Orientalische Christen fürchten die Demokratisierung
Viele Christen im Nahen Osten stehen Demokratisierungstendenzen mit gemischten Gefühlen gegenüber. Sie fürchten, dass Islamisten in demokratischen Wahlen die Mehrheit bekommen könnten und die Christen als Minderheit in einem islamischen Staat die Protektion verlieren, welche sie unter den autoritären Regimen genießen.
von Albrecht Metzger
Es gibt Staatsmänner, die im Ausland beliebter sind als zuhause. Der frühere ägyptische Präsident Anwar al-Sadat gehört dazu. Er genießt im Westen einen guten Ruf, weil er sein Land wirtschaftlich öffnete und 1978 Frieden mit Israel schloss. In Ägypten sieht das jedoch ganz anders aus. Besonders die Kopten sind nicht gut auf den »Mann des Friedens« zu sprechen. Denn in Ägypten selbst trieb er die Islamisierung von Gesellschaft und Politik voran, um so den Einfluss von Nationalisten und Sozialisten zurückzudrängen. Sowohl die gemäßigten Muslimbrüder wie die militanten Islamisten der Gamaa Islamiya sowie des »Islamischen Dschihads« erlebten damals ihren Aufschwung, der bis heute anhält. »Ich verurteile immer die Zeit der siebziger Jahre«, sagt der koptische Soziologe Samir Murqus. »Damals begannen die militanten Gruppen zu wachsen und sogar der Präsident sprach in öffentlichen Reden davon, dass er ein 'muslimischer Präsident' in einem 'islamischen Land' sei. Dann stellt sich aber zwangsläufig die Frage: Was ist mit den Nichtmuslimen? Sind wir Teil dieses Landes oder nicht?«
Unter dem jetzigen Präsidenten Hosni Mubarak hat sich die Lage wieder etwas entspannt. Er bekämpft die militanten Islamisten mit aller Härte und betont gleichzeitig die nationale Einheit zwischen Christen und Muslimen. Bei offiziellen Anlässen zeigt er sich gerne mit Papst Shenouda, dem Oberhaupt der Kopten, Seite an Seite mit dem Scheich der al-Azhar Moschee, Muhammad al-Tantawi. Dennoch fühlen sich die koptischen Christen wie auch die Christen in anderen arabischen Ländern in einer prekären Lage. Mit Ausnahme des Libanon, wo sie etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind sie überall deutlich in der Minderheit. Von knapp 80 Millionen Ägyptern sind hoch geschätzt etwa zehn Prozent Christen, in manchen Teilen Oberägyptens machen sie allerdings über zwanzig Prozent der Bevölkerung aus. In Syrien ist die Situation ähnlich. Das Schlusslicht bilden der Irak mit drei, sowie Israel und Palästina mit rund zwei Prozent Christen.
Viele Christen sehen die Demokratisierungsforderungen, die der Westen an die arabischen Länder stellt, mit Skepsis. Sie fürchten, dass bei wirklich freien Wahlen die Islamisten siegen werden. So sind die arabischen Christen zu Verbündeten der Regime in Ägypten und Syrien, im Irak früher sogar zu Verbündeten von Saddam Hussein geworden, weil diese Regime wenigstens einen »säkularen Rahmen haben«, wie es der Journalist Geoger Nassif nennt, der bei der renommierten libanesischen Zeitung al-Nahar für die Religionsseiten zuständig ist.
Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein schien der Emanzipation der arabischen Christen im Nahen Osten zumindest theoretisch nichts im Wege zu stehen. Der arabische Nationalismus, die beherrschende Ideologie jener Zeit, beruhte auf einem Konsens, der besagte, dass Christen und Muslime aufgrund ihrer Sprache und Kultur ein gemeinsames Schicksal teilten und deswegen gleichberechtigte Partner im Kampf um die nationale Souveränität seien. Diese Gleichberechtigung ist de facto nie umgesetzt worden, doch die Tatsache, dass die Religion im öffentlichen Diskurs eine immer geringere Rolle spielte und die Säkularisierung unweigerlich ihren Lauf zu nehmen schien, hielt die Aussicht auf eben jene Gleichberechtigung wach.
Doch mit dem Wiedererstarken des Islamismus in den siebziger Jahren hat sich der nationale Konsens zwischen Christen und Muslimen immer weiter aufgelöst in manchen Ländern früher, in manchen später. Das Ziel der Islamisten, eine islamische Ordnung auf der Basis der Scharia zu errichten, bedeutete für die orientalischen Christen unweigerlich einen Rückschritt in frühere Zeiten, als sie als Schutzbefohlene zwar geduldet wurden, aber keine Chance auf Gleichberechtigung hatten.
Es ist also nicht verwunderlich, dass sich die Christen im Nahen Osten durch den Islamismus bedroht fühlen. Diese Bedrohung manifestiert sich in zweifacher Weise: zum einen in gewaltsamen Übergriffen militanter Islamisten, welche die Christen allein wegen ihrer Religion als verlängerten Arm des westlichen Imperialismus betrachten und sie deswegen zur Zielscheibe ihrer Angriffe machen; zum anderen durch einen »weichen« Islamismus von unten, der nicht gewaltsam, aber mit viel Geduld vorgeht und darauf abzielt, die nahöstlichen Gesellschaften zu »islamisieren« und somit auf die Machtübernahme durch den politischen Islam vorzubereiten. Dazu gehört zum Beispiel die Gründung eigener Schulen, Kindergärten und Universitäten, in denen die Schüler und Studenten im Sinne der islamistischen Ideologie erzogen werden.
Gewaltakte militanter Islamisten sind allerdings eher die Ausnahme. Sie fanden in den neunziger Jahren vor allem in Oberägypten statt, wo die Kopten ein Fünftel der Bevölkerung stellen, sowie heute im Irak. Sie machen aber in besonders eklatanter Weise die Verwundbarkeit der Christen deutlich und forcieren oftmals deren Emigration.
Trotz ihrer Gewaltbereitschaft, der nicht nur Christen zum Opfer fallen, haben es die militanten Islamisten in keinem arabischen Land geschafft, sich an die Macht zu bomben. Weder in Ägypten, noch in Syrien, noch in Algerien, wo in dem Krieg zwischen Islamisten und dem Militär in den neunziger Jahren bis zu 100.000 Menschen starben.
Der Terrorismus der Gamaa Islamiya in Ägypten, der Groupe Islamique Armé in Algerien, aber auch des al-Qaida-Netzwerkes weltweit hatte eher einen gegenteiligen Effekt: Er zwang die gemäßigten Islamisten dazu, Farbe zu bekennen, wenn sie nicht mit den Terroranschlägen der militanten Islamisten in Verbindung gebracht werden wollten. Der hohe Blutzoll, den die Kriege in Algerien, Ägypten und anderswo gefordert haben, scheint bei einigen gemäßigten Islamisten auch einen wirklichen Gesinnungswandel verursacht haben, so dass sich heute viele Organisationen wie die Muslimbrüder in Ägypten und Syrien offen zur Demokratie bekennen und nach außen den Anspruch abgelegt haben, die alleinige Wahrheit gepachtet zu haben.
Viele Christen, aber auch säkulare Muslime, trauen diesen Bekenntnissen jedoch nicht über den Weg. Sie fürchten, dass sich die Islamisten nur aus Opportunismus zur Demokratie bekennen und letztlich darauf aus sind, auf sanftem Wege, sprich über Wahlen, eine islamische Ordnung zu errichten. Viele Christen ziehen deswegen den Status quo vor: Sie haben sich mit den autoritären Regimen, etwa in Ägypten und Syrien, arrangiert.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die US-amerikanische Regierung wiederholt erklärt, die Plage des Terrorismus könnte am besten eingedämmt werden durch eine Demokratisierung des Nahen Ostens. Die Greater Middle East Initiative, die der damalige Außenminister Colin Powell 2004 ausrief, zielt darauf ab. Der Krieg gegen den Irak und der Sturz Saddam Husseins sowie die Wahlen im Januar 2005 werden als wichtige Bausteine dieser Initiative betrachtet. Ferner schreibt sich die Regierung von Präsident George W. Bush die so genannte »Zedernrevolution« im Libanon zu, die nach der Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri in Gang gesetzt wurde und auf internationalen Druck hin zum Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon führte.
Ob diese aggressive Demokratisierungskampagne am Ende die erwarteten Früchte erbringen wird, ist offen. Erstaunlich ist jedoch, wie misstrauisch teilweise arabische Christen dieser Kampagne gegenüberstehen. Erstaunlich deshalb, weil sie nach der Vorstellung der amerikanischen Strategen zu den Profiteuren dieser Demokratisierungswelle zählen sollten. Denn in einem demokratisierten Staat, in dem Gleichheit vor dem Gesetz gelten würde, würden die Christen automatisch ihren Status als unterdrückte Minderheit verlieren und zu gleichberechtigten Bürgern werden. Nach dieser Idealvorstellung könnte sogar eine Koptin in Ägypten oder ein griechisch Orthodoxer in Syrien Präsident werden, weil die Kandidaten nicht anhand der Religion sondern anhand ihrer Fähigkeiten beurteilt werden würden.
Doch die Beispiele Syrien und Irak unter der Baath-Diktatur zeigen, dass sich arabische Christen durchaus mit diktatorischen Regimes arrangieren können und möglicherweise den Status quo einem radikalen Wandel, der häufig gerade Minderheiten in Mitleidenschaft zieht, vorziehen. Für die Christen in Syrien ist der Zustand ihrer Glaubensbrüder im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins jedenfalls nicht besonders verlockend. Im Gegenteil suchen mittlerweile viele Chaldäer und Assyrer aus Mossul, Bagdad und anderen irakischen Städten Zuflucht im dem Nachbarland wenngleich die politischen Freiheiten hier ähnlich eingeschränkt sind wie im Irak vor dem Sturz der Baath-Diktatur. Das Bedürfnis nach Sicherheit scheint in diesem Fall stärker zu sein als die Sehnsucht nach politischer Freiheit.
Wenngleich Christen in Syrien wie in allen arabischen Ländern keine vollständige Gleichberechtigung genießen, führen sie dennoch ein relativ gesichertes Leben. Das syrische Baath-Regime betrachtet sie als Teil der arabischen Nation und hegt keine religiösen Vorurteile gegen sie. Die Christen in Syrien genießen volle Religionsfreiheit und können, anders als etwa in Ägypten, ohne Probleme Land erwerben und Kirchen bauen, wofür sie sogar staatliche Unterstützung erhalten.
Das Baath-Regime stützt sich in wichtigen Bereichen auf die Minderheit der Alawiten. Konservative Sunniten, zumal die Islamisten unter ihnen, erkennen die Alawiten nicht als Muslime an. In der Vergangenheit beschimpften sie das Regime als »ungläubig« und bekämpften es sogar mit Waffengewalt. Christen und Alawiten eint deswegen die Angst vor einer Machtübernahme der Muslimbrüder, falls es ähnlich wie im Irak zu einem Regimewechsel und infolgedessen zu freien Wahlen kommen sollte, bei denen die Sunniten mit etwa 70 Prozent der Bevölkerung den Ausgang bestimmen würden.
Ob diese Furcht berechtigt ist, scheint allerdings fraglich. Zum einen ist es nicht sicher, dass die Muslimbrüder bei Wahlen wirklich einen so klaren Sieg davon tragen würden. Zum anderen haben sich auch die syrischen Islamisten gewandelt. Zumindest rhetorisch bekennen sie sich mittlerweile zur Demokratie und erklären in ihrem aktuellen Grundsatzprogramm, dass sie es akzeptieren würden, wenn ein Christ oder eine Frau zum Präsidenten des Landes gewählt würde. Die moderaten Töne der Muslimbrüder haben mittlerweile zu einer Annäherung zwischen den Islamisten und Teilen der säkularen Opposition geführt, obwohl auf die Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern in Syrien immer noch die Todesstrafe steht.
Doch wie in den meisten arabischen Ländern sind die Christen von derartigen Bekenntnissen zur Demokratie nicht sonderlich beeindruckt. Zumindest sehen sie keinen Grund, ihre derzeit relativ gesicherte Existenz einzutauschen gegen eine Demokratie, in der sie möglicherweise schlechter dastehen könnten als heute.
Der Irak ist kein sehr ermutigendes Beispiel für eine von oben erzwungene Demokratisierung. Er zeigt vielmehr in extremer Form die Probleme, die auftreten, wenn ein straff organisierter Staat zerschlagen wird und die Gesellschaft sich in ihre Einzelteile auflöst. In dem Chaos, das in einer solchen Situation entstehen kann, sind Minderheiten häufig das schwächste Glied in der Kette. Dazu gehören auch und vor allem die irakischen Christen, die zwischen allen Stühlen sitzen und für die derzeit die Emigration der beste Ausweg aus ihrer misslichen Lage zu sein scheint. Hinzu kommt, dass im Irak mit der US-Armee fremde Besatzer im Lande stehen, die von vielen Irakern gehasst werden, zumindest von einem Großteil der Sunniten. Jeder, der mit den Amerikanern zusammenarbeitet oder ihnen ideologisch nahe zu stehen scheint, wird von diesen Irakern als Kollaborateur bezeichnet und zum Ziel ihrer Angriffe.
Dass es im Irak Christen gibt, dürfte in der breiten Öffentlichkeit in Europa und den USA bis vor kurzem gar nicht bekannt gewesen sein. Erst eine Serie von Anschlägen auf Kirchen in Bagdad und Mossul die erste im August 2004, die zweite über Weihnachten des gleichen Jahres schärfte hierzulande das Bewusstsein für die Probleme der Christen. Zumeist wurden islamistische Terroristen verantwortlich gemacht, was auch auf der Hand liegt.
Der Terror im Irak geht nach Expertenmeinungen sowohl von Mitgliedern des ehemaligen Sicherheitsapparates des Baath-Regimes aus als auch von islamistischen Terroristen, die ihre Anhänger im Irak und in den Nachbarländern Saudi-Arabien, Syrien und Jordanien rekrutieren. Für diese Islamisten stellen die Christen Kollaborateure mit den »Kreuzzüglern« aus dem Westen dar, ganz egal, ob sie die amerikanische Invasion abgelehnt haben mögen oder nicht. Insofern ist der militante Islamismus für die irakischen Christen eine Bedrohung, wenngleich sie längst nicht die einzigen Opfer dieser Terrorstrategie sind. Gerade in den schiitischen Pilgerorten wie Kerbela kam es zu massiven Anschlägen, bei denen bis zu 180 Menschen starben. Das Ziel dürfte auch hier gewesen sein, Unruhe und Chaos zu stiften und die verschiedenen Religionsgemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen.
Abgesehen von den militanten Islamisten gibt es noch andere politische Akteure im Irak, die ein Interesse daran haben, die Christen einzuschüchtern und sie womöglich zur Auswanderung zu bewegen: die Kurden. Das mag überraschend klingen, denn die irakischen Kurden genießen im Westen ein positives Image. Sie gelten als Bollwerk gegen den islamischen Fundamentalismus; sie waren Opfer eines Völkermords, den Saddam Hussein in den achtziger Jahren an ihnen verübte. Deshalb hat man im Westen Verständnis für ihr Bedürfnis nach Autonomie oder gar Unabhängigkeit.
Die territorialen Ambitionen der Kurden gehen jedoch häufig auf Kosten anderer ethnischer wie religiöser Minderheiten, etwa der Christen und Turkmenen, die teilweise in den gleichen Gebieten wie die Kurden siedeln. So kam es im September 2004 zu weiteren Anschlägen gegen christliche Dörfer in der Provinz Niniveh, die wegen ihrer Gasvorkommen wirtschaftlich attraktiv ist. Laut der amerikanischen Ethnologin Eden Naby gingen die Anschläge auf das Konto der »Kurdisch Demokratischen Partei« (KDP), welche die Region kontrolliert und alles daran setzt, die chaldäischen Christen in die Flucht zu jagen. Eine Mischung aus »kurdischem Chauvinismus« und »fundamentalistischem Terrorismus«, so Naby, habe vermutlich bereits Tausende irakische Christen dazu bewogen, den Irak zu verlassen. Hauptziel der Flüchtlinge ist Syrien, gefolgt von Libanon und Jordanien. Ein Familienvater aus Bagdad, der seine Familie nach Damaskus brachte, erklärte seine Entscheidung wie folgt: »Wir sind sicher hier, und deswegen fühlen wir uns frei. Die Syrer sind wie Brüder zu uns, es gibt hier keine Diskriminierung. Das ist die Wahrheit und nicht einfach nur ein Kompliment.«
Doch die irakischen Christen fühlen sich nicht nur durch die gewaltsamen Übergriffe gegen sie in die Defensive gedrängt. Auch die im Januar 2005 gewählte Regierung, die für die Ausarbeitung der neuen Verfassung zuständig ist, besteht neben den Kurden hauptsächlich aus schiitischen Islamisten, die bis vor wenigen Jahren noch die Islamische Republik Iran ihr Vorbild nannten (es handelt sich hierbei um die Daawa-Partei sowie um den »Obersten Rat für die Islamische Revolution« im Irak). Mittlerweile sind auch sie zu Verfechtern der Demokratie und des Pluralismus geworden, dennoch haben sie erreicht, dass die Scharia in der Verfassung wahrscheinlich als die einzige Quelle des Rechts verankert werden wird. Das bedeutet nicht nur einen Rückschritt für die irakischen Frauen, sondern auch für die religiösen Minderheiten. Außerdem ist es in schiitisch dominierten Stadtteilen in Bagdad und Basra schon mehrfach zu gewaltsamen Übergriffen gegen christliche Läden gekommen, in denen Alkohol verkauft wird. Bislang also hält der demokratische Irak nicht sehr viel Positives für die Christen bereit.
In Reaktion auf das Aufkommen des Islamismus hat sich auch die Haltung der Christen geändert: Die Kirche wurde zu einer Art »Festung«, wie es der libanesische Journalist George Nassef nennt, in der sich Christen verteidigen. Das, so Nassef, habe sich nachteilig auf die politische Kultur ausgewirkt: »Die Kirche hat in einigen arabischen Ländern den Platz politischer Parteien eingenommen, sie haben die Politik für sich in Beschlag genommen, wie zum Beispiel in Ägypten, da haben die säkularen Parteien an Einfluss verloren auf Kosten der Verherrlichung von Papst Shenouda. Das ist ein großes Problem und schadet den Christen. Die Kirche hat meiner Meinung nach nur eine Rolle: Sie hat für die Gerechtigkeit zu kämpfen, sie muss sich für die Armen und Unterdrückten einsetzen, sie sollte nicht mit den Mächtigen paktieren. Die linken und liberalen Strömungen innerhalb des arabischen Christentums haben stark an Einfluss verloren, auch in der Theologie. Die herrschende Theologie stützt die Regime, sie verteidigt die Reichen.« Besonders ausgeprägt ist der konservative Charakter der Kirche in Ägypten, wo Papst Shenouda in den vergangenen zwanzig Jahren alle kritischen Stimmen mundtot gemacht hat.
Für viele Kopten hat dieser autoritäre Führungsstil unmittelbare Folgen. Wer sich zum Beispiel scheiden lassen will, darf kein zweites Mal kirchlich heiraten. Früher ging die Kirche damit liberaler um. Magdi Girgis, ein junger Historiker, der sich mit der Geschichte der koptischen Kirche befasst, hält das in der heutigen Zeit für weltfremd. Hinzu kommt aus seiner Sicht ein weiteres Problem: Die Kirche, sagt Girgis, sei nicht die geeignete Institution, die Kopten auf politischer Ebene zu vertreten. Genau das aber nehme sie seit langem in Anspruch: »Die Kontakte zwischen den Kopten und der Regierung laufen nur über den Klerus. Die Priester und Bischöfe sind aber nicht dafür qualifiziert, Politik zu machen, sie kommen aus den Klöstern, sie haben oft noch nicht einmal Ahnung vom normalen Leben.«
Im vergangenen Jahr löste der Film »Ich liebe das Kino« heftige Kontroversen in der koptischen Gemeinde aus. Der Film erzählt das alltägliche Leben einer christlichen Familie im Kairo der sechziger Jahre. In einer Szene küsst sich ein Liebespaar in der Kirche, in einer anderen pinkelt ein kleiner Junge in die Ecke des Gotteshauses. Ähnlich wie islamische Konservative Filme und Literatur zu verbieten suchen, die ihrer Meinung nach den Islam beleidigen, versuchte die koptische Kirche den Film aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Der koptische Journalist Samih Fawzi hält das für eine bedenkliche Tendenz. Denn so ein Verhalten könne auf die Kopten zurückschlagen: »Die Kopten achten sehr auf ihr Image in der Gesellschaft. Wenn irgendetwas ihr Image verletzt, dann protestieren sie dagegen. In so einer Situation ist es immer einfach, nach Zensur zu rufen. Aber wir sollten lieber die säkulare Gesellschaft und die Meinungsfreiheit verteidigen. Ägypten wird davon profitieren und die Kopten auch. Wenn wir religiöse Zensur zulassen, dann wird sich die religiöse Mehrheit durchsetzen und das wird den Kopten nicht zugute kommen.« Letztlich, so Fawzi, werde sich nur dann etwas ändern, wenn sich das politische System insgesamt öffne: »Die undemokratische Kultur in Ägypten ist das Problem. Wenn wir in einer wirklich demokratischen Gesellschaft leben, dann müssen sich auch die religiösen Institutionen der Demokratie unterwerfen. Ich kann mich nicht in der zivilen Gesellschaft demokratisch verhalten und innerhalb der Kirche antidemokratisch.«
Die orientalischen Christen stehen am Scheideweg. Nicht nur im Irak drängt es viele von ihnen in die Emigration. Ihre Angst vor dem Islamismus ist berechtigt. Auf der anderen Seite sind viele Islamisten gerade dabei, sich mit der Demokratie anzufreunden. Im Libanon sitzt die Hizbullah mittlerweile an einem Regierungstisch mit Vertretern der christlichen Forces Libanaises, ihren ehemaligen Todfeinden. Ähnliche Tendenzen gibt es in Palästina und sogar in Ägypten. Es ist jedoch zu befürchten, dass viele orientalische Christen nicht die Geduld aufbringen werden, sich an der schmerzhaften Geburt einer »islamischen Demokratie« zu beteiligen. Vielen könnten sich stattdessen für die Emigration in den »goldenen Westen« entscheiden. Ihr Exodus wäre ein schmerzhafter Verlust für den Nahen Osten.
aus: der überblick 03/2005, Seite 48
AUTOR(EN):
Albrecht Metzger
Albrecht Metzger ist Nahost-Experte und lebt als freier Journalist in Hamburg.