Die Anfänge sind älter als die Organisation
Die entscheidenden Akteure waren Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Wir erlebten die Aufbrüche und Anfänge als Jugendbewegung. Die "alten Herren", mit denen wir unsere Pläne abstimmen mussten und die für die notwendigen Mittel sorgen konnten, waren vom gleichem Enthusiasmus bewegt wie wir, weil sie selbst seinerzeit Beweger und später glaubwürdige und mitreißende Zeitzeugen der christlichen Jugendbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre waren.
von Eberhard le Coutre
Es ist mir wichtig, einen Eindruck von der Stimmung zu vermitteln, aus der heraus Dienste in Übersee (DÜ) entstand. Die entscheidenden Akteure waren Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Wir erlebten die Aufbrüche und Anfänge als Jugendbewegung. Die "alten Herren", mit denen wir unsere Pläne abstimmen mussten und die für die notwendigen Mittel sorgen konnten, waren vom gleichem Enthusiasmus bewegt wie wir, weil sie selbst seinerzeit Beweger und später glaubwürdige und mitreißende Zeitzeugen der christlichen Jugendbewegungen der zwanziger und dreißiger Jahre waren.
Im Einzelnen sind drei wichtige Vorläufer zu benennen, die für Dienste in Übersee prägend wurden: Erstens das "Überseeregister" der Evangelischen Studentengemeinde in Deutschland (ESGiD), eine bis heute bestehende, später von DÜ übernommene Aktivität zur Sammlung von Interessenten, die nach Abschluss ihres Studiums ein paar Jahre in ihrem Beruf als "Fraternal Workers" im ökumenischen Kontext tätig werden wollten. Diese nach einem Vorbild aus der britischen christlichen Studentenbewegung im Winter 1959/60 gestartete Initiative fand sehr schnell ein beachtliches Echo, bereits im Juli 1960 war von über 300 Meldungen zu berichten.
Zweitens ist an den Verein für ökumenische Studentenwohnheime e.V., gegründet in Hamburg im Sommer 1958 durch Initiative des damaligen Hamburger Studentenpastors Carl Malsch und gefördert durch den damaligen Hanseatischen Missionsdirektor Pastor Dr. Martin Pörksen DD, zu erinnern.
Drittens zu nennen ist das Überseekolleg, das als studienbegleitendes Bildungsprojekt im Zusammenhang mit einem vom Verein für ökumenische Studentenwohnheime seit 1960 geplanten Kollegienhaus für ausländische und deutsche Studenten an der Universität Hamburg aufgebaut wurde.
Das entscheidende personelle Bezugssystem war also die Evangelische Studentengemeinde in Deutschland mit ihrer Einbindung in den Christlichen Studentenweltbund, einen Vorläufer des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK).
Mit der Erinnerung an die drei Institutionen müssen auch die wesentlichen inhaltlichen Komponenten der ökumenischen Aufbruchstimmung Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre skizziert werden:
Heute hört sich der Prozess einer Neugründung etwa so an: "Beim ISA-Treffen (Integrations- und Strategieausschuss) wurde der Vorstand gebeten, seine Überlegungen darzustellen. Eine der Fragen war, wie die neue Struktur die Anforderung nach einer möglichst flachen Hierarchie verwirklichen will. Bisher wurden zu diesem Thema noch keine Ideen in den Integrationsprozess eingebracht. Vor seinem Ende sollten jedoch Alternativen zum existierenden Linienmodell entwickelt und geprüft werden." Das ist ein Zitat aus einem erst wenige Wochen alten Papier zum Aufbau derjenigen Organisation, von der jetzt interessanterweise erwartet wird, dass sie den kirchlichen Entwicklungsdienst besser und kostengünstiger regeln kann, als das von 1968 bis zum vorigen Jahr möglich war.
Wir hätten seinerzeit jedenfalls keinen Vorstand gebeten, seine Überlegungen darzustellen (so etwas hätten wir bei dem auch gar nicht vermutet), sondern haben ungebeten den Vorständen unsere Überlegungen präsentiert.
Der eigentliche Gründungsprozess von DÜ nahm etwa drei bis vier halbtägige Sitzungen in Anspruch. Zu den Gremien der ökumenischen Diakonie gehörten damals nur Leute, die gemeinsam etwas wollten. Die Bremser waren noch nicht dabei. Dass zu dem, was gemeinsam gewollt wurde, auch Beratungsfirmen, die selbst vor allem eines wollen: mit Beratung Geld verdienen, etwas Nützliches beizutragen hätten, wäre damals als ein völlig absurder und skurriler Gedanke erschienen.
Als DÜ am 9. November 1960 in Hamburg gegründet worden war, gab es natürlich noch nicht sofort DÜ-ler. DÜ war zunächst lediglich eine Geschäftsstelle. Und nun ist vom Haus am Schüberg, einer kirchlichen Tagungsstätte im Nordosten von Hamburg, zu reden, denn hier vollzog sich sozusagen die erste Personalisierung von DÜ. Die ersten Personen, die zu einem Dienst nach Übersee vermittelt und darauf vorbereitet werden wollten, und von denen einige dann auch tatsächlich DÜ-ler geworden sind, wurden präsent und trafen sich untereinander sowie mit den entscheidenden Personen der DÜ tragenden Organisationen beim ersten Vorbereitungskurs vom 4. bis 26. April 1961 im Haus am Schüberg in Hoisbüttel.
Dabei ist nun eines besonders wichtig: Der erste Antrag auf Personalvermittlung nach Übersee sowie damit verbundene Vorbereitungs- und Informationsmaßnahmen waren keine Aktivitäten der noch gar nicht gegründeten Arbeitsgemeinschaft DÜ, sondern des Hamburger Überseekollegs und seines Trägers, des Vereins für ökumenische Studentenwohnheime e.V. Man kann sich die zugleich sowohl abenteuerlich naive, als auch vorausschauend erfolgreich gewordene Kühnheit des Unterfangens heute kaum noch deutlich genug ausmalen: Eine selbst noch im Aufbau befindliche Initiative wie das wesentlich von der ESG motivierte Überseekolleg entwickelte die Selbstgewissheit, bei Brot für die Welt (BfdW) Mittel nicht nur für einen Vorbereitungskurs, sondern auch für die eigene Entsendung von Fachkräften nach Übersee zu beantragen.
Der Antrag über DM 108.780,- wurde von BfdW am 29. September 1960 bewilligt. Das war die gleiche Sitzung, die auf Anregung von Kirchenrat Dr. Christian Berg, dem damaligen Direktor der ökumenischen Abteilung des Diakonischen Werkes und Initiator der Aktion Brot für die Welt, die Gründung eines ökumenischen Personaldienstes beschloss, dessen erste Sitzung in Hamburg am 9. November 1960 stattgefunden hat - der Tag gilt seitdem als das Gründungsdatum von DÜ.
An die Gestaltung der Vorbereitungskurse sind wir weitgehend mit der gleichen naiven Unbekümmertheit der Pioniere und Ausprobierer herangegangen wie an die anderen vielen ersten Schritte auch. Bemerkenswert eindrucksvoll ist eine Beobachtung, an die zu erinnern fast vierzig Jahre danach besonders interessant ist und die nachdenklich macht: Die Bibelarbeiten Auslegung und anschließend Aussprache in Gruppen, jeweils eineinhalb Stunden, in jeder Woche viermal wurden in einer Woche vom Lübecker Bischof Heinrich Meyer und in einer weiteren Woche vom Hamburger Bischof Karl Witte gehalten. Das ist eine heute kaum nachvollziehbare Vorstellung: Bischöfe nehmen sich drei bis viermal in der Woche einschließlich An- und Abreise einen ganzen Vormittag Zeit, um mit 16 jungen Leuten, die sich, aus der ganzen Bundesrepublik kommend und durch die ESG motiviert, darauf vorbereiteten, durch eine kirchliche Organisation nach Übersee vermittelt zu werden. Die Frage liegt auf der Hand: Haben Bischöfinnen und Bischöfe heute wirklich so viel Wichtigeres zu tun? Oder warum fällt der Gedanke so schwer, sich bei unseren Oberhirten heute ähnliche Prioritätensetzungen vorzustellen? Vielleicht werden sie nur nicht eindringlich genug von den richtigen Leuten angesprochen und gebeten?
Nach der knappen Betrachtung der frühen Anfänge möchte ich abschließend noch zwei Positionen wenigstens kurz benennen, zu denen ich mich seit geraumer Zeit lieber distanzierter als früher äußere. Im Herbst 1970, als DÜ zehn Jahre alt wurde, erschien der Berichtsband über die Anfänge unter dem Titel "Unterwegs zur einen Welt". Das Buch ist nach wie vor brauchbar und notwendig als wichtige historische Quelle zum Aufbau ökumenischer und internationaler Personaldienste, in vielen wesentlichen Stücken nicht veraltet und nur partiell langweilig. Aber den Titel würde ich nicht mehr so formulieren wollen. "Eine Welt" das hat sich inzwischen denn wohl doch als eine zu simple Utopie herausgestellt und kann sowohl arrogant als auch eurozentrisch vereinnahmend missverstanden werden.
Überall wurden und werden oft sehr unterschiedliche "eine Welten" konzipiert und angestrebt, nicht selten mit Gewalt. Wichtiger und realer erscheint es mir inzwischen, Differenzen zu erkennen, sie anzuerkennen und zunächst einmal zu fragen, ob und wie wir mit Differenzen nicht vielleicht friedlich, möglicherweise sogar bereichert, leben können. Ausdrücklich füge ich hinzu: Das gilt auch für die Ökumenische Bewegung, die mit sichtbarer Einheit meines Erachtens eine so wie bisher nicht aufrecht zu erhaltende, weil theologisch und historisch zu einseitige Akzentsetzung verfolgt. Die neuesten Einheitsbemühungen von Bruder Ratzinger bestätigen mich in meiner These.
Die zweite Korrektur: Wir haben zu lange und zu naiv von "Theologie der Armut" geredet. Vieles daran war oberflächlicher Moralismus, und ich vermute, die wirklich Armen haben nichts davon gehabt. Was wir aber weitgehend versäumt haben, das ist, nachzudenken über eine "Theologie des Wohlstands", die uns selbst mehr kosten würde als nur Feststellungen über moralische und politische Defizite bei Anderen und Wünschenswertes für andere Andere. Wir haben es also versäumt, konkreter und kritisch über die Situation nachzudenken, in der die meisten von uns leben, an der wir festhalten und an der wir auch so schnell nichts ändern lassen wollen. Unterwegs wohin? Und mit welchen Korrekturen des eigenen Weges? Das wären Ausgangspunkte für das Nachdenken über die weitere Zukunft von DÜ.
Eberhard le Coutre war Anfang der 60er-Jahre als Vereinspastor beim Verein für ökumenische Studentenwohnheime und Studentenpfarrer beteiligt an der Gründung von DÜ und war mitverantwortlich für den Aufbau des Überseekollegs in Hamburg und die ersten DÜ-Vorbereitungskurse im Haus am Schüberg.
Die Geister, die wir riefen, schlafen nichtMit Häme und Spott
krächzst am Schüberg E. Le C. |
aus: der überblick 04/2000, Seite 126
AUTOR(EN):
Eberhard le Coutre:
Eberhard le Coutre ist ehemaliger Chefredakteur des "überblicks" und lebt jetzt im Ruhestand.