Nancy Wambui aus Kenia pflegt in Oxfordshire alte Engländer und träumt davon, zuhause ein Klinikum zu eröffnen.
von Vanessa Baird
Flughafen London-Gatwick, 11. Juli 2001. Nancy Wambui Itotia steht in der langen Schlange vor der Einwanderungskontrolle und schiebt sich Stück für Stück voran. In der Hand hält sie einen kenianischen Reisepass. Und in dem Pass das Wesentliche: ein Visum zur Einreise nach Großbritannien als »Schwesternschülerin«.
Schwesternschülerin eine eigenartige Bezeichnung für eine staatlich geprüfte Krankenschwester mit zwanzig Jahren Erfahrung auf den verschiedensten Gebieten: von Geburtshilfe und Familienplanung bis hin zu Basisgesundheit und Impfungen. Sogar andere Krankenschwestern hatte sie schon ausgebildet. Um aber in Großbritannien arbeiten zu dürfen, muss sie wieder zur Schülerin werden und eine dreimonatige »Einarbeitungsphase« absolvieren, bevor sie in ihrem Beruf arbeiten darf.
Es gibt viele wie sie. Nancy ist eine von drei Millionen Krankenschwestern und Ärzten aus Entwicklungsländern, die durch wohlhabende Länder angeheuert wurden. Krankenhäuser und Pflegeheime in den westlichen Ländern und weiten Teilen Asiens und Australiens müssten ohne Leute wie Nancy schließen. Heutzutage arbeiten mehr Ärzte aus Benin in Frankreich als in Benin und mehr äthiopische Ärzte in Washington DC als in ganz Äthiopien. Etwa 40 Prozent der Krankenschwestern und über 30 Prozent der Ärzte, die derzeit ihre Arbeit für das britische Gesundheitswesen aufnehmen, wurden im Ausland ausgebildet. Dieser Trend zeichnet sich auch in vielen anderen Ländern ab.
Es ist ein gutes Geschäft für die reichen Länder, die so im Durchschnitt 184.000 US-Dollar Ausbildungskosten für jeden einzelnen dieser drei Millionen Fachleute sparen. Das summiert sich zu Einsparungen in Höhe von 552 Milliarden Dollar und entspricht in etwa der gesamten Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer. Das Geld, das die Krankenschwestern und Ärzte nach Hause schicken, hilft ihren Familien und Heimatgemeinden. In vielen Ländern, wie etwa den Philippinen, stellen die Überweisungen von Arbeitskräften aus dem Ausland die größte Einkommensquelle des Landes dar.
Es gibt aber auch eine Schattenseite. Selbst Krankenhäuser in Indien und auf den Philippinen, die weit über den Bedarf hinaus Ärzte und Krankenschwestern ausbilden, beginnen wegen der Abwanderung medizinischer Fachkräfte unter Personalmangel zu leiden. Und im bettelarmen Schwarzafrika mit seinen HIV/AIDS-, Tuberkulose- und Malariaepidemien ist die Lage einfach katastrophal. Etwa 23.000 ausgebildete Ärzte und Krankenschwestern sind letztes Jahr ausgewandert und lassen dem International Office for Migration (IOM) zufolge »ihr eigenes gebeuteltes Gesundheitswesen im akuten Krisenzustand zurück«.
Auch wenn sie solche Statistiken nicht zur Hand hat, ist sich Nancy sehr wohl bewusst, dass sie Teil des brain drain ist. »In Kenia bin ich mit meinem Gehalt als Krankenschwester nicht über die Runden gekommen«, sagt sie. Sie hat drei Kinder zu unterstützen und lebt getrennt von ihrem Ehemann. Von ihm erhält sie keinerlei Hilfe. In Kenia hat Nancy, eine Krankenschwester auf dem Gipfel ihrer Karriere, ein Sechzehntel von dem verdient, was sie jetzt in einem Pflegeheim in Oxfordshire bekommt. Mit Überstunden verdient sie bis zu dreißigmal mehr als in Kenia. Das Geld, das sie dadurch nach Hause zu ihrer Familie schicken konnte, schenkte Hoffnung, wo keiner zu hoffen wagte. Sie konnte sogar das Leben eines Cousins retten.
Die Vorbereitung auf die Arbeit im Ausland war nicht einfach. Nancy brauchte drei Jahre dafür. Sie hat sich nicht an eine Agentur gewandt, sondern sich direkt beim British Midwife and Nursing Council beworben. Das war eine weise Entscheidung. Denn allzu oft steckt hinter Geschichten von extremer Ausnutzung und Ausbeutung irgendeine Agentur.
Als an jenem Sommertag 2001 ihr Flugzeug in London landete, war Nancy aufgeregt, ängstlich und traurig. Sie hatte eine Tochter und zwei Söhne zurückgelassen Ruth, damals 15 Jahre alt, Ayub (19) und den 22-jährigen Joel. Sie musste sich auch erst einmal an dieses fremde Land im Norden gewöhnen, das so anders ist als ihr Heimatland auf dem Äquator. »Was für ein Land ist das hier nur«, dachte sie an jenem Juli-Abend, »wo es abends nicht dunkel wird?«
Nancy absolvierte ihre »Einarbeitungszeit« in einem privaten Pflegeheim im nordenglischen Städtchen Scunthorpe. Wie viele der Krankenschwestern aus dem Ausland war sie enttäuscht, dass sie in einem Pflegeheim und nicht in einem Krankenhaus beschäftigt werden sollte. »Ich hatte gehofft, etwas dazuzulernen«, sagte sie. Sie war auch sehr überrascht, dass die dreimonatige »Einarbeitungszeit« weitgehend unbezahlt sein würde, obwohl sie für Essen und Unterbringung aufkommen musste. »Die ersten 35 Stunden in der Woche arbeitete man umsonst. Erst danach wurden Überstunden bezahlt.« Nach Auffassung des Berufsverbandes der Krankenschwestern, dem Royal College of Nursing, ist das inakzeptabel. Dennoch ist diese Form der Ausbeutung vor allem im privaten Bereich gängige Praxis, wenn Krankenschwestern aus dem Ausland nach Großbritannien kommen, und es scheint noch nicht einmal gegen geltendes Recht zu verstoßen. Ausländische Krankenschwestern, die in westlichen Ländern arbeiten, werden auf vielfältige Weise um ein Teil ihres Gehalts gebracht etwa in Form von Abzügen für Arbeitgeber, Agenturen oder Dritte, durch Schuldknechtschaft und Gehälter weit unter dem gesetzlichen Minimum. In einer im Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation 2005 erschienenen Studie von B. Anderson und B. Rogaly war von einer indischen Krankenschwester die Rede, die im britischen Gesundheitswesen arbeitet und nach Abzug aller »Unkosten« gerade noch einmal zehn US-Dollar in der Woche zum Leben hat.
Was ihre Ausbildung in Krankenpflege betrifft, hat Nancy in ihrer »Einarbeitungszeit« nichts Neues gelernt bis auf den Einsatz modernster Hebehilfen. Als sie schließlich fertig »eingearbeitet« war, nahm sie eine Beschäftigung in einem anderen Pflegeheim in Staffordshire auf. Inzwischen war es November und sehr kalt. »Ich lief mit zwei Wärmflaschen herum, um warm zu werden eine hatte ich mir auf den Bauch gebunden, die andere auf den Rücken.« Sie zog in eine sehr kleine Wohnung, die sie mit einer anderen Krankenschwester teilte. Dann eines Tages, die andere Krankenschwester war nicht da, rutschte Nancy im Badezimmer aus und verletzte sich am Kopf. »Ich fühlte mich plötzlich sehr allein. Ich dachte, wenn ich hier sterbe, merkt es keiner.« Sie vermisste ihre Familie und die afrikanische Lebensart. Aber sie konnte in diesem Stadium nicht aufgeben. Stattdessen nahm sie auf Anraten einer kenianischen Freundin eine Stelle in einem Pflegeheim in Oxfordshire an.
Ihre Tochter Ruth ist inzwischen zu ihr nach England gekommen. Sie studiert Naturwissenschaften in der Hoffnung, einmal eine Laufbahn in einem medizinischen Beruf einschlagen zu können. Die Söhne und ihre neunzigjährige Mutter leben weiter in Kenia und brauchen mit der weitverzweigten Familie ihre Unterstützung. Also muss sie weiter »arbeiten, arbeiten, arbeiten«. Und die heikle Frage wegschieben, ob sie nicht in einem Krankenhaus ihres Landes viel dringender gebraucht würde.
Ein paar Monate später können wir dieser Frage in ihrer Heimat Kenia gemeinsam nachgehen. Ich hatte Nancy im Oktober 2004 zum ersten mal getroffen und später gebeten, mich auf einer Recherchereise nach Kenia zu begleiten.
Wir sind am Nairobi International Airport angekommen und werden von Nancys ältestem Sohn Joel und ihrem taxifahrenden Onkel Munyui abgeholt. »Du hast mich erlöst! Du hast mich erlöst! Du hast mich erlöst!« So tönt Radio Hope FM aus dem Autoradio des Taxis. Es ist ein evangelikaler christlicher Radiosender, der Popmusik mit einer religiösen Botschaft sendet, unterbrochen von markigen Predigten eines DJs mit dem Lächeln in der Stimme. Die beiden großen Koffer von Nancy werden im Kofferraum verstaut, sie zieht die Mäntel aus, die sie auf der Reise übereinander getragen hat es sind natürlich Geschenke , und das Taxi reiht sich in den Stau ein, um das Flughafengelände zu verlassen. Hier sieht es aus wie an jedem anderen Flughafen der Welt: die Schilder der internationalen Mietwagenfirmen und Fluglinien ergeben ein einheitliches, globalisiertes Erscheinungsbild. Auf Radio Hope FM werden gerade die Tugenden der sexuellen Treue und Abstinenz propagiert. AIDS wird nicht ausdrücklich erwähnt, ist aber unausgesprochener Hintergrund.
Das Taxi biegt scharf ab, und wir halten vor einem großen Eisentor. Auf einem Schild steht »Komarock Phase IV«. Bevor wir weiterfahren dürfen, fragt uns ein Wachmann nach der Hausnummer. Ich hatte nicht erwartet, dass wir einen Besuch in einem Wohngebiet »hinter Gittern« machen würden. In meinen Augen sind die Leute in dieser Gegend nicht besonders reich, und die Häuser verfügen über weniger modernen Komfort als das Mietshaus, das Nancy und ihre Tochter Ruth mit einer anderen afrikanischen Familie in England teilen. Aber die Sicherheitsvorkehrungen lassen darauf schließen, dass diese Verhältnisse für viele Kenianer Wohlstand bedeuten. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Nancy ist glücklich, zu Hause zu sein, und ist stolz auf das Zuhause. Das ist verständlich. Sie war in der Lage, dieses Haus für umgerechnet 25.000 US-Dollar aus ihren Ersparnissen als Krankenschwester in England zu kaufen. »Das hätte ich mit meinem Gehalt als Krankenschwester in Kenia nie bezahlen können.« Aber auch nicht in England mit dem Gehalt einer Krankenschwester in diesen Tagen. Das ist einer der Faktoren, der dazu führt, dass jährlich 8000 britische Krankenpfleger für besser bezahlte Jobs in Länder wie die Vereinigten Staaten abwandern. Das führt dazu, dass Großbritannien selber einen gravierenden brain drain im medizinischen Bereich erlebt der allerdings verglichen mit afrikanischen Verhältnissen eher tröpfelnd ist.
Nancys Haus in Komarock wird derzeit von ihrem Sohn Joel und ihrer Großnichte Juliet bewohnt, die in einem nahegelegenen Friseursalon arbeitet. Während wir essen, wechselt die Unterhaltung zwischen Kikuyu, Suaheli und Englisch, um Nancy im Hinblick auf ihre ganze Familie auf den neuesten Stand zu bringen. Nach dem Essen aus Ugali (Maisbrei) mit einer Art Grünkohl ist der große Moment gekommen. Nancy öffnet ihr Handgepäck und holt eine Videokamera hervor. Sie überreicht sie ihrem ältesten Sohn Joel. Einen Moment lang ist der 26-Jährige sprachlos. Es ist genau das, wovon der junge Journalist und Kameramann geträumt hat. Er bedankt sich bei seiner Mutter und untersucht das gute Stück von allen Seiten. Er weiß, dass es ein großes Opfer für sie gewesen ist. Eine solche Kamera ist für jeden Geldbeutel eine kostspielige Anschaffung, aber er hat ihr versichert, dass er damit keine weitere Hilfe von ihr mehr nötig habe und sie sich dann darauf konzentrieren könne, anderen Familienmitgliedern zu helfen. »Ich kann damit Filmaufnahmen für die Nachrichten machen und die Kamera gegen Geld verleihen.« Joel, Absolvent des Studiengangs Kommunikationswissenschaft, hat schon Filmaufnahmen für den größten Fernsehkanal des Landes, Kenya Television Network, gemacht, stand aber bisher vor dem Problem, ohne eigenes Equipment arbeiten zu müssen.
Es ist schon nach Mitternacht, als Nancys jüngster Sohn erscheint. Er kommt gerade von seiner Schicht als Kellner in einem Restaurant mit Barbetrieb. Nancy, die selber keinen Alkohol trinkt, ist nicht sehr glücklich über diesen Job. Aber es ist immer noch besser als wie zuvor arbeitslos zu sein. Ayub arbeitet gewöhnlich zermürbende 18 Stunden am Stück, fängt mittags an und ist erst um sechs Uhr am folgenden Morgen fertig. Er hat rote Augen und ist erschöpft. Und er hat eine fünf Monate alte Tochter. Er kommt immer nur für ein paar Stunden nach Hause, bevor er wieder arbeiten gehen muss. Dafür verdient er 70 US-Dollar im Monat nicht einmal annähernd genug, dass er, seine Partnerin Winnie und das Baby davon leben könnten. Er weiß, dass es so nicht weitergehen kann, und Nancy weiß das auch. »Ich habe Joel geholfen, jetzt muss ich mich auf Ayub konzentrieren«, sagt sie.
Ayub hat einen Plan für die Zukunft. Er möchte den Job in der Bar schmeißen und etwas Geld mit dem Verkauf von Zigaretten verdienen. Wenn er damit genug verdient hat, möchte er mit Winnie, die gelernte Köchin ist, ein kleines Restaurant aufmachen.
Nancy gibt mir einen Schubs, »Hier, wir sind da!« Wir quetschen uns wie Zahnpasta aus dem Matatu, dem Sammeltaxi, das ein paar kostbare Sekunden lang anhält, bevor es knatternd seinen Weg fortsetzt. Den grauen Anblick Nairobis haben wir hinter uns gelassen und stehen nun in einer grünen Landschaft mit sanft geschwungenen Hügeln. Hier hat Nancy acht Jahre lang bis 1994 gearbeitet. Wir passieren das Tor des Tigoni Community Hospitals. »Hier bin ich mit Schwesternschülerinnen hingegangen, um ihnen zu zeigen, wie ein Krankenhaus im ländlichen Bereich funktioniert«, erklärt Nancy.
Auf einem Abhang gelegen, macht das Krankenhaus mit seinen weißen Gebäuden, Bäumen und blühenden Büschen einen friedlichen und angenehmen Eindruck. Wir treffen zufällig ein Geschwisterpaar, das entfernt mit Nancys Ehemann verwandt ist. Die beiden wollen ihren Bruder besuchen, der vor drei Tagen aufgenommen wurde. Sie laden uns ein mitzukommen. Wir gehen durch eine Frauenstation mit etwa einem Dutzend Patientinnen und gelangen von dort direkt auf die Männerstation mit nur unwesentlich weniger Kranken. »Einfach« ist vielleicht noch das freundlichste Wort um die Zustände dort zu beschreiben. Es fehlen Laken, und wenn welche da sind, sind diese schmutzig, die Decken sind dünn, alt und nicht gerade sauber. Keine nennenswerte moderne Ausstattung. Die meisten Leute sehen extrem krank aus. Abgemagert, sie wickeln sich in ihre Decken ein, um nicht zu frieren.
Nancys Verwandtem geht es schlecht. Er ist kaum in der Lage, seine Besucher zu erkennen. Auch wenn das nicht wirklich nötig gewesen wäre, erklärt sein Bruder: »AIDS, akute Phase.« Der Kranke ist 43 Jahre alt. Eine seiner Töchter kam ihn besuchen und lief sofort wieder weg, als sie sah, wie schlecht es ihm ging. Trotz seines Zustandes oder gerade deswegen? wird das Krankenhaus ihn heute entlassen. »Wir müssen ihn nach Hause tragen«, erzählt mir sein Bruder. Der Kranke wird bei seiner Mutter unterkommen, die selber hoch betagt, kränklich und arm ist. Das nennt man dann home care. Die Verwandten hoffen noch immer, dass sie ein anderes Krankenhaus finden werden, das ihn aufnimmt und wo er ein paar Medikamente bekommen kann. Es gibt aber noch nichts Konkretes.
Antiretrovitale Medikamente, die die Symptome lindern und das Leben eines HIV-Patienten verlängern, sind immer noch teuer, und nur einer von fünf Kenianern, der sie nötig hätte, erhält sie tatsächlich. In Großbritannien, wo ausreichend antiretrovirale Medikamente zur Verfügung stehen und die Ernährungs-, Gesundheits- und Lebensstandards ungleich höher sind, starben im Jahr 2003 rund 500 Menschen an AIDS. Das heißt einer von 64 bei insgesamt 32.000 Infektionen. In Kenia starben 140.000 Menschen im Jahr 2003 das ist einer von zehn bei 1,4 Millionen Infektionen. Alle Patienten auf den beiden Stationen des Krankenhauses sind mit HIV infiziert.
Als wir das Gelände des Krankenhauses verlassen, ist Nancy niedergeschlagen. »Ich habe es langsam kommen sehen«, sagt sie. »Als ich 1978 meine Prüfung als Krankenschwester ablegte, hatten wir in diesem Land ein wirklich gutes Gesundheitswesen. Der Pflegestandard war gut. Aber in der 24-jährigen Regierungszeit von Präsident Moi ist es bergab gegangen, und jetzt sieht es wirklich schlimm aus. Das siehst du ja selber. Früher wurden die Leute wie Menschen behandelt. Jetzt behandelt man sie wie Ausschuss.«
Das Moi-Regime muss für vieles herhalten. Aber es gibt auch andere schwerwiegende Ursachen. Während der ersten zwei Jahrzehnte nach ihrer Unabhängigkeit gab es in den afrikanischen Ländern erhebliche Verbesserungen im Gesundheitswesen. In Kenia zum Beispiel konnte die Kindersterblichkeit zwischen 1963 und 1983 um fast 50 Prozent gesenkt werden. In Afrika südlich des Sahara stieg die durchschnittliche Lebenserwartung von 44 auf 50 Jahre.
Aber in den 1980er und 1990er Jahren, als die Rohstoffpreise zusammenbrachen und die Schuldenlast immer drückender wurde, mussten die Regierungen die Kontrolle über ihre wirtschaftlichen Entscheidungen abtreten, um sich für Darlehen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu qualifizieren. Die an diese Darlehen geknüpften Bedingungen machten einen Großteil des Fortschritts im öffentlichen Gesundheitssektor zunichte. Subventionen für Nahrungsmittel wurden abgeschafft, die Haushalte im Gesundheitssektor zusammengestrichen und medizinische Dienstleistungen privatisiert. »Nutzungsgebühren« wurden für Gesundheitsdienstleistungen eingeführt, die den Patienten vorher kostenlos zur Verfügung gestanden hatten. Die Fähigkeit afrikanischer Regierungen, mit der wachsenden Gesundheitskrise fertig zu werden, nahm ab. Die Lebenserwartung der Afrikaner ist um 15 Jahre gesunken.
Wenn Tigoni ein Beispiel für die Zustände in einem Krankenhaus auf dem Land ist, wie wird es dann in dem riesigen Kenyatta National Hospital in Nairobi aussehen? Nancy hat in dem Hauptstadt-Krankenhaus zwischen 1974 und 1986 gearbeitet. Hier hat sie gelernt, und sie hat es als »sehr gute Einrichtung« in Erinnerung. Auf den ersten Blick wirkt das Kenyatta National wie ein großes Krankenhaus in Großbritannien. Sogar die Ausschilderung und die gelb gestrichenen Türen erinnern mich an zu Hause. Aber ich habe meine Zweifel, dass viele britische Krankenhäuser derartige Herausforderungen meistern müssen, wie die Mitarbeiter in Nairobis größtem Krankenhaus in ihrem Alltag. Ich habe von dort arbeitenden Krankenschwestern gehört, dass die Patienten oft zu zweit oder zu dritt ein Bett teilen und die Betten auf dem Flur entlang den Wänden stehen, wo immer nur ein bisschen Platz frei ist.
Die Pressesprecherin des Krankenhauses Hannah Jakuo nimmt kein Blatt vor den Mund. »Wir schicken niemals Patienten weg«, erklärt sie. »Und sie kommen aus dem ganzen Land zu uns. Dieses Krankenhaus sollte nie ein Allgemeines Krankenhaus sein. Es war gedacht als eine Fachklinik und ein Lehrkrankenhaus, aber wir müssen uns um alles kümmern, was eingeliefert wird: TB, Malaria, Unfälle, alles.«
Die neue Regierung unter Kibali erhält jetzt wieder Geld vom IWF. Doch der verlangt beträchtliche Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben. Das Gesundheitsministerium kürzt seine Gelder für das Kenyatta National und übt Druck aus, mehr Abteilungen zu privatisieren und von den Patienten Gebühren zu verlangen. Die Gebühren wirken sich auf die Mutter-Kind-Sterblichkeit aus. Zur Vermeidung von Gebühren entscheiden sich viele Frauen für riskante Hausgeburten. »Andere versuchen, Geld zu sparen, indem sie den Gang ins Krankenhaus so lange wie möglich herauszögern«, sagt Nancy. Aber die Konsequenzen können fatal sein. Eine von Nancys Nichten starb bei der Entbindung, weil sie aus finanziellen Gründen nicht ins Krankenhaus gehen wollte. Die Müttersterblichkeit in Kenia ist mit 414 von 100.000 hoch. Und die Säuglingssterblichkeit ist noch höher: 114 von 1000 Lebendgeburten, im Vergleich zu fünf in Großbritannien. Die kenianische Gesundheitsministerin Charity Ngilu befürchtet, dass das Land keine Hoffnung mehr hat, die Millenium Development Goals (vergl. »der überblick« 1/2004) zur Verringerung der Mutter- und Kindersterblichkeit zu erreichen.
Und natürlich gibt es noch ein anderes Problem: »Es gibt eine merkliche Abwanderung von medizinischen Fachkräften nach Großbritannien und Amerika«, sagt Hannah Jakuo. »Hier [im Kenyatta National] fehlen mindestens 1000 Mitarbeiter. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt einen Pfleger/Patienten Schlüssel von 1:6. Bei uns ist das Verhältnis 1:30.« In Kenia arbeiten derzeit etwa 12.600 Krankenschwestern; der Verband der Krankenschwestern gibt an, dass das Land noch mindestens 7000 weitere braucht.
Während die Abwanderung der medizinischen Fachkräfte die Situation zweifellos verschlimmert, hören Nancy und ich aber von Krankenschwestern, die wir treffen, auch eine ganz andere Geschichte. Sie berichten uns, dass es in Kenia eine große Anzahl von arbeitslosen Krankenschwestern gibt. Die meisten sind gerade erst mit ihrer Ausbildung fertig. »Das kann ich kaum glauben«, sagt Nancy. Aber Dr. Francis Kimani, Sprecher des kenianischen Gesundheitsministeriums, bestätigt, dass es aktuell etwa 5000 arbeitslose Krankenschwestern im Land gibt. »Es ist ein Desaster«, sagt er. »Alle guten Köpfe verlassen das Land, weil man ihnen in den entwickelten Ländern bessere Gehälter und Arbeitsbedingungen verspricht. Und wir können kein neues Personal einstellen, weil uns der IWF einen Einstellungsstopp auferlegt hat.« Seine Aussage wird von einem Sprecher der Weltbank in Nairobi etwas differenzierter erklärt: »Die Weltbank hat kein generelles Einstellungsverbot für Krankenschwestern oder Beamte erlassen. Allerdings ist die Höhe der Ausgaben für Löhne und Gehälter ein Thema, und der IWF ist mit der Regierung darüber im Gespräch, wie man die Ausgaben für Gehälter begrenzen kann.«
Die Kenyan Nurses Union, der Verband der Krankenschwester in Kenia, hat dagegen die »Abwerbeversuche« afrikanischer Krankenschwester durch einige Länder sehr lautstark kritisiert. Krankenschwestern wie Nancy, die das Land verlassen oft ohne sich abzumelden, aus Angst davor, dass man versuchen würde, sie davon abzuhalten erhöhen den Druck auf die, die zurückbleiben. Das Thema ist insgesamt heikel. Die ehrenamtliche Geschäftsführerin des Verbandes Evelyn Mutio erläutert uns: »Wir können Krankenschwestern nicht davon abhalten, auf saftigeren Wiesen zu weiden. Es ist wie mit einer Mutter, die ihre Töchter zu Hause halten will, indem sie Türen und Fenster verriegelt. Das nützt nichts. Sie finden auch so ihren Weg nach draußen.« Sie sollte es wissen, denn sie hat selber mehrere Jahre im Ausland gearbeitet. Mutio wünscht sich, dass die internationale Vermittlung nicht länger über private Agenturen läuft, sondern durch ein verantwortliches Gremium abgewickelt wird. »Wir wollen gleiche Rechte für alle Krankenschwestern«, sagt sie. »Die reichen Länder benutzen ausländische Krankenschwestern als billige Arbeitskräfte, und ein internationales Gremium sollte eine Art Mindeststandards durchsetzen.« Sie hält den Weltverband der Krankenschwestern und -pfleger (ICN - International Council of Nurses) dafür geeignet.
Die größte Herausforderung ist es, Krankenschwestern zu motivieren, in Afrika zu arbeiten. Außer dass die Schwestern eine bessere Bezahlung brauchen, glaubt Mutio, dass eine Erhöhung des Rentenalters von 55 auf 60 Jahre ratsam wäre, damit ältere Krankenschwestern noch weiter Geld verdienen können. Jene, die im Ausland gearbeitet haben, sollten aufgefordert werden, wieder ins heimische Gesundheitswesen zurückzukehren. Und sie würde es auch begrüßen, wenn Krankenschwestern aus reicheren Ländern einmal eine Zeitlang in Afrika arbeiten würden, um ihr Wissen über Tropenkrankheiten zu vertiefen.
Damit Kenia seine Krankenschwestern halten und neue anwerben kann, ist aber auch noch etwas anderes nötig. In verschiedenen Gesprächen mit Krankenschwestern ist mir aufgefallen, dass die Arbeitsmoral extrem niedrig ist. So sagte eine: »Du hast vielleicht im Kopf, wie man alles richtig macht, aber wenn die einfachsten Materialien dazu fehlen, was kann man da machen? Krankenschwestern sind immer dann besonders zufrieden, wenn sie einen schwerkranken Patienten pflegen können und dieser gesund nach Hause gehen kann. Mit AIDS ist das alles anders geworden.«
Wir treffen schließlich im Lande doch eine Frau, die sich danach sehnt, Teil des Gesundheitswesens in diesem Land zu werden. Nancys Schwägerin Lois lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren Enkeln auf einer Farm in der Nähe von Ngong in der Rift Valley Provinz. Lois ist freundlich, gutmütig, aber frustriert. So wie es aussieht, stellt man ihr keinen Personalausweis aus, den sie aber braucht, um eine Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen. Es gibt eine kleine Diskrepanz zwischen dem Datum auf ihrer Geburtsurkunde und dem Alter auf ihrem Schulabgangszeugnis. Ist das ein Problem? Nancy glaubt eher, dass der zuständige Beamte keine Lust hat, sich darum zu kümmern, oder dass er auf ein Bestechungsgeld wartet. »Siehst du, so versucht man die Leute daran zu hindern, dass sie etwas erreichen. Sie wollen, dass die armen Leute arm bleiben«, sagt sie. »Leute wie wir sind ängstlich, und genau das wollen sie.«
Die Großmutter des Mädchens sagt zu Nancy: »Du bist unsere Rettung.« Nancy fühlt sich sichtlich unwohl dabei. Es ist unklar, was sie überhaupt tun kann, um zu helfen. Sie gibt Lois 1000 kenianische Schillinge (gut 10 Euro), um sich beim Ausbildungszentrum für Krankenschwestern einzuschreiben und sagt ihr, sie solle gar nicht mehr auf den Ausweis warten. Es scheint der richtige Ratschlag gewesen zu sein, wie sich ein paar Tage später herausstellt. Nancys Sohn Joel erklärt sich bereit, ihr mit dem Papierkram zu helfen.
Nairobi International Airport Zeit, Abschied zu nehmen. Es ist für Nancy eine große Hilfe, dass ihre Tochter Ruth in England auf sie wartet. »Sie ist mein Trost«, sagt sie. Auch wenn es mehr als einen Versuch gekostet hat, konnte Ruth zu ihrer Mutter ziehen, weil sie noch keine 18 war. Nancy hat Glück. Bei vielen Arbeitsmigranten sucht sich das System die Rosinen in Form ihrer Arbeitskraft aus, aber verweigert sich angesichts allen überflüssigen »emotionalen Gepäcks« in Form von Familie, Partner, Kindern schlicht allem, was ein wärmeres und zufriedenes Leben ausmacht.
Ruth wartet mit dem Abendessen auf Nancy, als sie nach Hause kommt. In Kürze wird die 19-jährige Studentin im Krankenhaus des Ortes ein Praktikum machen. Letztes Jahr hätte sie die Möglichkeit gehabt, eine Ausbildung als Krankenschwester anzufangen, aber sie musste das Angebot aus finanziellen Gründen ausschlagen. Erst wenn sie drei Jahre lang in Großbritannien wohnt, zahlt sie dieselben Ausbildungsgebühren wie eine inländische Schwesternschülerin. Andernfalls sind die Gebühren exorbitant. Wenn Ruth in Großbritannien ihre Ausbildung macht und vielleicht irgendwann einmal mit ihren erlernten Kenntnissen nach Kenia zurückkehrt, wird der Fluss an Fachwissen, der mit Nancys Aufbruch nach Großbritannien begonnen hat, einen kompletten Kreis beschrieben haben. »Ich werde vielleicht einmal zurückgehen«, sagt Ruth. »Aber ich glaube, es wäre sinnvoll, erst einmal ein paar Jahre lang in England Erfahrungen zu sammeln.« Sie gibt zu, dass zum jetzigen Zeitpunkt die Perspektive, im kenianischen Gesundheitswesen zu arbeiten, nicht sehr attraktiv ist, so wie es dort aussieht. Aber sie schließt die Möglichkeit nicht komplett aus.
Es ist 9.30 Uhr und Nancy ist wieder bei der Arbeit in ihrem Pflegeheim. Mehrere Heimbewohner sitzen an Tischen, die zwanglos in dem hübsch dekorierten Aufenthaltsraum angeordnet sind. Eines sticht sofort ins Auge: Während die überwältigende Mehrheit der etwa 60 Heimbewohner Weiße sind, sind fast alle Pflegekräfte und Betreuer Schwarze oder Asiaten. Die meisten von ihnen stammen aus Afrika, Asien oder der Karibik. Nancy wurde nur einmal direkt mit Rassismus konfrontiert: Eine Bewohnerin weigerte sich, von Nancy ihre wundgelegenen Stellen verbinden zu lassen, weil »sie nicht glauben konnte, dass eine Krankenschwester aus Afrika das richtig machen würde«. Mit der Zeit aber hat die Bewohnerin ihre Vorurteile überwunden.
Nancy möchte in ein paar Jahren nach Kenia zurückgehen, wenn Ruth die Sache mit ihrer Ausbildung klar gemacht hat. Wäre es für sie denkbar, wieder in Kenia im öffentlichen Gesundheitswesen zu arbeiten, frage ich sie. »Die wollen mich gar nicht wieder haben. Ich bin schon über 50, für die wäre ich zu alt. Wenn ich wieder im Gesundheitswesen arbeiten würde, wäre es auf freiwilliger Basis.«Sie hat immer noch vor, eine kleine Klinik einzurichten, und hat ein kleines Stück Land in dem armen Stadtteil Githurai in Nairobi gekauft, in der Nähe, wo ihr Sohn Ayub wohnt. Sie bemüht sich momentan darum, sich die Grundeigentumsurkunde ausstellen zu lassen. »Die Klinik würde nur eine einfache Grundversorgung sichern, und wir würden die Leute umsonst behandeln. Ich müsste nur zusehen, dass ich genug verdiene, um mir Essen zu kaufen.«
aus: der überblick 03/2005, Seite 6
AUTOR(EN):
Vanessa Baird
Vanessa Baird ist Redakteurin der Zeitschrift »New Internationalist«. Dieser Beitrag ist ein gekürzter Nachdruck des Artikels »Out of Africa« im New Internationalist 379 vom Juni 2005. Die Veröffentlichung in deutscher Sprache erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.