ein und wertete die Erkenntnisse 1993 aus, um sie auch anderen Kirchen zur Nachahmung zu empfehlen. Die Ergebnisse waren zum Teil sehr bemerkenswert.
Einige Dörfer im Umkreis eines Gesundheitszentrums der anglikanischen Kirche in Uganda wandten die partizipativen Methoden systematisch an. Sie führten sogenannte Focus Group Discussions durch, in denen Männer und Frauen getrennt über ihre Beziehungen zueinander, über Sexualität und sexuellen Missbrauch sowie über herrschende Traditionen diskutierten. Nachdem klar geworden war, wo die Probleme lagen und warum sich Aids in dieser Gemeinschaft so dramatisch ausgebreitet hatte, wurden die Entscheidungsträger angesprochen. Dorfälteste, Bürgermeister und traditionelle Heiler wurden in die Diskussion einbezogen, um Änderungen in den Dörfern herbeizuführen. Am Ende wurden Beschlüsse gefasst: Traditionen wie der weit verbreitete Sexualverkehr von Männern mit ihren Schwägerinnen nach dem Tod des Bruders (widow inheritance) wurden verboten; Bars mussten früher schließen, um sexuellen Missbrauch nach Alkoholgenuss zu verhindern; Frauen wurden auf dem Weg zur Wasserstelle davor geschützt, von Männern sexuell belästigt zu werden; der Kondomgebrauch wurde gefördert; Mädchen sollten eine bessere Ausbildung erhalten, um wirtschaftlich unabhängiger zu werden; und vieles andere mehr. Frauen aus diesen Dörfern berichteten während eines Auswertungsverfahrens, dass sich ihr Leben nach dieser Intervention spürbar verbessert habe.
Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es bei der Aids-Bekämpfung immer um mehr geht als um die Verhinderung einer sexuell übertragbaren Krankheit. Wenn die Bedingungen verändert werden, die die Gefahr einer Verbreitung von HIV erhöhen, dann können damit gleichzeitig auch Lösungen für andere Probleme gefunden werden: ungewollte Schwangerschaften, Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch von Kindern, Alkoholgenuss und Drogenkonsum, Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen – um nur einige zu nennen.
Uganda ist inzwischen eines der wenigen Länder in Afrika, in denen die Raten der Neuinfektionen mit dem HIV unter jungen Menschen deutlich zurückgehen. Das ist mit Sicherheit nicht nur auf die Anstrengungen der Kirchen zurückzuführen, aber sie haben ohne Zweifel ihren Beitrag dazu geleistet. In Uganda ist es wie in leider kaum einem anderen afrikanischen Land gelungen, die Regierung und die Kirchen an einen Tisch zu bekommen und ein gemeinsames Programm zu entwickeln. Solange Regierungen nur auf die Verteilung von Kondomen setzen und die Kirchen dagegen anpredigen, werden die Menschen nicht wissen, wie sie ihr Verhalten ändern sollen. Nur wenn es wirklich zu intensiven, offenen und vorbehaltlosen Gesprächen kommt wie in den ugandischen Dörfern, kann die Gesamtsituation verbessert werden.
Insofern ist eine ablehnende Haltung der Kirchen gegenüber Kondomen vor allem dann schädlich, wenn sie eine gemeinsame und kohärente Haltung der wichtigsten Institutionen in einer Gesellschaft verhindert. Wieweit durch die Ablehnung von Kondomen alleine die HIV-Infektionsraten beeinflusst werden, lässt sich allerdings nur schwer abschätzen. Interessant ist hier eine Studie über die Ursachen des Rückgangs an HIV-Infektionen in Uganda, die die Weltgesundheitsorganisation WHO auf der AIDS-Konferenz in Durban im Juli 2000 vorgestellt hat. Diese Studie kommt zu dem Schluss, dass weniger die Erhöhung des Kondomgebrauchs für diese erfreuliche Entwicklung verantwortlich war, denn diese Tendenz war in Uganda nicht anders als in den Nachbarländern auch. Vielmehr scheint der entscheidende Faktor die Veränderung des Sexualverhaltens von Jugendlichen zu sein: Das Alter beim sexuellen Erstkontakt hat sich erhöht, was zu einer geringeren Anzahl von wechselnden Sexualpartnern führt. Insofern wird ein erfolgreiches AIDS-Programm immer von einer komplexen Mischung zwischen technischen Interventionen und Verhaltensänderungen abhängen.
Aufschlussreich für die Haltung der Kirchen ist auch eine Studie des ÖRK und die Art, wie sie zustande kam. Im Januar 1994 beschäftigte sich der Zentralausschuss des ÖRK auf seiner Tagung in Johannesburg mit dem Thema Aids. Man war sich schnell einig, dass man den Erkrankten und ihren Familien helfen müsse, und hörte mit großer emotionaler Anteilnahme die Schilderungen von zwei betroffenen Personen. Als aber einige Ausschussmitglieder dafür plädierten, auch über die Hintergründe von Aids und über die kirchliche Haltung zu Fragen der Sexualität zu diskutieren, wurde die Sitzung beendet. Es war deutlich, dass die Mitgliedskirchen in diesen Fragen ganz unterschiedliche Standpunkte vertreten.
Daraufhin wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um eine Studie zu erarbeiten, die einen Ausweg aus dieser Situation weisen sollte. Als sich die fünfzehn Mitglieder der Arbeitsgruppe im September 1994 zum ersten Mal trafen, war von vornherein klar, dass sich die tiefgreifenden Differenzen zwischen den Kirchen und innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften auch in der Gruppe widerspiegelten. Trotzdem gelang es, einen gemeinsamen Bericht zu erstellen.
In dieser Studie wurde Sexualität als gute Gabe Gottes interpretiert, wurde die Kirche als inklusive Gemeinschaft bezeichnet, die Menschen mit HIV- Infektion oder Aids bedingungslos akzeptieren sollte, wurden Kondome als wichtiger Teil der Aids-Prävention anerkannt und wurden die Kirchen aufgefordert, sich mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, dass die Diskriminierung von HIV-Infizierten und die Tabuisierung von Aids in allen Gesellschaften beendet würde. Diese Thesen wurden vom Zentralausschuss des ÖRK 1996 offiziell angenommen und allen Mitgliedskirchen zum Studium und zur Umsetzung empfohlen.
Der Arbeitsgruppe war von vornherein klar, dass eine Studie allein nicht viel verändert und nur allzu leicht auf dem Bücherbord von Theologen und in Bibliotheken verstaubt. Darum haben von Beginn an Pädagogen an dem Prozess teilgenommen, die sich darüber Gedanken machten, wie die Thesen an die Basis, in die Gemeinden und Gesprächsgruppen gelangen könnten. Das Ergebnis ihrer Arbeit war eine Arbeitsmappe mit dem Titel HIV/Aids – Education in the context of vulnerability, die inzwischen in mehreren Sprachen vorliegt. In vier Modulen zu den Themen Gemeinschaft, Veränderung, Verletzlichkeit und füreinander Sorgen erhalten interessierte Personen und Gruppen Anleitungen zu Gruppengesprächen, Aktionen, Bibelarbeiten, Gottesdienstplanung und anderem.
Die Arbeitsmappe ist inzwischen sehr gut angenommen worden. Das Aids- Programm der Vereinten Nationen (UNAIDS) hat den ÖRK gebeten, gemeinsam mit ihnen ein Programm zu entwickeln, um dieses Konzept in verschiedenen Ländern umzusetzen. Zunächst wurden in zwei Pilotländern, in Simbabwe und Indien, Multiplikatoren ausgebildet, um die Anwendung der Module zu lernen. Sie sind jetzt schon in vielen Gemeinschaften tätig und stoßen auf große Resonanz. Andere Länder wie die Elfenbeinküste und Chile haben bereits darum gebeten, in die nächste Phase aufgenommen zu werden, und Multiplikatoren benannt.
Die Studie und das pädagogische Material werden nicht auf einen Schlag die Haltung der Kirche zu Aids und Sexualität verändern. Aber engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die es in praktisch allen Ländern und Kirchen gibt, können sich auf diese offiziellen Stellungnahmen beziehen und das vorhandene Material benutzen. Dadurch wird denjenigen der Rücken gestärkt, die Veränderungen in ihrer Gesellschaft und ihrer Kirche erreichen wollen, wie es in Uganda bereits geschehen ist.
Die Kirchen unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf Aids nicht wesentlich von den jeweiligen Gesellschaften der Länder, in denen sie tätig sind. Gemeindemitglieder sowie die offiziellen Repräsentanten der christlichen Kirchen haben zunächst einmal dieselben Vorbehalte und Vorurteile gegenüber dieser Krankheit wie andere Menschen auch. Wenn Sexualität in einer Gesellschaft tabu ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine Kirche dort dieses Thema ebenfalls nicht offen ansprechen wird. (siehe Kasten: Auch in Asien tun sich die Kirchen schwer ) Wird Aids hingegen in einer Gesellschaft als eine Infektionskrankheit behandelt, vor der man sich schützen sollte wie vor anderen auch, dann wird es den Kirchen leichter fallen, ohne Hysterie und Ablehnung zu reagieren.
Trotzdem kann man von den Kirchen erwarten, dass sie sich der Not von Menschen besonders intensiv widmen und sich ohne Vorbehalte dafür einsetzen, dass möglichst wenig Menschen von dieser furchtbaren Krankheit betroffen werden. Beispiele für einen solchen Einsatz und für gelebte Mitmenschlichkeit hat es in praktisch allen Ländern viele gegeben. Es ist für die Zukunft zu hoffen, dass sich die Kirchen überall auf der Welt dafür einsetzen, dass die Diskriminierung von HIV-Infizierten abgebaut wird, dass alle Betroffenen eine angemessene Versorgung erhalten und dass die wirksamen Maßnahmen zur Eindämmung dieser Pandemie überall angewendet werden.
Die Kirchen haben eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Aids. Sie können das Verhalten von Menschen und das Leben in Gemeinschaften günstig beeinflussen, sie können über ihre Gesundheitseinrichtungen und ihr Fachpersonal wichtige Hilfestellung bei der Versorgung der Aids-Patienten anbieten, und sie können ihre gesellschaftliche Position dafür einsetzen, dass ein Klima der Akzeptanz und Solidarität entsteht. Diese Rolle der Kirchen wird zunehmend auch von säkularen Organisationen im internationalen Bereich wahrgenommen und unterstützt. So besteht berechtigte Hoffnung, dass die Kirchen zunehmend ein Teil der Lösung dieses so dringenden globalen Problems werden.
Aids-BekämpfungAuch in Asien tun sich die Kirchen schwerAids ist nicht nur in Afrika ein schwerwiegendes Problem. Kirchen engagieren sich zum Beispiel auch in Asien im Kampf gegen die Verbreitung dieser Krankheit und treffen dort auf ähnliche Probleme mit Tabus wie in Afrika. Zum Teil haben sie bemerkenswerte Initiativen entwickelt - beispielsweise in Indien. Dies ist das Land mit den meisten HIV-Infizierten in absoluten Zahlen. Niemand weiß genau, ob sich dort inzwischen vier oder acht Millionen Menschen mit HIV infiziert haben, aber Aids stellt eine ungeheure Bedrohung für Indien mit seiner riesigen Bevölkerung dar. Die Kirchen, die in diesem Land sehr viele Krankenhäuser unterhalten, haben sich zunächst schwer getan, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Es gab Berichte, dass auch in kirchlichen Krankenhäusern HIV-infizierten Menschen der Zutritt verweigert wurde. Und Sexualität war so tabu wie in vielen anderen Ländern auch. Als die Weltbank aber Mitte der neunziger Jahre Indien einen Millionenkredit zur Aids-Bekämpfung gab, besann sich die Regierung in New Delhi auf die Christen, die ja nur eine verschwindend kleine Minderheit in diesem Land darstellen. Der Leiter des nationalen Aids-Programms bat den christlichen Medizinerverband Christian Medical Association of India, mit dem Geld der Weltbank ein landesweites Programm durchzuführen, mit dem zunächst die Ärztinnen und Ärzte und dann auch das Krankenpflegepersonal in der Behandlung von Aids-Kranken ausgebildet werden sollten. Die Begründung war, dass die Christen doch besondere Erfahrung im Umgang mit Randgruppen und Ausgestoßenen hätten. Thailand ist ein weiteres Land in Asien mit einer relativ hohen HIV-Durchseuchung. In diesem buddhistischen Land sind die Christen eine noch kleinere Minderheit als in Indien. Als in der nordthailändischen Stadt Chiang Mai immer mehr Menschen an Aids erkrankten, wollte sich eine Gruppe von Geistlichen der Church of Christ in Thailand diesem Problem widmen. Als ihre Kirche zögerte, legten sie kurzerhand ihre Gemeindearbeit nieder und gründeten ein Aids-Projekt. Sie besuchten Aids-Patienten in ihren Häusern, organisierten häusliche Krankenpflege und eröffneten Treffpunkte für Betroffene. Dieses Projekt wurde zu einem Modell für den Umgang mit Aids-Patienten in ganz Thailand, sodass die Regierung in Bangkok die Gruppe sogar bat, Fortbildungsseminare anzubieten, um das Modell auch in anderen Regionen einzuführen. Ähnliche Beispiele ließen sich auch aus anderen asiatischen Ländern berichten. Das zeigt, dass sich die verfassten Kirchen oftmals schwer tun mit einer institutionalisierten Antwort auf Aids und alle Themen, die damit angesprochen sind. Es zeigt aber auch, dass es immer wieder engagierte Christinnen und Christen gibt, die gerade darin eine besondere Aufgabe sehen und beispielhafte Initiativen entwickeln. Christoph Benn |
aus: der überblick 03/2000, Seite 58
AUTOR(EN):
Christoph Benn:
Dr. Christoph Benn ist Mediziner und Aids-Beauftragter am Deutschen Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen. Er hat die Aids-Arbeitsgruppe des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf moderiert, an der ÖRK-Studie "AIDS und die Kirchen" (Lembeck Verlag, Frankfurt 1997) mitgearbeitet und war von 1988 bis 1992 Koordinator des Aids-Kontrollprogramms der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Süd-Tansania.