Ein Bollwerk zum Schutz der EU vor unerwünschter Einwanderung
Noch kann man von hier zu Fuß über die Grenze nach Weißrussland hinein laufen - zumindest ein kleines Stück.
von Steven Erlanger
Wir übernehmen den Text von Steven Erlanger mit freundlicher Genehmigung des New York Times Syndicate leicht gekürzt aus der International Herald Tribune vom 28.8.2000.
In Nieznany Bor verläuft die Grenze, an der Europa endet. Der kleine Fleck heißt wörtlich übersetzt "unbekannter Wald" und liegt nicht weit entfernt von Bialowieza. Hier liegt Polens Grenze zu Weißrussland, die bald die Grenze der Europäischen Union (EU) zum "wilden, ungezähmten und unverbesserlichen Osten" sein wird.
Noch kann man von hier zu Fuß über die Grenze nach Weißrussland hinein laufen - zumindest ein kleines Stück. Dann stößt man auf den Grenzzaun mit den elektronischen Sensoren und dem gepflügten und geharkten Streifen Erde davor, der Fußabdrücke sichtbar macht. Die frühere Sowjetunion hat den Zaun gebaut, um sogar ihre damaligen Verbündeten, die Polen, fern zu halten.
Weißrussland ist inzwischen dabei, diese Hinterlassenschaft des Kalten Krieges wieder abzubauen; zugleich aber drängt die EU Polen, als Preis für die Mitgliedschaft des Landes in der EU eine neue, postkommunistische Barriere aufzubauen. Vor allem Deutschland und Österreich wollen, dass die Polen einen von manchen so genannten "belgischen Vorhang" errichten - belgisch deshalb, weil die EU in Brüssel ihren Hauptsitz hat.
Ob es den Polen gefällt oder nicht: Sie werden die Hauptlast der Anstrengungen tragen, den illegalen Handel und die unerwünschte Einwanderung in eine EU abzuwehren, die keine traditionellen Binnengrenzen mehr besitzt. Die Abschottung wird den grenznahen Handel stark schädigen, mit Hilfe dessen sich die östlichen Randgebiete, die zu den ärmsten Regionen Polens zählen, überhaupt über Wasser halten können.
Diese Grenze ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, als die Siegermächte auf der Konferenz von Jalta die Grenzen neu zogen und Stalin in Osteuropa bekam, was er wollte - auch einen Teil von Polen. Dass die heutige Grenzregion früher eine Einheit war, wird offenbar, wenn man die Architektur und die Silhouette der Orte betrachtet. Viele russisch-orthodoxe Kirchen sind da zu sehen, darunter die gewaltige moderne Kathedrale in der Nähe von Hajnowka, die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit. Sie wurde 1992 nach fast 20 Jahren Bauzeit geweiht.
Hier trifft das römisch-katholisch geprägte Polen auf die orthodoxe Welt des Ostens. In Hajnowka leben etwa doppelt so viele Russisch-Orthodoxe wie Katholiken, und im Umland ist der Anteil der Orthodoxen noch höher. Die Grenze trennt auch Familien; nicht weniger als 500.000 Menschen polnischer Abstammung leben auf weißrussischer Seite und 300.000 Weißrussen auf der polnischen.
Das Gebiet östlich und südöstlich der Stadt Bialystok ist weitgehend von Landwirtschaft geprägt und hat kaum Industrie. Das Durchschnittseinkommen liegt dort 35 Prozent unter dem nationalen Durchschnitt, und die versteckte Arbeitslosigkeit auf dem Land ist hoch. Bis August 1998, als der Außenwert des russischen Rubel abstürzte, gab es einen regen Handel über die Grenze hinweg. Weißrussen brachten billigen Wodka über die Grenze und verkauften ihn in Polen; von den Einnahmen kauften sie polnische und europäische Produkte für den Weiterverkauf in ihren Heimatorten, um mit weiteren völlig überbewerteten Rubeln zum erneuten Einkauf nach Polen zurückzukehren. Mit zunehmender Kaufkraft des Rubels erholt sich jetzt dieser "Kofferhandel" wieder - genau zu einer Zeit, in der Europa Druck auf Warschau ausübt, die Grenze dicht zu machen.
Wlodzimierz Cimoszewicz, der bis 1997 polnischer Ministerpräsident war, vertritt heute diesen Landstrich im Parlament. Er drängt darauf, die Grenzkontrollen zu lockern, sodass Familien und kleine Händler auch weiter möglichst ungehindert die Grenze passieren können. Er argumentiert auch politisch und weist auf die Ausbreitung von Ideen und Freiheit hin: "Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir auf der anderen Seite eine Terra inkognita schaffen", sagt er. "Wir müssen die Lebensbedingungen jenseits der Grenze verbessern. Natürlich müssen wir krankhafte Aspekte wie Verbrechen und illegale Einwanderung kontrollieren, aber wir dürfen dabei nicht den Handel ersticken."
"Polen wird als künftige Außengrenze der Europäischen Union in einer sehr unbequemen Lage sein", sagt Krzysztof Bledowski, der Chefökonom der Firma Wood & Co. Einerseits wird Polen ein Anziehungspunkt und Umschlagplatz für den Handel sein, andererseits entlang der gesamten Ostgrenze aber auch ein Einfallstor für Kriminalität, Menschen-, Drogen- und Warenschmuggel bilden.
Der Wald von Bialowieski ist einer der letzten Urwälder in Europa. Ein 5000 Hektar großer Nationalpark schützt die Bestände von Linde, Ahorn, Eiche, Fichte und Esche, in denen Füchse, Luchse, Bisons und Rehe leben. Schon jetzt, sagt der Oberförster Jerzy Lugowoj, habe er Tunnel unter den Grenzzäunen der Weißrussen entdeckt und illegale Einwanderer auch aus Afghanistan und Vietnam aufgegriffen.
Polens Wirtschaft wächst jährlich um etwa sechs Prozent, während die Ukraine und Weißrussland ökonomisch immer weiter zurückfallen. Der Durchschnittslohn in der Ukraine liegt bei umgerechnet 50 US-Dollar monatlich, in Polen bei fast 400 Dollar. Entsprechend attraktiv ist jede Art von Arbeit in Polen, auch kurzfristige. Der Unterschied zwischen den Durchschnittseinkommen ist zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarn mit 4 zu 1 inzwischen erheblich höher als zwischen Polen und Ostdeutschland mit 2,5 zu 1. Daher muss Polen einerseits seinem künftigen europäischen Partner beweisen, dass es in der Lage ist, den Menschen- und Warenschmuggel in ein "Europa ohne Grenzen" zu unterbinden. Andererseits muss es hart daran arbeiten, den Lebensstandard in Weißrussland und der Ukraine zu verbessern, um die wachsende ökonomische Kluft zu verringern.
"Alles hängt davon ab, welche Art Grenzfluss der Bug in Zukunft sein wird", sagt Witold Orlowski vom Unabhängigen Institut für Wirtschaftsstudien, der sich auf Fragen der Grenzregion spezialisiert hat. "Wird er ein Rio Grande sein oder ein St. Lawrence- Strom?" Mit anderen Worten: Wird Polens Verhältnis zum Osten eher dem Verhältnis der USA zu Mexiko ähneln oder dem etwas entspannteren zu Kanada?
Die Westeuropäer haben sich im Laufe der Zeit mit dem Gedanken an eine erweiterte Europäische Union, die das große Polen und die anderen Länder Zentral- und Osteuropas schluckt, angefreundet, bemerkt ein Vertreter der Europäischen Union. "Aber wenn Sie die Unterstützung in der EU für eine Erweiterung kippen wollen, erwähnen Sie einfach die Türkei, die Ukraine und Weißrussland", lautet seine Einschätzung. Was die Europäer am meisten beunruhigt, ist neben der illegalen Einwanderung der Schmuggel von minderwertigen Produkten und unreinen Lebensmitteln, sagt er. Der Druck auf die polnischen Zollbehörden, hier für erhebliche Verbesserungen zu sorgen, nehme zu.
Witold Orlowski glaubt, dass Polen trotz der Argumente von Leuten wie Cimoszewicz keine Wahl habe. Bereits jetzt entfallen 70 Prozent von Polens Außenhandel auf die Europäische Union und nur 10 Prozent auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Dies zeige deutlich: Polens Zukunft liegt in Europa und im Westen, nicht im Osten.
aus: der überblick 04/2000, Seite 46
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Steven Erlanger:
Wir übernehmen den Text von Steven Erlanger mit freundlicher Genehmigung des New York Times Syndicate leicht gekürzt aus der International Herald Tribune vom 28.8.2000.