Der Fluch einer Krankheit
Mit der zunehmenden Verbreitung von AIDS in Südafrika häufen sich auch die Fälle von Hexenverfolgungen. Wer AIDS hat, so glauben viele, ist verhext worden. Wenn die Hexerei-Gefahr überall lauert, breitet sich rasch ein Gefühl der Unsicherheit aus und die Legitimität der politischen Macht steht auf dem Spiel.
von Odile Jolys
Ein Mann mittleren Alters stirbt infolge einer Krankheit. »Seine Frau ist schuld« behaupten die Leute. Diese vage Aussage ist für die Menschen in Soweto keineswegs harmlos, sondern bedeutet, dass der Verstorbene verhext wurde.
Der Vorwurf, dass Hexerei im Spiel ist, wenn Unglück oder Tod einen Menschen befällt, ist im südafrikanischen Township Soweto gängig. Mit der Zahl der AIDS-Toten nehmen auch die Hexerei-Verdächtigungen in Südafrika drastisch zu. Die Menschen, die mit der ständigen Angst leben, Opfer der Hexerei zu werden, suchen Schutz und fordern Gerechtigkeit. Für den Rechtsstaat wird das zum Problem, denn die Jagd auf Hexer und Hexen als Form von Selbstjustiz hat gefährliche Ausmaße angenommen. Allein in der Northern Province wurden zwischen 1990 und 1999 insgesamt 587 Menschen als angebliche Hexer oder Hexen erschlagen oder lebendig verbrannt.
Was kann ein moderner Staat gegen dieses Phänomen unternehmen? Wie kann er Selbstjustiz verhindern und gleichzeitig die »spirituelle Unsicherheit« seiner Bürger ernst nehmen? HIV/AIDS ist somit auch zu einer Frage der politischen Legitimität für die südafrikanische Regierung geworden. So lautet die These des amerikanischen Politologen Adam Ashforth. In dem Buch Witchcraft, Violence and Democracy in South Africa untersucht er das Phänomen der Hexerei, die er selbst in Soweto mehrere Jahre lang erforscht hat.
»Wieso ich?«, »Wieso jetzt?«. Hexerei ist für viele Betroffene eine Erklärung für ihr Leiden. Das Gefühl, zu Unrecht vom Unglück getroffen worden zu sein, verwandelt sich in die Sicherheit, dass bösartige Kräfte im Spiel waren. In Afrika ist das Phänomen Hexerei vielerorts anzutreffen. Allein in Südafrika beschäftigt es eine halbe Million Heiler und Propheten.
Laut der Anthropologin Julienne Anoko erklären die Leute in Angola den jüngsten Ausbruch des Marburg-Fiebers in ihrem Land mit Hexerei. Ein Lokalpolitiker sei der Schuldige. Um seine Chance bei den kommenden Wahlen im Jahr 2006 zu verbessern, habe er einen Hexer beauftragt, ein magisches Pulver in dem Krankenhaus von Uige, dem Ausgangsort der Epidemie, zu verstreuen, das seine Gegner vernichtet.
In Ländern des südlichen Afrika, wo HIV/AIDS stark verbreitet ist, ergeben sich für viele Menschen aus dem Krankheitsbild eine Reihe von Anhaltspunkten für den Verdacht auf Hexerei. Denn HIV/AIDS trifft einzelne Personen und breitet sich nicht flächenmäßig aus, wie andere Seuchen. Auch Hexer oder Hexen schlagen nicht willkürlich um sich, sondern wählen das Opfer gezielt aus. Außerdem ist der Infektionsweg der Krankheit keineswegs einfach nachvollziehbar: Nicht jeder, der ungeschützt Geschlechtsverkehr hatte, wird mit HIV infiziert und nicht jeder, der HIV-positiv ist, erkrankt in absehbarer Zeit. Die Analogie mit den durch Hexerei ausgelösten Krankheiten ist deutlich. Verhext wird man durch Zaubermittel: Das Muthi (allgemeines Wort für Medizin in Zulu) wird in das Essen gegeben. Nur die Person, für die das Zaubermittel bestimmt ist, kann Opfer werden. Andere werden an demselben Essen nicht erkranken. Symptome von AIDS wie Lungenerkrankungen, Durchfall, Gewichtsverlust und allgemeiner Verfall des Körpers sind ähnlich wie bei der in Südafrika häufigen, Isidliso genannten Krankheit, die durch Hexerei ausgelöst werden soll.
Das HIV/AIDS-Stigma ist nicht ohne die Verbindung mit der Hexerei zu verstehen. Es ist nicht nur die Angst vor der Krankheit, die Menschen hemmt, darüber zu sprechen, auch nicht nur die Scham, als sexuell ausschweifend zu gelten. Wenn Hexerei im Spiel ist, spricht man nicht offen darüber. Geheimhaltung ist die goldene Regel. Die Hexer oder Hexen sollen nicht erfahren, dass man ihr Tun aufgedeckt hat. Die Heilung könnte andernfalls scheitern.
Zwar werden nicht alle AIDS-Todesfälle mit Hexerei in Verbindung gebracht. Aber der Verdacht liegt in der Luft. Das reicht, um Menschen in einer Gesellschaft, die viele andere Unsicherheiten kennt, spirituell unsicher zu machen. Das Leben der meisten Menschen in Soweto ist von Gewalt, Armut und Krankheiten geprägt. Die Einkommensunterschiede innerhalb der schwarzen Bevölkerungsgruppe sind viel größer geworden und infolgedessen gibt es mehr Neid und Eifersucht, die Hauptmotive jemanden zu verhexen. Anlässe für Hexerei sind seit dem Ende des Apartheidsregimes also zahlreicher geworden.
AIDS verschärft die Unsicherheit, weil das gemeinschaftliche Versorgungssystem durch die Krankheit überlastet ist und zusammenzubrechen droht. Wenn Erkrankte einen kostspieligen Heiler aufsuchen, bluten Familien häufig finanziell aus. Die AIDS-Behandlung kann bei einem traditionellen Heiler den Monatslohn eines Industriearbeiters kosten und kann teurer sein als eine Behandlung nach westlicher Schulmedizin.
Die Beziehungen innerhalb der Familie sind allein schon wegen der Hexerei-Verdächtigungen vergiftet, denn die Schuldigen werden primär in der Familie und der nahen Umgebung gesucht. Durch die teuren Heilversuche und die Beerdigungskosten werden die Beziehungen zusätzlich belastet. Nur wenige trauen sich, an diesen Ausgaben zu sparen. Denn nichts ist gefährlicher als einem im Sterben Liegenden die Hilfe und dem Toten die letzte Ehre zu verweigern, denn der erzürnte Geist eines Ahnen kann seiner Familie Unglück bringen. In einer Gesellschaft, in der man stets die anderen braucht, sind offene Konflikte nicht möglich. Wenn die Solidarität nachlässt, werden die Ressentiments zu Hass. Hexerei ist »die Rache im Verborgenen«, so nennt es der Ethnologe Johannes Harnischfeger. Die Menschen leben also in einer Welt voller Neid, unzufriedener Ahnen und bereitwilliger Hexer. Unsicherheiten bestimmen ihr Leben. Der Politologe Adam Ashforth verdeutlicht die soziokulturellen Wurzeln mit dem Begriff: »der negative Ubuntu«. Ubuntu ist eine afrikanische Philosophie, die zusammengefasst besagt: »Ein Mensch ist ein Mensch nur durch andere Menschen.« Ashforth fügt hinzu: »...,weil sie Dich töten können.«
Wie ist Hexerei zu verstehen? Die Mehrheit der heutigen Ethnologen lehnt Erklärungen ab, die die Irrationalität des afrikanischen Denkens hervorheben. Hexerei sei kein Aberglaube, in allen gesellschaftlichen Milieus sei Hexereiglauben anzutreffen und Teil der afrikanischen Modernität.
Das Phänomen hat sich in den 1990er Jahren verstärkt und gewandelt. In Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, wurden in den letzten Jahren sogar Kinder der Hexerei bezichtigt. In Tansania ergab eine Untersuchung des Familienministeriums, dass zwischen 1994 und 1998 rund 5000 Menschen infolge von Hexenjagden gestorben seien. Als Hexen werden vor allem alte Frauen verdächtigt.
Hexerei taucht verstärkt in Zeiten sozialer Umwälzungen auf: Einst während des Kolonialismus und der Christianisierung, heute infolge der Globalisierung und der verheerenden Folgen der AIDS-Pandemie.
Hexerei ist somit kein Überbleibsel einer traditionellen afrikanischen Folklore sondern ein Teil des sozialen Dramas. Sie ist eine Herausforderung für die Demokratie und ein Klima der gegenseitigen Verdächtigung unterminiert die Bildung einer Zivilgesellschaft. Insbesondere im städtischen multikulturellen Milieu fehlt das gegenseitige Vertrauen.
Hexerei wird auch als Mittel benutzt, um sich politische Gefolgschaft zu sichern. Schon zur Zeit der Apartheid befestigten die Chiefs ihre Macht in den Homelands, indem sie ihre Untertanen mit Zaubermitteln gegen das Böse schützten (trotz offiziellen Verbots der Hexerei). Später machten ihnen auf diesem Terrain die Anti-Apartheid-Aktivisten in den Townships Konkurrenz. Es ging um politische Kontrolle auf lokaler Ebene.
Wie kann der demokratische und liberale Staat der Hexerei entgegenwirken? Lehnt er es grundsätzlich ab, sich mit Hexerei zu befassen, findet verstärkt Selbstjustiz statt, und der Staat wird sogar verdächtig, Hexer und Hexen zu schützen. Der Staat muss also handeln. Seine Legitimität ist schon dadurch geschwächt, dass er die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nicht verhindert und sich unfähig zeigt, die Bevölkerung vor Gewalt zu schützen.
»Eine grausame Paradoxie der Geschichte« sei es, sagt Adam Ashforth, dass Mitte der 1990er Jahre mit der ersten Postapartheid-Regierung die Zahl der AIDS-Toten unübersehbar zunahm. Die Demokratie war ganz jung und mit hohen Erwartungen der Menschen überfrachtet, dass nun all ihre Probleme sofort gelöst würden. Als aber nicht gleich allgemeiner Wohlstand einkehrte und die Regierung sich als unwillig oder unfähig zeigte, die Hexerei zu beenden, kehrte bald die alte Skepsis gegenüber der südafrikanischen Staatsgewalt zurück. AIDS löste eine Welle der Hexenverfolgung aus, die bei der Suche nach Methoden zur Bekämpfung der Krankheit nicht ignoriert werden und die eine Verwurzelung der Demokratie in Südafrika gefährden kann. Die dadurch verstärkte »spirituelle Unsicherheit« macht die Suche nach einer Lösung dringlich. Zur Zeit beschreiten die Staatsorgane einen Mittelweg, der niemanden richtig zufrieden stellt. Sie versuchen einerseits diejenigen, die der Hexerei bezichtigt werden, zu schützen, geben aber andererseits denjenigen Strafmilderung, die einen Menschen wegen vermeintlicher Hexerei umgebracht haben.
Die Einführung der ARV-Medikamente und die Erfahrung, dass die westliche Medizin doch etwas gegen die Krankheit bewirkt, wird vielleicht dazu beitragen können, die Krankheit weniger auf Hexerei zurückzuführen. Das Problem, wie der Staat mit dem Phänomen Hexerei gerade in Zeiten starker Veränderungen umgeht, ist damit aber noch nicht gelöst.
Literatur:
aus: der überblick 02/2005, Seite 29
AUTOR(EN):
Odile Jolys
Odile Jolys ist Redakteurin beim "überblick".