Ökumene in der Sackgasse?
Ich ermahne euch aber, liebe Brüder, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, daß ihr alle mit einer Stimme redet und laßt keine Spaltungen unter euch sein, sondern haltet aneinander fest in einem Sinn und in einer Meinung. Denn es ist mir bekannt geworden über euch, liebe Brüder, durch die Leute der Chloë, daß Streit unter euch ist. Ich meine aber dies, daß unter euch der eine sagt: Ich gehöre zu Paulus, der andere: Ich zu Apollos, der dritte: Ich zu Kephas, der vierte: Ich zu Christus. Wie? Ist Christus etwa zerteilt? Ist denn Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?
(1. Korinther 1,10-13)
von Eberhard le Coutre
Das klingt nach Ökumene pur. Eindringlicher und überzeugender können die Kirchen ganz offensichtlich kaum dazu ermahnt werden, endlich die ihnen durch das Evangelium sozusagen eingestiftete Einheit zu verwirklichen und vor aller Welt erkennbar werden zu lassen. So wird das jedenfalls bis heute von vielen Menschen gesehen. Das hört sich dann - etwa in der Predigt eines evangelischen Bischofs zum Reformationstag vor einigen Jahren - beispielsweise so an:
"Wenn Paulus in diesen Tagen an die Christen unserer Stadt einen Brief schreiben würde, könnte man vermutlich darin lesen: Es ist mir bekannt geworden über euch, daß Streit unter euch ist. Ich meine aber dies, daß unter euch die einen sagen: Ich bin evangelisch-lutherisch oder reformiert, die anderen: Ich bin freikirchlich, die dritten: Ich römisch-katholisch, und die vierten: Ich griechisch-oder russisch-orthodox. Und ich bin mir sicher, daß er fortfahren würde: Wie? Ist Christus etwa zerteilt? Seid ihr in eure Konfession hinein getauft worden oder in die eine heilige christliche Kirche?"
Und natürlich fehlte auch bei diesem prominenten Festprediger nicht der so gut ökumenisch und so stark klingende Satz: Spaltungen sind kein Ruhmesblatt für die Christenheit, sondern ein Skandal.
Ja, ja - der Skandal. Das ist eines der ökumenischen Lieblingswörter geworden. Aber: Was genau wird damit gesagt? Und: Was wäre denn nun kein ökumenischer Skandal? Dazu hört man in evangelischen Kreisen wenig Deutliches bis gar nichts. Zwar kann man von enttäuschten Hoffnungen und Visionen hören und lesen, bestenfalls noch das so protestantisch klingende trutzige Dennoch vernehmen. Aber das sind keine Wegweisungen und Positionsbestimmungen. Die römisch-katholische ökumenische Partnerkirche - nicht Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), wohl aber in seiner wichtigsten theologischen Kommission "Glaube und Kirchenverfassung" - ist da deutlicher, die weiß ganz genau, was kein ökumenischer Skandal wäre. So hört man aus Rom denn auch sehr präzise, welche Kriterien unbedingt erfüllt sein müssen, damit eine christliche Gemeinschaft wirklich als Kirche zu verstehen sei. Aber just solche Genauigkeit erscheint den enttäuschten protestantischen Visionären, die nicht zu einer Kirche im katholischen Sinne gehören (wollen die das denn etwa plötzlich?), dann auch wieder als skandalös und nicht hinnehmbar.
Hinzu kommt neuerdings, dass kürzlich auch noch die Orthodoxen - Mitglied im ÖRK seit 1961 - aufmüpfig geworden sind und ökumenisch nicht mehr als plakative und verbindliche Kennzeichnung für alles verstehen wollen, was einzelne Christen, christliche Gemeinschaften, Kirchen und Kirchenführer, Priester, Pastorinnen und Pastoren gemeinsam tun und erklären. Das heißt konkret: Die Orthodoxen drängen inzwischen stärker - wenn auch keineswegs immer besonders brüderlich, geschweige geschwisterlich oder diplomatisch und mit Verständnis für die anderen ökumenischen Partner - darauf, bestimmte theologisch und kirchenpolitisch wichtige Begriffe präziser zu definieren und zu gebrauchen. Und auch eben dieses philologisch wie theologisch berechtigte Anliegen findet ausgerechnet bei vielen Vertreterinnen und Vertreteren der sich besonders dem Wort verpflichteten reformatorischen Kirchen überhaupt kein Verständnis, sondern weitgehend nur Enttäuschung bis Verbitterung. Was ist eigentlich los? Ist die ökumenische Bewegung in eine unausweichliche Sackgasse geraten?
Damit ist ein mindestens abendfüllendes Thema angesprochen. Versuchen wir dennoch in gebotener Kürze ein paar orientierende Anmerkungen.
Zunächst ist der Hinweis wichtig, dass sich die zitierte Mahnung des Paulus an die Korinther vor allem aus zwei Gründen schlecht eignet als Modell für die ökumenische Diskussion unserer Tage. Erstens: Paulus wendet sich an Streitereien innerhalb einer noch nicht zerbrochenen Gemeinde, wobei die Ausleger nicht einmal mehr genau sagen können, worum es sich im einzelnen gehandelt haben könnte. Das Zweite ist wichtiger: Paulus gehörte noch zu einer Generation von Christen, deren Selbstverständnis von der sogenannten Naherwartung geprägt war. Paulus rechnete damit, dass er und viele mit ihm die Verwandlung der Welt und den Anbruch des Gottesreiches, also das Ende der Welt-und Menschheitsgeschichte, unmittelbar erleben könnten.. Sich realistisch vorzustellen, wie intelligente und gebildete Menschen und Gemeinschaften mit einem solchen Bewusstsein leben, dafür fehlen uns Heutigen entscheidende Voraussetzungen. Die den Christen inzwischen vertraut gewordene Befindlichkeit, das Weltgeschehen als einen Prozess mit offenem Ausgang zu erleben und diesen Prozess durch kirchliches Leben und Handeln mitgestaltend zu begleiten, war andererseits für Paulus kein Thema in unserem Sinne.
Wenn man aber schon - wie der anfangs zitierte Kirchenführer - ein Thema daraus machen möchte, Paulus in unsere Tage hinein sprechen zu lassen, dann muss man deshalb doch wohl einen interessanteren und differenzierteren Paulus entwerfen, als nur einen Wiederholer alter Sprüche aus unverständlich gewordenen Zusammenhängen. Vielleicht so:
"Mindestens eines wäre mir überdeutlich klar, wenn ich heute einer von euch wäre: Man darf den alten Paulus nicht mehr so naiv lesen, wie er damals schreiben konnte und schreiben musste. Wenn ich also heute einer von euch wäre, dann würde ich das mir seinerzeit gar nicht bekannte Phänomen einer Pluralität von geschichtlich gewachsenen Kirchen, die sich in einem historischen Kontinuum bewegen, natürlich mit der gleichen - mir freundlicherweise nachgesagten - intellektuellen Schärfe analysieren und als theologische Herausforderung begreifen wie die Welt, in der wir uns damals bewegten.
Im Übrigen: Ihr wisst ja, ich reiste viel und scheute keine Strapazen. Ich, der Paulus 2002, käme also zum Beispiel wieder mal nach Rom, aber auch nach London, Rio, New York, Moskau, Genf, Kapstadt, Shanghai, Tokyo, Wittenberg, Fulda, und natürlich auch in die Provinz - Nordelbien, Hannover, die Schwäbische Alb, Iowa, Masuren, an den La Plata, zum Kilimandjaro ... überall nähme ich mir Zeit, die verschiedenen großen und kleinen Kirchen, Gemeinden, Gemeinschaften, Klöster, Seminare und Fakultäten zu besuchen. Natürlich würde ich dabei auch Unvereinbarkeiten und Widersprüche entdecken. Einiges könnte ich kaum bis gar nicht verstehen, und manches würde ich wohl auch vermissen. Trotz allem aber, Freundinnen und Freunde, eines könnte ich euch versichern: Ich wäre tief beeindruckt von dem ungeheuren Reichtum, den ich vorfinden würde an Frömmigkeit, Theologie, Zeugnis, Diakonie und geistlichem Leben. Total überwältigt wäre ich davon, was aus dem Evangelium geworden ist, das wir damals mit so viel Angst, Schwäche, Kleinglauben, in gehetzter Endzeitstimmung, unter großen Gefahren - aber auch mit leidenschaftlichem Eifer vorangetrieben haben. Welch eine Fülle ist aus der von uns angefangenen Sendung in die Völkerwelt entstanden. Und auch dessen bin ich ganz gewiss: So verbissen und verklemmt, mit so viel Ab-und Ausgrenzungsbedürfnissen wie ihr inzwischen oft nur noch auf diese Vielfalt reagieren könnt, würde ich eure neue Welt nicht erleben.
Ich bin mir auch sicher: Aus meinen Briefen von damals würde mir heute bestimmt nicht zuerst die Stelle aus dem 1.Korintherbrief einfallen, die bei euch immer gleich den Skandalreflex auslöst. Viel eher die etwa drei Jahre später geschriebene Passage aus dem Brief an die Philipper, wo ich mich zu der Erfahrung geäußert habe, dass es Leute gibt, die aus Neid und Streitsucht predigen, andere aus guter Gesinnung, einige aus Liebe, andere aus Ehrgeiz, - alles, wie heute bei euch auch. Und ihr wißt doch noch, wie ich das interpretiert hatte? Jedenfalls nicht als Skandal, sondern so: 'Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündet wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber und will mich auch fernerhin freuen'. Ernst Lohmeyer, einer eurer Neutestamentler, hat mich genau verstanden und in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhundert zu dieser Stelle geschrieben: 'Alle Weisen, so verschieden sie menschlich begründet sein mögen, sind nur Schleier, hinter denen die Hand der Wahrheit mächtig und gelassen waltet.' Könntet auch ihr euch nicht zu etwas mehr Gelassenheit bequemen?"
So weit also der extrapolierte Paulus. Ob der das genauso sehen könnte? ("Nun ja, - ich, der alte Paulus, wüßte auch schon recht gern, wie ich in eurer Mitte aussähe, und ihr an meiner Seite ...") Was folgt aus alledem für uns heute? Die Dramatik und die Reichweite der durch die Person Paulus erkennbar werdenden Spannung dürfen nicht unterschätzt werden. Da weiß sich einer vom Evangelium dazu getrieben, sozusagen noch in letzter Minute möglichst vielen Menschen aus allen Völkern die frohe Botschaft zu ihrem Heil und zu ihrer Rettung vor dem nahen Gericht zu verkünden. Und genau durch diese Endzeitverkündigung wird die entscheidende und wichtigste Grundlage geschaffen für eine bis heute andauernde, Jahrhunderte und Jahrtausende prägende Wirkungsgeschichte, in deren Verlauf immer neue Kirchen und Gemeinschaften entstanden sind und entstehen.
Um eine theologische Aussage einmal sehr zurückhaltend zu formulieren: Wer immer oder was immer diesen Paulus angetrieben hat, muss - anders als Paulus selbst - die komplexe und nicht konfliktfreie Wirkungsgeschichte mit im Blick gehabt haben. Schließlich präsentiert ja nicht einmal das Neue Testament selbst eine kohärente und widerspruchsfreie Glaubenslehre. Etwas unmittelbarer und direkter gesagt: Die Vielfalt der überlieferten Traditionen, der Texte und Schriften samt ihren vielfältigen und zuweilen widersprüchlichen Deutungsmöglichkeiten sowie die daraus entstandene Vielfalt von Kirchen und Theologien kann nur als beabsichtigter und darum notwendiger Bestandteil der sich in der Menschheitsgeschichte offenbarenden Wahrheit verstanden werden.
Zum Schluß: Was heißt dann ökumenische Existenz heute ? Jedenfalls nicht, was nach wie vor direkt wie indirekt immer wieder durch eine Fülle sogenannter ökumenischer Betriebsamkeiten suggeriert wird, - nämlich, daß es sich bei der Fülle von Kirchen und Konfessionen um so etwas wie einen durch die Geschichte geschleppten Kometenschweif von Defiziten handelt. Defizite, die durch betriebsamen Aktivismus ökumenischer Persönlichkeiten und Institutionen korrigiert werden müßten. Nach wie vor wird von den Kirchen eine simplifizierte und trivialisierte Einheitserwartung als die ökumenische Vision verbreitet. Eine solche immer wieder unreflektiert weitergereichte eindimensionale Erwartung aber kann nur enttäuscht werden. Vielleicht sollten deshalb manche enttäuschte Visionen besser enttäuschte Illusionen genannt werden.
Also, Ökumene leben heute, das kann nur heißen: Erkennen, daß wir nicht eine - womöglich schuldhaft entstandene - Vielfältigkeit zu korrigieren haben, sondern aufgerufen sind, in einer immer wieder aktuell vorgefundenen geschichtlichen Befindlichkeit unseren Platz zu finden und ins Gespräch zu bringen. Den Dialog suchen und pflegen mit denen, die anders glauben, beten, lehren und Gottesdienste feiern. Die eigenen Positionen sind dabei immer wieder aufs Neue möglichst präzise und verständlich, vor allem auch für diejenigen verständlich zu formulieren, die ihnen nicht folgen wollen oder können. Wichtig ist dabei ferner, zu berücksichtigen, dass im rein kalendarischen Sinne zwar alle Kirchen jeder Epoche jeweils gleichzeitig leben. Hinsichtlich der Vergegenwärtigung geglaubter Inhalte gibt es jedoch auch immer wieder erhebliche Ungleichzeitigkeiten zwischen den kirchlichen Traditionen sowie den kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten, in denen die Christen leben.
Zusammengefasst: Bestehende Differenzen nicht unbedingt überwinden und beseitigen wollen, sondern sie vielmehr als mit den Ursprüngen vorgegebene Offenheiten, Möglichkeiten und Herausforderungen begreifen lernen. Vielfalt ist die sichtbare Gestalt der Einheit. Sehr wichtig auch: Nie die unbenennbaren Differenzen vergessen, gerade für den religiösen Dialog gilt, daß die gelebten Wirklichkeiten immer vielschichtiger sind und sich immer etwas - mal mehr, mal weniger deutlich erkennbar - unterscheiden von deren Beschreibungen und Dogmatisierungen. Deshalb: Keine Gespräche abbrechen und die eigene Gesprächsbereitschaft, ja auch die Liebe und Achtung zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Kirchen und ihren Mitgliedern, nicht abhängig machen von Voraussetzungen und Bedingungen.
Es könnte sein, daß einerseits seit geraumer Zeit die römisch-katholische Kirche und andererseits jetzt auch die Orthodoxen mit den Unbequemlichkeiten, die sie den übrigen Christen und Kirchen bereiten, letztlich notwendige Beiträge leisten zu ökumenischer Desillusionierung und zu größerer Ehrlichkeit. Darüber immer wieder neue Klagelieder anzustimmen ist jedoch keine ernst zu nehmende Reaktion und kann ökumenisch nichts bewegen.
Es wäre vielmehr nun endlich Zeit, dass auch die Kirchen der Reformation sich wieder etwas gründlicher darum bemüht zeigten, eigene, durchaus auch kontroverse, Standortbestimmungen zu erarbeiten und vorzutragen. Konkret müßte es dabei beispielsweise auch darum gehen, sich zu Aufklärung und Liberalität als wesentlichen Elementen des eigenen Erbes zu bekennen; des weiteren darum, etwa Demokratie, Säkularisation sowie moderne Technik und Naturwissenschaften als permanente Herausforderungen an die eigene theologische Kreativität und somit auch Gesprächsfähigkeit zu begreifen.
Ob und wie wir das dauerhaft leisten wollen und leisten können, davon - also nicht zuletzt vom jeweils eigenen Beitrag einer jeden Kirche - hängt es schließlich ab, ob wir in einer ökumenischen Sackgasse verblühen und verwelken oder interessant und vernehmbar den Menschen nahe bleiben auf den Gassen und Plätzen, auf denen das wirkliche Leben gelebt wird ... so wie Paulus seinerzeit in Philippi, Athen, Korinth und anderswo.
aus: der überblick 04/2002, Seite 107
AUTOR(EN):
Eberhard le Coutre:
Eberhard le Coutre ist ehemaliger Chefredakteur des "überblicks" und lebt jetzt im Ruhestand.