Viel Bestätigung, wenig Disput
Im Vordergrund des Kirchentags in Berlin stand das Verhältnis der verschiedenen Konfessionen zueinander. Doch Veranstaltungen zu entwicklungspolitischen Fragen fanden durchaus Zuhörer. Viele fragten nach Hinweisen, wie sie ihr persönliches Verhalten an globaler Verantwortung ausrichten können. Andere suchten das Gefühl, mit anderen am selben Strang zu ziehen, nur wenige die Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen.
von Barbara Riek
In den drei Ausgaben der "Ökumenischen Kirchentagszeitung" gibt es nur einen einzigen Hinweis auf entwicklungspolitische Fragen. Daraus zu schließen, dass die keine Rolle gespielt haben, wäre aber falsch. Es gab eine große Anzahl an Veranstaltungen zu Fragen der weltweiten Gerechtigkeit, die meisten mit gutem oder akzeptablem Publikumszuspruch. Auf dem "Markt der Möglichkeiten", präsentierten sich unzählige "Eine-Welt"-Gruppen oder -Organisationen. Das Gedränge in den Gängen, viele angeregte Gespräche und mit Informationsmaterial gefüllte Baumwolltaschen beim Publikum deuten auf ein ungebrochenes Interesse an Nord-Süd-Fragen hin.
Trotzdem: Entwicklungspolitik prägt nicht die Schlagzeilen von diesem Kirchentag. Das muss nicht überraschen: Es war der erste ökumenische Kirchentag. Entsprechend kreisten viele Veranstaltungen und Gespräche um die Frage, wie die konfessionelle Spaltung aufgehoben oder ihre Folgen abgemildert werden können.
Die geringe Prominenz von entwicklungspolitischen Themen liegt aber auch daran, dass sich die Beschäftigung damit in den vergangenen Jahren ausdifferenziert und spezialisiert hat. "Globalisierungskritik" scheint nur in einem begrenzten Kreis von Aktiven und Interessierten eine gemeinsame Klammer darzustellen und ist zu ungenau, um wirklich zu mobilisieren.
Auf dem Kirchentag war das gesamte Spektrum der entwicklungspolitisch Aktiven vertreten: die Partnerschaftsgruppe, die sich als unpolitisch versteht und der das Wohl von Kindern in einem Land des Südens am Herzen liegt; die verschiedenen Fair-Handels-Organisationen, die mit fairem Handel Produzenten im Süden ein Auskommen sichern und gleichzeitig in Deutschland und Europa zu einer Veränderung von ungerechten Strukturen bei-tragen wollen; Aktionsgruppen und Informationsstellen, die ein Spezialthema bearbeiten und dazu Bildungs- und Lobbyarbeit machen; eine Vielzahl an nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), die mit Hilfsmaßnahmen im Süden und/oder mit Lobbyarbeit gegenüber Politik und Wirtschaft einen Beitrag zu mehr Gerechtigkeit leisten wollen; und schließlich Gruppen, die das bestehende Gesellschaftssystem für nicht reformierbar halten.
Veranstaltungstitel wie "Die neuen Rezepte von internationalem Währungsfonds und Weltbank auf dem Prüfstand" oder "Den globalen Agrarhandel gerecht gestalten", die von Mitarbeitern der kirchlichen Entwicklungswerke (EED, "Brot für die Welt" und Misereor) vorbereitet und mitgestaltet wurden, machen deutlich, dass es den entwicklungspolitischen NGOs nicht (mehr) nur darum geht, die Situation in den Entwicklungsländern und das Verhältnis zwischen Nord und Süd zu analysieren. Sie wollen auch in Zusammenarbeit und in Abstimmung mit Partnerorganisationen im Süden Schritte der Veränderung prüfen und vorschlagen. Die Entwicklungswerke präsentierten sich als selbstbewusster Teil der Zivilgesellschaft, die ihre Rolle als Kritiker, zunehmend aber auch als Gesprächspartner der Politik oder internationaler Finanzinstitutionen zu spielen wissen und Gehör finden. Auf dem Kirchentag wurde nicht nur über die Weltbank und den Weltwährungsfonds oder die Bundesregierung gesprochen, sondern mit ihnen. Die Veranstaltungen waren deshalb wertvolle Foren, die sowohl den kirchlichen Hilfswerken als auch einem interessierten Publikum die Möglichkeit boten, sich in die Diskussion einzuschalten und Einflussmöglichkeiten auszuloten.
Doch diese Suche nach Interventionsmöglichkeiten reicht vielen Kirchentagsbesuchern nicht. Sie wollen es auch nicht dabei belassen, sich über Entwicklungen und Fehlentwicklungen zu informieren. Ihnen geht es vielmehr darum, das eigene Handeln oder Unterlassen im globalen Kontext zu sehen und Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend tauchte in vielen Veranstaltungen die Frage nach einer Veränderung der privaten Konsummuster auf: Bei einer Veranstaltung der Clean Clothes Campaign (Kampagne für saubere Kleidung) wurde nach dem richtigen Verhalten beim Kleider- oder Turnschuhkauf gefragt. Dass es zur Zeit in diesem Bereich keine Alternative zum kommerziellen Handel gibt, war für Viele enttäuschend und schwer auszuhalten. Eine Veranstaltung zu ethischem Investment hatte phasenweise den Charakter einer Verbraucherberatung. Auf dem Podium saßen Sachkundige, die detailliert Auskunft über verantwortbare Anlagemöglichkeiten geben konnten, und genau dies wurde nachgefragt.
Veranstaltungen, die sich mit globalisierungskritischen Fragen beschäftigten, waren gut besucht. Drei, vier oder sogar fünf Referate zu hochkomplexen Themen wurden vom interessierten Publikum diszipliniert hingenommen. Dabei ging es bei Veranstaltungen wie "'Wirtschaften für das Leben' im ökumenischen Bekenntnisprozess" mehr darum, möglichst viele Aspekte eines Themas anzusprechen und weniger darum, unterschiedliche Meinungen zu Gehör zu bringen. Solche Veranstaltungen dienten in erster Linie dazu, Menschen zu informieren, sie in ihrem Engagement zu bestätigen und ihnen das Gefühl zu geben, mit vielen anderen am selben Strang zu ziehen.
Die Chancen, die in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen lägen - von der Änderung oder Schärfung der eigenen Position bis hin zur Einübung in die Auseinandersetzung mit Vertretern der neoliberalen Wirtschaftsordnung -, wurden dagegen nicht ausreichend genutzt. Selbst zwischen denen, die mit kleinen Schritten Erleichterungen für die Unterprivilegierten zu erreichen suchen (und dafür auch den Terminus "Globalisierungskritik" wählen), und denen, die im Rahmen der neoliberalen Wirtschaftsordnung keine Handlungsmöglichkeiten sehen, fand auf dem Kirchentag nur in wenigen Veranstaltungen ein wirkliches Gespräch statt.
Gesucht wurde es zum Beispiel in einer Veranstaltung unter dem Titel: "Wer, wie, was - wohin geht die globalisierungskritische Bewegung?" Mehr als zweitausend Besucher kamen und wurden mit ihren roten und grünen Karten zu "Schiedsrichtern" über die Argumentationskraft der Vortragenden gemacht. Soweit sich dies an zwei Kärtchen ablesen lässt, zeigte sich das Publikum offen für verschiedene Argumente und bereit, eingefahrene Analysemuster der einen oder anderen Seite zu verlassen.
Nach der Kirchentagsstatistik waren 40 Prozent der Besucherinnen und Besucher unter dreißig Jahre alt. Das Publikum der entwicklungspolitischen oder globalisierungskritischen Veranstaltungen auf dem Messegelände war jedoch mehrheitlich mittleren Alters oder älter. Die Vermittlungsformen waren deutlich auf dieses ältere Publikum zugeschnitten. Methodenwechsel oder jugendgemäße Formen waren Mangelware.
Im "Zentrum der Jugend" - weitab vom Messegelände und fast nur von Jugendlichen besucht - verfolgten die kirchlichen Jugendverbände einen anderen Ansatz. Unter dem viel versprechenden Titel "Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt" waren junge Leute eingeladen, sich mit Globalisierungsfragen zu befassen, und folgten dieser Einladung in bemerkenswerter Zahl. Die Veranstaltung setzte an ihrer Erfahrungswelt an. Ein Handy, eine Cola-Dose und ein Hamburger spazierten über die Bühne und machten augenfällig, dass die Entgrenzung von Wirtschaftsräumen und ihre problematischen Folgen Jugendliche ganz unmittelbar betreffen. Aber auch hier folgte dann ein Podiumsgespräch, das dem guten Ansatz schnell die Dynamik entzog.
Unter den fast 200.000 Dauerteilnehmern waren 5400 Menschen aus 90 verschiedenen Ländern. Viele waren als Referierende eingeladen. Zwar hatten einige dabei nur die Funktion, die Positionen der jeweiligen Veranstalter zu untermauern, die meisten trugen jedoch wesentlich zur Qualität der Diskussionen bei. Der Patriarch Michel Sabbah aus Jerusalem gab nicht nur einen sachlichen Einblick in die Forderungen und Wünsche der Palästinenser im Nahostkonflikt, sondern machte auch deutlich, wie sich die Politik westlicher Länder aus der Perspektive des Nahen Ostens darstellt: "Wenn man seinen Freund wirklich beschützen will, dann umgibt man ihn nicht mit Feinden, sondern mit Freunden."
Für viele Organisationen, Gemeinden und Gruppen erschloss der erste Ökumenische Kirchentag künftige Kooperationsmöglichkeiten, brachte mitunter aber auch Unterschiede erst richtig zum Bewusstsein. So wurde er für viele zu einem Übungsfeld der Zusammenarbeit. Anders für kirchliche Hilfswerke wie den EED, "Brot für die Welt" oder Misereor, für viele entwicklungspolitische Aktionsgruppen und für die kirchlichen Jugendverbände. Sie konnten auf dem Kirchentag tun, was sie schon immer tun: Seit mehr als 30 Jahren führen sie wichtige Aktionen und Kampagnen gemeinsam durch und bringen das gemeinsame Anliegen gegenüber Politik und Öffentlichkeit gemeinsam vor. Dies deutet sicher weniger darauf hin, dass hier die kooperationsfähigsten Menschen mitarbeiten oder Fragen der konfessionellen Spaltung besonders klug durchdrungen würden. Vielmehr steht dahinter die schlichte Erkenntnis, dass die ohnehin schwachen Kräfte gebündelt werden müssen, um überhaupt gehört zu werden. Aber auch die gute Erfahrung, dass konfessionelle Spaltung durch gemeinsames Tun überwunden werden kann. Hier gibt es zur Ökumene keine Alternative.
aus: der überblick 02/2003, Seite 120
AUTOR(EN):
Barbara Riek:
Barbara Riek ist Leiterin des Referats Bildung und Förderung im EED.