Einkommensgefälle erklären Migrationsströme nur unzureichend
Es gibt viele Ursachen dafür, dass jemand sein Land verlässt, um in der Fremde zu arbeiten. Not und fehlende Perspektiven gehören dazu. Doch es sind nicht die Ärmsten der Armen, die ihre Arbeitskraft fern der Heimat verkaufen. Ihnen fehlen auch dafür die Voraussetzungen.
von Manolo I. Abella
Globalisierung führt nicht zu einer Annährung, sondern zu einer Vertiefung der Unterschiede im Lebensstandard zwischen den Nationen. Diese Auffassung setzt sich mehr und mehr durch. Wenn diese Unterschiede aber der Hauptmotor der Migration sind, dann müssten wir die Hitze des neuen Migrationsdruckes im Süden spüren. Gibt es also handfeste Beweise, die diese Auffassung belegen?
Seit 1990 ist die Wachstumsrate des Welthandels doppelt so schnell gestiegen wie die des Welt-Bruttosozialprodukts, während der private Nettokapitalfluss in die Entwicklungsländer - bezogen auf das Niveau in der Mitte der 1980er Jahre - um das Achtfache zugenommen hat. Die Weltbank schätzt, dass zwischen 70 Prozent und 80 Prozent der Armen in der Welt von der Liberalisierung und Globalisierung profitieren werden. Das Argument lautet, dass der freie Handel Vorteile für die in den meisten Niedriglohnländern reichlich vorhanden Arbeitskräfte mit sich bringe und den Verbrauchern billigere Produkte zur Verfügung stelle. In einer Studie wurde errechnet, dass die Liberalisierung des Welthandels zu Gewinnen in Höhe von 3 Prozent des Welt-Bruttosozialprodukts geführt hat. Im Jahre 2000 hätte dies etwa einer Summe von 930 Milliarden US-Dollar entsprochen. Der Anteil der Gruppe der Entwicklungsländer war nicht unbedeutend, aber schwerer zu berechnen. Auf lange Sicht könnten weitere 190 bis 250 Milliarden US-Dollar zusätzlichen Einkommens erzielt werden, wenn größere Effizienz und höhere Ertragsraten zu zusätzlichen Investitionen führen.
Es gibt in der Tat einige Anzeichen dafür, dass die Armut leicht abgenommen hat. Nach dem vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) herausgegebenen Bericht über menschliche Entwicklung ist der Prozentsatz der in absoluter Armut lebenden Menschen in den Entwicklungsländern, also die Anzahl der Menschen, die weniger als einen US-Dollar pro Tag verdienen, von 34 Prozent der Bevölkerung im Jahre 1987 auf 24,3 Prozent im Jahre 1999 zurückgegangen. Allerdings liegt die absolute Zahl immer noch bei 1,2 Milliarden. Der relative Rückgang ist weitgehend auf Erfolge in Asien, vor allem in China und Indien zurückzuführen. Diese zwei Länder steuern mehr als die Hälfte der Bevölkerung der Entwicklungsländer bei; dort leben mehr als eine halbe Milliarde Menschen in Armut.
Aber es gibt auch ernst zu nehmende Gründe für die Befürchtung, dass die Liberalisierung des Handels oder die allgemeine Senkung der Zollschranken für einige der ärmsten Länder der Welt nur die möglichen Vorteile abschaffen werden, die sie derzeit durch Vorzugsvereinbarungen genießen. Am härtesten betroffen sind kleine Niedriglohnländer mit geringer Industrialisierung und starker Abhängigkeit von Grundstoff-Exporten.
Eine Reihe von Ländern mit mittlerem Einkommen wird voraussichtlich Nutzen aus dem Landwirtschaftsabkommen ziehen, wenn die Agrarpreise mehr durch den Weltmarkt bestimmt werden. Das sind vor allem Argentinien, Brasilien, Uruguay, Thailand und die Philippinen. Andererseits schätzen Experten, dass die Exporte der südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Länder in einer Höhe zwischen 4 Prozent und 20 Prozent abnehmen werden. Eine mangelhafte Infrastruktur, der ständige Rückgang von Investitionen in der Industrie und die daraus resultierende geringe Produktivität - all das hat verhindert, dass die Senkung der Zölle auf landwirtschaftliche Erzeugnisse Gewinn gebracht hat.
Darüber hinaus ist ein Teil der Probleme auf die Handelspolitik einiger EU-Staaten zurückzuführen. Weil die EU so hohe Subventionen an ihre Landwirtschaft zahlt, haben etwa Länder mit niedrigem Einkommen in der Sahelzone wie Mali, Niger und Burkina Faso große Probleme, mehr Rindfleisch zu exportieren. Und die jüngste Erhöhung der Subventionen an die Baumwollpflanzer in den USA gefährden Millionen von Familien in Westafrika, denen es bislang gelungen ist, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Zwar wächst die Wirtschaft seit 1995 in den meisten afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Aber das Wachstum hat nicht ausgereicht, den langjährigen Niedergang ihrer Wirtschaft seit den 1970er Jahren wettzumachen. Die Zahl der Armen in der Region ist auf 300 Millionen gestiegen, das ist fast ein Viertel aller unter der Armutsgrenze lebenden Menschen in der Welt.
Wie wirkt sich das alles auf den Migrationsdruck und die gegenwärtigen Wanderungstrends aus? Die Verbindung zwischen Armut und Migration ist bislang nicht eindeutig gewesen. Wir wissen aus Studien in vielen Ländern, dass die Ärmsten kaum reisen können. Ihnen fehlen schlicht und einfach die Mittel dazu. Sie haben weder Informationen, Kontakte und Familiennetze noch das nötige Geld, um es in solch ein oft riskantes Unternehmen wie die Auswanderung zu investieren.
Was für arme Menschen gilt, trifft auch für arme Länder zu: Die stärkste Auswanderung verzeichnen Staaten mit mittlerem Einkommen wie Mexiko, Ägypten und die Philippinen, die relativ gesehen am meisten zu den Migrationsströmen beitragen, und nicht die ärmsten wie Sierra Leone oder Nepal. Wir wissen auch, dass Menschen bei einer Verbesserung des Lebensstandards im eigenen Land weniger motiviert sind, ihre Familien um eines besseren Verdienstes im Ausland willen zu verlassen. Es gibt eine bestimmte Einkommensgrenze, oberhalb derer die Auswanderungsraten tendenziell sinken. Das war der Fall in Italien kurz nach dem Krieg, in Griechenland, Spanien und Irland in den 1970er Jahren sowie in der Republik Korea und Portugal in den 1980er Jahren. Heute gilt das auch für Thailand.
In der Welt insgesamt ist die Zahl der Migranten langsam von 75 Millionen im Jahre 1965 auf 120 Millionen im Jahre 1990 und 150 Millionen im Jahre 2000 angestiegen. Die Wachstumsrate war nicht über die Jahre konstant. Sie stieg von jährlich 1,2 Prozent im Zeitraum von 1965 bis 1975 auf jährlich 2,2 Prozent in den Jahren 1975 bis 1985 und auf 2,6 Prozent in den Jahren 1985 bis 1990. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts war wegen des Rückgangs von Asylbewerbern eine leichte Verlangsamung zu verzeichnen. Um die Jahrtausendwende machte die Zahl internationaler Migranten 2,5 Prozent der gesamten Weltbevölkerung aus, eine absolut schwächere Zunahme, weil die Weltbevölkerung langsamer wächst.
Die Migration ist nicht gleichmäßig verteilt. 1990 wanderte die größte Zahl von von Menschen, rund 43 Millionen, in Asien aus und ein. In Pakistan, im Iran, in Indien, Malaysia und Thailand sowie Westasien gab es die größten Wanderungsbewegungen, wobei sich die Zahl der Ein-und Auswanderer in Indien, Malaysia und Thailand etwa ausgeglichen haben, während aus Pakistan und Iran mehr Menschen aus-als einwanderten. Dagegen gab es nur etwa 7,5 Millionen Migranten in der Großregion von Mittel-und Südamerika. Einwanderer machen in Westasien 11 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, in Europa hingegen nur 6 Prozent. In den 15 Staaten der EU mit zusammen etwa 370 Millionen Einwohnern leben etwa 18 Millionen Menschen, die nicht die jeweilige Staatsangehörigkeit besitzen. Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, aus denen früher viele Menschen auswanderten, sind heute Einwanderländer für Personen aus den angrenzenden Staaten Nordafrikas und vom Balkan.
Wo hat die Migration am schnellsten zugenommen? Eindeutig in den Entwicklungsregionen. In den Industrieländern insgesamt gab es einen Zuwachs der Zahl der Einwanderer in der Bevölkerung über einen langen Zeitraum - zwischen 1965 und 1990 - von fast konstant 2,3 Prozent im Jahr. In den Entwicklungsländern hingegen ist der Zuwachs merklich von jährlich 0,3 Prozent in der Zeit von 1965 bis 1975 auf eine Höhe von jährlich 2,7 Prozent im Zeitraum von 1985 bis 1990 gestiegen. In den acht Jahren von 1990 bis 1998 wurden in den Entwicklungsregionen etwa 18 Millionen zusätzliche Migranten gezählt. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts war zu beobachten, dass die Migration in Mittelamerika (mit 15,4 Prozent) am schnellsten angestiegen ist, mit einem großen Abstand gefolgt von den afrikanischen Ländern südlich der Sahara (5,6 Prozent). Die Zunahme war wesentlich langsamer in Asien und Europa.
Die jüngste Zuwanderung in den Club der reicheren Länder ist eindeutig durch die Suche nach Arbeit ausgelöst worden. Zwischen 1988 und 1998 stieg die Zahl der registrierten im Ausland geborenen Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmer fremder Nationalität in den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) um 28 Prozent. Die Zunahme war stärker in Nordamerika als in Europa, doch einige Länder in Europa wie Spanien und Österreich hatten einen erheblichen Anstieg von ausländischen Arbeitnehmern zu verzeichnen. Trotzdem hatten im Jahre 1998 nicht einmal die Hälfte der OECD-Länder einen Anteil von Nicht-Staatsbürger unter ihren Arbeitskräften von mehr als 5 Prozent.
Dass wir überzeugendere Erklärungen für die Migration brauchen als die wachsenden Unterschiede im Lebensstandard, machen auch folgende Beispiele klar: Der Unterschied bei den Stundenlöhnen zwischen Italien und Indien nahm in der Zeit von 1980 bis 1995 um das Dreieinhalbfache zu. Im Jahre 1980 waren die Lohnkosten in Italien 18,5 Mal so hoch wie in Indien, im Jahre 1995 sogar 66 Mal so hoch. Und doch sehen wir keine Welle von Indern, die nach Italien gehen wollen. Die gleiche Beobachtung kann man im Blick auf die Emigration aus China oder Russland machen. Zwischen Japan und China haben die Unterschiede in den Lohnkosten pro Stunde noch stärker zugenommen, und zwar vom 22-Fachen im Jahre 1980 auf das 95-Fache im Jahre 1995. In Deutschland waren 1995 die Lohnkosten pro Stunde 53 mal so hoch wie in Russland.
Eine genauere Betrachtung der Migrationsströme und -muster würde zeigen, dass es sehr viele Ursachen für Wanderungsbewegungen gibt. Eine bedeutende ist die Politik, deren Einfluss sich etwa beim jüngsten Wettstreit um hoch qualifizierte Arbeitskräfte zeigt. Die Weltbank vermutet, dass der Arbeitsmarkt für hoch qualifizierte Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten noch internationaler werden wird und dass zunehmende Einkommen für qualifizierte Arbeitskräfte eine räumliche Konzentration weiter fördern könnten. Arbeitskräfte mit Fachwissen würden Grenzen ungehindert passieren können und damit die Verbreitung von Technologie sowie das Wachstum von technologie-intensiven Industrien fördern und so zur Schaffung eines wahrhaft globalen Marktes für Fachkenntnisse beitragen. In den 1990er Jahren ging etwa in Kanada ein Drittel des Beschäftigungszuwachses unter Computertechnikern, Systemanalysten und Computerprogrammierern auf das Konto von Immigranten, und etwa ein Viertel der Chefs von Unternehmen in Silicon Valley sind außerhalb der Vereinigten Staaten geboren worden. Seit August 2000 gelten in Deutschland neue Vorschriften, wonach für einen Zeitraum von drei Jahren 20.000 Computerspezialisten aufgenommen werden dürfen. Großbritannien hat ähnliche Maßnahmen ins Auge gefasst, um den Mangel an Informations-und Computertechnologieexperten und anderen Fachkräften auszugleichen. Indien, Osteuropa und Nordafrika werden vermutlich zu den Hauptherkunftsländern gehören.
Im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte sind im Süden neue Ziele für Auswanderer entstanden, einerseits wegen der Umleitung globaler Einkommenströme in eine kleine Zahl Erdöl produzierender Länder nach der Ölkrise im Jahre 1973, und andererseits aufgrund des starken Wachstums einiger in der Industrialisierung begriffenen Länder in Ostasien. Der Boom in den Ölstaaten führte zu einer der größten Wanderungsbewegungen von Menschen auf der Suche nach Beschäftigung in jüngster Zeit. Zunächst wurden benachbarte Araber und dann asiatische Wanderarbeiter zur Modernisierung der Infrastruktur in die ölreichen Staaten ins Land geholt. Von etwa eineinhalb Millionen im Jahre 1975 stieg ihre Zahl bis 1985 schnell auf mehr als 5 Millionen. Kurz darauf kam es zur Welle der inner-regionalen Migration von Arbeitskräften in Ostasien, und zwar infolge des Mangels an Arbeitskräften in Japan, Hongkong, Taiwan, der Republik Korea, Malaysia und Thailand. Von nicht viel mehr als einer Million zu Beginn des Jahrzehnts stieg ihre Zahl bis Mitte 1997 auf ca. 6,5 Millionen. Die asiatische Finanzkrise im Jahre 1998 stoppte das Wachstum und erzwang die Rückkehr vieler Arbeitskräfte, doch einige Länder wie die Republik Korea und Thailand haben begonnen, sie wieder anzuwerben.
Nach Angaben des Europarates stieg die Zahl der registrierten fremden Staatsangehörigen, die in Westeuropa wohnen, in den 1990er Jahren jährlich um 3,5 Prozent und erreichte 20,5 Millionen im Jahre 1998. Natürlich war der Zuwachs nicht in allen europäischen Ländern gleichmäßig. Einige Länder wie Deutschland und Österreich fühlten sich überschwemmt von Wellen von Zuwanderern, während andere wie Frankreich und die Niederlande kaum irgendeine Veränderung gespürt zu haben scheinen. Doch insgesamt blieb der Prozentsatz der ausländischen Bevölkerung - etwas über 5 Prozent der Gesamtbevölkerung der Region - in Westeuropa gering.
Aufgrund der ungedeckten Nachfrage nach Arbeitskräften in Europa nimmt die inoffizielle Migration zu. Das ist nicht schwer zu verstehen, hat doch in den letzten zehn Jahren in Westeuropa die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter, Nicht-Staatsangehörige inbegriffen, nur um 6 Millionen zugenommen. Im Jahre 1998 haben nach Schätzungen etwa 4,5 bis 5 Millionen Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung in Westeuropa gelebt. Das wäre ein Viertel mehr als die registrierte ausländische Gesamtbevölkerung. Laut OECD gibt es einen großen Markt für Schwarzarbeit in Westeuropa, und zwar in der Landwirtschaft, dem Hoch-und Tiefbau, der Kleinindustrie, dem Tourismus, im Hotelgewerbe und Catering sowie bei Dienstleistungen für private Haushalte und Unternehmen.
Inzwischen sind die Probleme der Integration größer geworden und beeinflussen die Einstellungen gegenüber bestimmten Immigranten negativ. In Frankreich verdient mehr als die Hälfte der Familien mindestens 25.000 Euro im Jahr. Aber nur gut zehn Prozent der eingewanderten Algerier und weniger als ein Viertel der marokkanischen und schwarzafrikanischen Familien haben ein so hohes Einkommen. Die Arbeitslosenquote unter männlichen Immigranten, die aus der Türkei, dem Maghreb und Schwarzafrika kommen, ist doppelt oder dreimal so hoch wie die der Immigranten aus EU-Staaten.
Ähnliche Hürden gibt es bei dem Versuch, der illegalen Migration durch gesetzliche Regelungen für eine geordnete Einwanderung erforderlicher Arbeitskräfte Herr zu werden. Die zunehmende Beschäftigung von Arbeitskräften ohne Arbeitserlaubnis in vielen Ländern lässt die Widersprüche und die Vielschichtigkeit dieser Prozesse ahnen. Leider scheint es opportun, die ausweglose Situation beizubehalten. Illegal arbeitende Ausländer kann man schließlich jederzeit wieder loswerden. In Südostasien sind auf der Höhe des Booms rund 6.5 Millionen ausländische Arbeitskräfte aufgenommen worden, viele von ihnen illegal, damit sie die Arbeit im Baugewerbe, in Haushalten, in Kleiderfabriken und Plantagen leisten, die kein Einheimischer machen wollte. In der Wirtschaftskrise werden ausländische Arbeiter dann zur Zielscheibe von Entlassungen und Massenvertreibungen.
Wir sollten nicht zulassen, dass vorübergehende wirtschaftliche Zwänge den Fortschritt umkehren, der bei der Entwicklung eines internationalen Migrationssystems gemacht worden ist, das sich auf die Bedürfnisse unabhängiger Nationalstaaten und die Achtung individueller Menschenrechte gründet. Letztere sind genau definiert worden in verschiedenen UN-Konventionen, insbesondere in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die den internationalen Schutz für diejenigen gewährleistet, deren grundlegende Menschenrechte bedroht sind. Dazu gehören auch die IAO-Übereinkommen und -empfehlungen über den Schutz von Wanderarbeitern auf der Grundlage der Gleichbehandlung und schließlich die UN-Konvention von 1990 über die Rechte von Wanderarbeitern und ihren Familienmitgliedern. Letztere bietet einen umfassenden Rahmen für den Schutz ihrer individuellen sowie staatsbürgerlichen und politischen Rechte. Eine Abkehr von diesen Grundsätzen und Errungenschaften würde die ohnehin schon schwache Stellung der Migranten in vielen Gesellschaften weiter aushöhlen und das einzige leistungsfähige System untergraben, das bislang zum Schutz derer geschaffen wurde, die den Mut haben, sich Unterdrückung und Tyrannei zu widersetzen. Wer solche Grundsätze aufgibt, schlägt auch von vornherein den Gewinn aus, der Arbeitnehmern aus einer wahrhaft globalen Wirtschaft erwachsen könnte.
MigrationsstatistikFrauen in aller Herren LänderAuswanderer und Wanderarbeiter -das sind nach landläufiger Vorstellung Männer, die allenfalls später ihre Familien nachholen. Dass hier traditionelle Bilder den Blick auf die Realität verstellen, macht die Statistik deutlich. 52,5 Prozent der Migranten sind Männer, 47,5 Prozent Frauen. Auch wenn der Anteil der Frauen in den letzten Jahren stark zugenommen hat, handelt es sich keineswegs um ein neues Phänomen. Es wurde von Forschern der Migrationsgeschichte nur nicht beachtet. Der Anteil der Frauen variiert sowohl in den Herkunfts-als auch in den Zielländern. Es gibt Staaten, bei denen die zur Arbeit ins Ausland strömenden Frauen 70 oder 80 Prozent aller Migranten stellen. Und es gibt Länder, wo Frauen unter den ausländischen Arbeitskräften nur eine Minderheit ausmachen. Frauen und Männer folgen unterschiedlichen Migrationsmustern, weil sie sowohl in ihren Heimatländern unterschiedliche Arbeiten verrichten als auch in den Gastländern auf einen geschlechtsspezifischen Arbeitsmarkt treffen. Auch wenn viele Frauen durch die Arbeit in der Fremde ein Stück ökonomische Selbstständigkeit gewinnen, so konzentrieren sie sich doch in schlecht bezahlten Dienstleistungsbereichen. Während Männer - auf dem Bau und in der Landwirtschaft etwa - oft in Gruppen arbeiten, sind Frauen - zum Beispiel im Haushalt - auf sich allein gestellt und Willkür und (sexueller) Gewalt ausgesetzt. Frauen in der Fremde sind doppelt, als illegal Eingereiste oder in illegalen Tätigkeiten (Prostitution) sogar dreifach, verletzlich. rwl |
WanderarbeitnehmerSchützende VerträgeDas Übereinkommen Nr. 97 über Wanderarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1949 gab ausländischen Arbeitskräften zum ersten Mal ein Grundrecht auf Gleichbehandlung und Schutz in den verschiedenen Phasen der Einstellung und der Beschäftigung. Es trat 1952 in der Phase des Nachkriegswiederaufbaus in Kraft, als viele Länder aufgrund des Verlustes ihrer fähigsten jungen Männer und Frauen dringend Arbeitskräfte brauchten. Die Konvention wurde von 42 Staaten ratifiziert, unter denen sich viele wichtige Aufnahmeländer befanden wie Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Portugal, Spanien, Großbritannien, Brasilien und Venezuela, allerdings nicht die USA. Heute wird das Prinzip der Gleichbehandlung von Wanderarbeitern allgemein anerkannt, wenngleich es nationale Gesetze gibt, die für bestimmte Gebiete oder Beschäftigungszweige Ausnahmen machen, und die tatsächliche Praxis in einigen Ländern erheblich von der Gesetzgebung abweicht. In den letzten 50 Jahren hat das Übereinkommen Nr. 97 die nationale Gesetzgebung, bilaterale und multilaterale Verträge und Übereinkommen einschließlich der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeiter und ihrer Familienangehörigen der Vereinten Nationen von 1990 inspiriert. Fünfundzwanzig Jahre nach der Annahme des Übereinkommens Nr. 97 hatte sich die wirtschaftliche Situation in Europa, vor allem infolge der Ölkrise, radikal verändert. Die von der Ölkrise ausgelöste wirtschaftliche Rezession führte zu zunehmender Arbeitslosigkeit und schließlich zur Beendigung der so genannten Gastarbeiter-Programme, die in den 1950er und 1960er Jahren aufgelegt worden waren. Im Jahre 1975 nahm die ILO ein neues Übereinkommen (Nr. 143) über Wanderarbeitnehmer an, in dem die Mitgliedsstaaten zum ersten Mal aufgefordert wurden, konkrete Maßnahmen zur Verhinderung der inoffiziellen Migration zu ergreifen. Die Präambel dieser Konvention spricht von der "Notwendigkeit, die übermäßige und unkontrollierte bzw. nicht unterstützte Zunahme von Wanderungsbewegungen wegen ihrer negativen sozialen und menschlichen Folgen zu vermeiden." Darin spiegelt sich deutlich die Besorgnis über den Migrationsdruck wider. Das Übereinkommen von 1975 ging hinsichtlich des Verbots diskriminierender Behandlung nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Praxis allerdings weiter als das Übereinkommen von 1949. Es verlangte von den ratifizierenden Staaten, für die Wanderarbeiter und ihre Familienmitglieder, die sich rechtmäßig auf ihrem Territorium aufhalten, die Chancengleichheit und die gleiche Behandlung im Arbeitsverhältnis nicht nur zu fördern, sondern auch zu garantieren. Im Einzelnen bestimmt das Übereinkommen, dass die ratifizierenden Staaten folgende Punkte gewährleisten: 1. gleiche Bezahlung, 2. freie Wahl der Beschäftigung, 3. das Recht, Gewerkschaften beizutreten und sich an Tarifverhandlungen zu beteiligen, 4. gleiche Behandlung im Blick auf den Zugang zu Sozial-und Gesundheitsleistungen und 5. die Familienzusammenführung. Das Übereinkommen 143 ist aber nur von 18 Staaten ratifiziert worden, von denen die meisten Herkunftsländer von Migranten sind. Unter den europäischen Ländern haben nur Bosnien und Herzegowina, Zypern, Italien, Norwegen, Portugal, San Marino, Slowenien, Schweden, Mazedonien und Jugoslawien diese Konvention ratifiziert. Es scheint in den letzten Jahren schwieriger geworden sein, internationale Unterstützung für eine breitere Ratifizierung zu gewinnen. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ein größerer Migrationsdruck befürchtet wird, weil die inoffizielle Migration zunimmt (nach neuesten Schätzungen leben weltweit rund 30 Millionen Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung im Ausland). Aber viele Politiker fürchten auch, dass politisch rechts gerichtete Gruppen die Fremdenfeindlichkeit nutzen, um für ihre Politik zu werben. Die Stimmen derer, denen es um einen angemesseneren Schutz der individuellen Rechte der Migranten oder um ihre volle Integration in die gastgebenden Gesellschaften geht, könnten von denen übertönt werden, die davon profitieren, dass ngste und Fremdenfeindlichkeit geschürt werden. Manolo I. Abella |
aus: der überblick 03/2002, Seite 26
AUTOR(EN):
Manolo I. Abella:
Manolo I. Abella leitet die Abteilung für internationale Migration bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf.