Ohne Bildung keine Zukunft
Für die Modernisierung von Wirtschaft und Verwaltung in den arabischen Ländern ist der hohe Anteil der Analphabeten ein Hindernis. Trotz einiger Erfolge, zum Teil durch Entwicklungshilfe unterstützt, wird das Bildungswesen seiner Aufgabe nicht gerecht.
von Victor Y. Billeh
Für die arabische Region begann das 21. Jahrhundert mit einer riesigen Bürde. Fast 70 von 240 Millionen Menschen können - konservativen Schätzungen zufolge - weder lesen noch schreiben. Eigentlich müsste man noch die ungefähr 10 bis 12 Millionen Kinder im schulfähigen Alter hinzuzählen, die nicht in einer Schule angemeldet sind und deshalb in ein paar Jahren die Reihen der erwachsenen Analphabeten in der Region verstärken werden. Von den 70 Millionen Arabern, die nicht Lesen und schreiben können, leben 49 Millionen in fünf Ländern: Ägypten, Sudan, Algerien, Marokko und Jemen. Der Rest ist auf die übrigen 17 Länder verteilt.
Die hohe Zahl von Analphabeten ist das größte Hindernis für die Entwicklung der Region. Der beispiellos schnelle, globale Fortschritt in Wissenschaft und Technik verschärft die Probleme für Analphabeten überall in der Welt. Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, reicht heute allein nicht mehr aus, um produktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können und schützt nicht davor, an den Rand gedrängt und entfremdet zu werden. Wissen und Technologie sind die Basis des Wirtschaftens. Das macht den Kampf gegen den Analphabetismus in den arabischen Ländern noch dringender, aber auch schwieriger.
Dass in ländlichen Gebieten so viele Mädchen und Frauen nicht Lesen und schreiben können, hat weit reichende Auswirkungen auf das Wohlergehen der Familien und ganzer Gesellschaften. Gebildete Frauen haben weniger Kinder, die bessere Chancen haben, gesund aufzuwachsen und zur Schule zu gehen. Je gebildeter die Bevölkerung ist, desto leichter fällt es ihr, sich auf eine neue und schnell verändernde Welt einzustellen, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verlangt.
Für die hohe Analphabetenrate gibt es verschiedene Gründe. Nur wenigen Menschen ist bewusst, wie sehr Bildung schon im frühen Kindesalter dazu beiträgt, dass die Kinder später auch akademische Erfolge erzielen können. Wer schon die Vorschule besucht hat, das zeigen Studien, läuft kaum Gefahr, die Grundschule vorzeitig abzubrechen.
Schulen und Bildungssysteme sind nicht in der Lage, alle Schüler bei der Stange zu halten, sodass die Abbrecherquote hoch ist. Und Jugendliche, die die Grundschule vorzeitig verlassen, werden schon ein paar Jahren später nicht mehr Lesen und schreiben können. Dem Bildungssystem im arabischen Raum gelingt es nicht, die Bedürfnisse der Schüler zu befriedigen und ihnen eine Alternative zur Arbeit oder zum Straßenleben zu bieten. Das gilt besonders für Schüler aus Arbeiterfamilien und solchen mit niedrigem Einkommen.
Der Analphabetismus unter Mädchen und Frauen ist vor allem die Folge sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Faktoren, die im Zusammenwirken die Mädchen zu Hause halten. Es fehlen Bildungseinrichtungen in der Nähe konservativer und ländlicher Gemeinden. Wenn der Schulbesuch nicht kostenlos ist oder nicht subventioniert wird, geben ärmere Familien ihren Söhnen Vorrang bei Bildung und Ausbildung.
Programme zum Abbau des Analphabetismus sind immer wieder gescheitert, weil der Wille gefehlt hat, eine klare politische Vision zu entwickeln und diese in Strategien umzusetzen. In vielen Ländern wurden nicht einmal die vorhandenen Gesetze zur allgemeinen Schulpflicht durchgesetzt. Außerdem leiden die Programme an denselben Schwächen und Unzulänglichkeiten, wie sie für das Bildungswesen in arabischen Ländern insgesamt kennzeichnend sind: überholte Methoden und Lehrpläne sowie Abhängigkeit von Lehrern, denen die Praxis und die Qualifikationen fehlen, mit erwachsenen Analphabeten zu arbeiten. Am beunruhigsten ist, dass es kaum spezielles Lehrmaterial für erwachsene Analphabeten gibt. Es werden dieselben Bücher verwendet, mit denen Kinder in der Grundschule Lesen lernen. Das ist ein Hauptgrund für die hohen Abbrecherraten. Weil es kaum Folge-und Nachbereitungsprogramme gibt, verlernen viele Erwachsene das Lesen und Schreiben zudem nach wenigen Jahren wieder.
In den letzten 20 Jahren hat sich immerhin schon einiges verbessert. Das kann man an den niedrigeren Analphabetenraten vor allem in der Gruppe der 15-bis 24-Jährigen ablesen (siehe Tabelle). Insgesamt ist die Analphabetenquote in der Region während dieser Zeit um gut zwei Prozent gesunken. Alle Länder haben jetzt nationale Pläne entwickelt, um "Bildung für alle" zu erreichen. Dazu gehören Bildung im frühen Kindesalter, qualifizierter Unterricht sowie Alphabetisierung und Erwachsenenbildung.
Es gibt auch einzelne Erfolgsgeschichten. Im Libanon und in Kuwait zum Beispiel - also einem Land mit recht niedrigem und einem mit hohem Pro-Kopf-Einkommen - betragen die Einschulungsquoten für Kinder 80 beziehungsweise 90 Prozent. Das hat sich bereits günstig ausgewirkt: die Abbruchquoten bei Schülern sind niedriger, und mehr Studenten schließen ihr Studium mit Erfolg ab.
In Jordanien beträgt die Analphabetenquote heute weniger als elf Prozent, und sie sinkt weiter. Die meisten Analphabeten sind ältere Frauen. Der Erfolg in Jordanien beruht darauf, dass quer durch alle Bereiche der Gesellschaft der feste Wille vorhanden ist, den Analphabetismus mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auszumerzen. Universitätsstudenten und Mitgliedern der Streitkräfte werden zum Beispiel eingesetzt, um des Lesens und Schreibens Unkundige in ihren Gemeinden aufzuspüren und zu unterrichten.
Eine weitere Erfolgsgeschichte ist die Mädchenbildung in Ägyptens ländlichen Regionen. In Zusammenarbeit mit UNICEF, nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und den Gemeindeverwaltungen schuf die ägyptische Regierung Schulen und Bildungseinrichtungen in ländlichen Gebieten, zu denen die Mädchen keine weiten Anfahrwege auf sich nehmen müssen und deren Programme die Saisonarbeit der ländlichen Familien berücksichtigen.
Der Kampf gegen Analphabetismus, das zeigen nicht zuletzt diese Beispiele, sollte nicht den Ministerien und der Verwaltung allein überlassen werden, sondern Aufgabe der gesamten Gesellschaft werden. Alle Mitglieder der Gesellschaft, ob individuell oder in NGOs, Gemeindegruppen, Schulen oder Universitäten organisiert, sind unverzichtbar.
Staat | Jahr | gesamt | Männer | Frauen | Gleichstellungsindex |
Algerien | 1998-99 | 63 | 73 | 54 | 0.74 |
Bahrain | 1991 | 79.1 | 86.73 | 71.26 | 0.82 |
Bahrein | 1996 | 80.28 | 87.4 | 73.13 | 0.84 |
Dschibuti | 1991 | 39 | 51 | 28 | |
Dschibuti | 1996 | 57.3 | 73.9 | 43.1 | 0.58 |
Ägypten | 1997-98 | 56 | |||
Irak | 1997 | 72.2 | 79.2 | 65.5 | 0.83 |
Jemen | 1994 | 44 | 63.65 | 23.63 | 0.37 |
Jordanien | 1990 | 80.22 | 88.71 | 71.21 | 0.8 |
Jordanien | 1997 | 87.33 | 92.68 | 81.34 | 0.88 |
Katar | 1986 | 75.5 | 76.8 | 72.5 | 0.9 |
Katar | 1997 | 83.2 | 84.2 | 80.9 | 1 |
Kuwait | 1992-3 | 89.3 | 93.5 | 79.4 | 0.8 |
Kuwait | 1997-98 | 88.9 | 95.2 | 83 | 0.9 |
Libanon | 1995-6 | 83.07 | 87.49 | 78.88 | 0.8 |
Libanon | 1996-97 | 87.04 | 91.99 | 82.13 | 0.89 |
Libyen | 1995 | 77.5 | 87.4 | 67.1 | 0.8 |
Mauretanien | 1990-1 | 34.5 | 45.3 | 24.5 | 0.54 |
Mauretanien | 1997-98 | 45.7 | 60.2 | 32.5 | 0.54 |
Marokko | 1994 | 45 | 59 | 33 | 0.6 |
Oman | 1993 | 58.8 | 71.1 | 46.1 | 0.65 |
Oman | 1996 | 67.9 | 0.72 | ||
Palästina | 1998-99 | 86.1 | 92.2 | 97.7 | 1.06 |
Saudi Arabien | 1993 | 72.9 | 84 | 61.7 | 0.7 |
Saudi Arabien | 1999 | 80.5 | 90.9 | 70.2 | 0.8 |
Sudan | 1990-1 | 51.6 | 64.3 | 38.9 | 0.6 |
Sudan | 1998-99 | 57.2 | 67.3 | 47.1 | 0.7 |
Syrien | 1994-5 | 72.5 | 84.5 | 60.1 | 0.7 |
Syrien | 1998-99 | 82.2 | 91.2 | 73 | 0.8 |
Tunesien | 1989 | 62.8 | 73.6 | 51.7 | 0.7 |
Tunesien | 1994 | 68.3 | 78.7 | 57.7 | 0.73 |
V. A. Emirate | 1990 | 79.6 | 77.7 | 84.4 | 1.09 |
V. A. Emirate | 1999 | 87.4 | 85.4 | 92.8 | 1.09 |
aus: der überblick 04/2002, Seite 56
AUTOR(EN):
Victor Y. Billeh:
Victor Y. Billeh ist Direktor des UNESCO-Regionalbüros für Bildung in den arabischen Staaten mit Sitz in Beirut.