Ländliche Gemeinden in den USA werben um die Ansiedlung von Gefängnissen
Weil es immer mehr Häftlinge gibt, müssen in den USA auch ständig neue Strafanstalten gebaut werden. Darin sehen ländliche Kommunen eine Chance: Die Gefängnisindustrie bietet ihnen einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise, in der sie seit dem Strukturwandel der achtziger Jahre stecken. Gefängnisse bringen neue Arbeitsplätze, erlauben den Einsatz der Häftlinge als billige Arbeitskräfte und verbessern die Einwohnerstatistik, von der staatliche Zuschüsse abhängen.
von Tracy Huling
Lange hatten die Strafvollzugsbehörden in den Vereinigten Staaten mit dem so genannten NIMBY-Problem zu kämpfen: Wenn eine Gemeinde erfuhr, dass in ihrer Umgebung ein neues Gefängnis gebaut werden sollte, ertönte der Aufschrei "Not In My BackYard" - etwa: "Nur nicht hier bei uns." Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Krise der Landwirtschaft, Fabrikschließungen, die Verdrängung örtlicher Kleinhändler durch Supermarktketten sowie die Verlagerung von Arbeitsplätzen in den Dienstleistungssektor hatten für viele Kommunen in ländlichen Gegenden der USA dramatische Folgen. Und die Ansiedlung von Haftanstalten ist für verarmte Landgemeinden und kleine Städte zu einer bewussten Entwicklungsstrategie geworden.
So zum Beispiel in der Kleinstadt Coxsackie im ländlichen Bezirk Greene County im Bundesstaat New York. Einst war das eine blühende Farmergemeinde mit einer soliden kleingewerblichen Basis und einer geschäftigen Hauptstraße am Ufer des Hudson. Heute kämpfen Coxsackie und das gesamte Greene County mit den verheerenden Auswirkungen des Strukturwandels der achtziger Jahre, der das ländliche Amerika insgesamt geschwächt hat. Coxsackie beherbergt heute zwei staatliche Gefängnisse. Sie sind die größten Arbeitgeber in ganz Greene County.
Die erste Haftanstalt von Coxsackie wurde während der Weltwirtschaftskrise auf dem Gebiet einer alten Farm erbaut. Sie öffnete 1935 - zunächst als Reformschule für schwer erziehbare Jugendliche. Heute ist sie ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem über 1000 Männer, meist Schwarze und Hispanics, unter 21 Jahren aus New York City einsitzen. Das Gefängnis beschäftigt knapp 600 Mitarbeiter, von denen die meisten aus Greene County und den angrenzenden Bezirken stammen. Die große Mehrheit der Angestellten ist weiß.
1983 wurde auf einem benachbarten Grundstück eine zweite Strafvollzugsanstalt errichtet, diesmal mit mittlerer Sicherheitsstufe. Es war das erste Gefängnis im Staat New York, das im so genannten Campus-Stil, also mit Schlafsälen, gebaut wurde. Ursprünglich war es für 500 Insassen geplant, doch seine Kapazität wurde mehrfach erweitert auf jetzt 1830 Häftlinge. Auch dieses Gefängnis beschäftigt heute etwa 600 Angestellte, und auch dort sitzen hauptsächlich jugendliche Männer aus New York ein, die meist ethnischen Minderheiten angehören. Die Insassen in beiden Haftanstalten stellen zusammen fast die Hälfte der 7000 Einwohner der Stadt Coxsackie.
Coxsackies ökonomischer Niedergang steht stellvertretend für Tausende Kleinstädte in allen Teilen der Vereinigten Staaten. Auch die Entscheidung der Kommune, ihr wirtschaftliches Überleben mit der Ansiedlung von Gefängnissen zu sichern, ist bei weitem kein Einzelfall. Seit 1980 sind die meisten neuen Haftanstalten, die gebaut wurden, um die stetig wachsende Zahl an Gefangenen in den USA aufzunehmen, in ländlichen Gebieten entstanden. Im Ergebnis waren Anfang der neunziger Jahre 44 Prozent aller Häftlinge auf dem Land inhaftiert, obwohl dort nur 20 Prozent der US-Bevölkerung lebten. Zwischen 1990 und 1997 sind 203 Haftanstalten in ländlichen Gemeinden oder Kleinstädten errichtet worden. In diesen neuen Anstalten sitzen etwa 177.000 Gefangene ein. Nach Angaben des US-Landwirtschaftministeriums sind in mindestens 60 ländlichen Bezirken die wachsenden Gefangenenzahlen der Grund oder einer der Gründe dafür, dass nach einem Bevölkerungsrückgang in den achtziger Jahren heute wieder ein Bevölkerungswachstum zu verzeichnen ist.
Die neuen Gefängnisse auf dem Land beschäftigen etwa 55.000 Angestellte, was ein wichtiges Zubrot zur vorwiegend landwirtschaftlichen Ökonomie liefert. Der Einzugsbereich, aus dem Angestellte zu den Haftanstalten pendeln, erstreckt sich häufig über mehrere Bezirke. Das bedeutet, dass möglicherweise bis zu einem Drittel aller ländlichen Bezirke in den USA direkt von den Arbeitsplätzen profitieren, die im Zuge der Gefängnisneubauten der letzten zehn Jahre entstanden sind. Gefängnisse in ländlichen Gebieten haben durchschnittlich 275 Angestellte, das entspricht 31 Arbeitsplätzen pro 100 Insassen. Diese Zahlen variieren allerdings stark je nach Bundesstaat und Anstaltstyp. Anders als in vielen anderen ländlichen Branchen, etwa der Erholungsindustrie, gibt es im Gefängnissektor das ganze Jahr über Beschäftigung. Die Löhne variieren zwar, sind aber zumindest angemessen; die Sozialversicherung und andere Leistungen sind im allgemeinen gut im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen, die auf dem Land oder in Kleinstädten zur Verfügung stehen.
Der Grund dafür, dass sich viele ländliche und kleinstädtische Gemeinden um die Ansiedlung von Haftanstalten bemühen, ist schlicht die wirtschaftliche Notwendigkeit. Um das zu verstehen, muss man einige Zeit zurückgehen. Mitte der achtziger Jahre gelangte die Farmkrise ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nachrichtensendungen, Dokumentarfilme, Spielfilme und die Presse berichteten über ergreifende Geschichten von Mord und Totschlag im Herzen Amerikas und prophezeiten "das Ende der Familienfarm". Aber die tiefgreifenden Veränderungen, die das ländliche Amerika in den achtziger Jahren erlebte, gingen weit über die Farmkrise hinaus - was den meisten Amerikanern wenig bewusst ist.
Die Farmkrise war ein finanzielles Desaster für einige Gemeinden im Mittleren Westen; darüber hinaus bedrohte sie das Selbstbild und Selbstbewusstsein der Menschen auf dem Land, weil die Familienlandwirtschaft für die Kultur und das gesellschaftliche Leben des ländlichen Amerika so wichtig ist. Aber einen viel einschneidenderen Effekt auf die wirtschaftliche Lage der Landgemeinden hatte die Verkleinerung oder völlige Schließung von Industrieanlagen in den achtziger Jahren. Sie verursachte wesentlich größere Verluste an Arbeitsplätzen, am Umsatz im Einzelhandel, an Immobilienwerten und an Einnahmen der Gemeinden. Selbst wenn nach der Schließung eines Unternehmens eine neue Fabrik eröffnete, erlitten die entlassenen Arbeiter, die neu eingestellt wurden, erhebliche Lohneinbußen - nicht nur, weil sie wieder ganz unten auf der Lohnskala anfangen mussten und in ihrer Lage wenig Verhandlungsmacht hatten, sondern auch weil die Löhne in den neuen Industrien oft grundsätzlich niedriger waren als in den alten Unternehmen.
Der Beschäftigungswandel unterschied sich in der ländlichen Industrie zwar nicht grundlegend von dem in den großen Städten der USA, aber er hatte andere Konsequenzen. Denn viele Landgebiete waren stärker von der verarbeitenden Industrie abhängig als die Städte und hatten weniger Möglichkeiten, die Arbeitsplatzverluste durch Zugewinne im Dienstleistungssektor auszugleichen. Auch ist die Schließung von ein paar mittelgroßen Fabriken in einem Bezirk mit 50.000 Bewohnern oder auch nur einer Fabrik in einer Gemeinde von 1500 Menschen viel verheerender für die Arbeiter und die Kommunen als entsprechende Betriebsschließungen in einer Metropole. In den ländlichen Regionen sind zwar auch viele neue Jobs entstanden, dies sind aber meist schlecht bezahlte Teilzeitjobs ohne Krankenversicherung und mit befristeten oder unsicheren Arbeitsverträgen. Infolge dessen geraten in ländlichen Gebieten selbst Familien mit einem oder mehreren arbeitenden Mitgliedern eher unter die Armutsgrenze als Familien in der Stadt. Die Armutsrate unter Familien auf dem Land ist in den achtziger Jahren gestiegen.
Der öffentliche Widerstand gegen den Bau einer Haftanstalt in der eigenen Gemeinde war früher weiter verbreitet als heute und beruhte auf drei Gründen: Angst; der Befürchtung, die Haftanstalt könne schädliche wirtschaftliche Folgen für die Gemeinde haben; sowie Bürgerstolz. Angst hatten die Bürger davor, dass Haftentlassene am Ort bleiben und einen Anstieg der Kriminalitätsrate verursachen würden, dass Familien von Strafgefangenen zuziehen könnten und dass - so die Sorge in jüngerer Zeit - Krankheiten wie Aids sich über die Gefängnismauern hinweg verbreiten würden. Es hat sich gezeigt, dass diese Sorgen stark übertrieben waren. Nur selten haben Gefängnisse solche Folgen - auch wenn diese wenigen Fälle von den Medien überproportional herausgestellt und so Fehlwahrnehmungen in den Gemeinden genährt werden.
Die wirtschaftlichen Schäden, die manche Bürger als Folge der Ansiedlung von Haftanstalten fürchten, sind der Wertverlust von Immobilien, höhere Steuerbelastungen für die Anwohner (da Gefängnisse keine Grundsteuer zahlen) sowie zu geringe Zahlungen für städtische Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Müllabfuhr, Abwasser, Bildungseinrichtungen, Polizei und Gerichte. Forschungen darüber, ob diese Folgen tatsächlich eintreten, haben nicht zu eindeutigen Ergebnissen geführt. Viele Gefängnisverwaltungen leisten aber mittlerweile kontinuierliche Ausgleichszahlungen für kommunale Dienstleistungen. Oft wird eine einmalige Entschädigungssumme an die Gemeinde gezahlt, wenn ein Gefängnis erweitert wird.
Unter den Aspekt "Bürgerstolz" fallen all die Vorstellungen, die die Bewohner einer Kommune mit Lebensqualität und mit einer idealen Gemeinschaft verbinden. Aus der Sicht vieler Landbewohner ist die "Gefängnisindustrie" mit dem rustikalen Charakter, dem ruhigen Leben und der idyllischen Landschaft in ihrer Gemeinde nicht vereinbar. Dabei geht es auch um Status und Prestige: Oft befürchten Anwohner, dass Haftanstalten ähnlich wie Giftmüllkippen, Müllverbrennungsanlagen, Kraftwerke oder Flughäfen ihre Gemeinde stigmatisieren - sprich ihr Image in der Außenwelt, aber auch das Selbstbild der eigenen Bewohner ungünstig beeinflussen könnten.
Um die Zweifel der Anwohner zu zerstreuen, finanzieren die Strafvollzugsbehörden zum Beispiel Informationsabende, auf denen Strafvollzugsbeamte den Bürgern die Vorteile darlegen, die ein Gefängnis der Gemeinde bringen könnte. Wenn eine Entscheidung über die Ansiedlung einer Haftanstalt ansteht, sind die örtlichen Zeitungen voll mit ökonomischen Heilsversprechen, und die Cafs, Läden und Einkaufszentren des Orts werden mit Flugblättern überschwemmt. Typisch ist, wie Tip Kindel, der Sprecher der kalifornischen Strafvollzugsbehörde, das Wachstum im Gefängniswesen als wirtschaftlichen Boomfaktor preist: "Gefängnisse können eine lokale Ökonomie nicht nur stabilisieren, sie können sie sogar verjüngen. Arbeitsplätze im Gefängnissektor unterliegen keinen saisonalen Schwankungen. Gefängnisse verursachen keine Umweltverschmutzung, und oft bemerkt man sie so gut wie gar nicht. Die Leute, die dort arbeiten, geben ihr Geld am Ort aus, so dass diese Gemeinden jetzt ihre eigene Jugendbaseballmannschaft haben können und alles, was die Bewohner sich wünschen."
Heute werben viele Gemeindevertreter bei den Einzelstaaten und der Bundesregierung um die Ansiedlung von Haftanstalten. Entsprechend haben die Gefängnisbehörden ihre Praxis bei der Auswahl eines Standorts für ein neues Gefängnis geändert: Sie lassen sich von den interessierten Gemeinden konkurrierende Angebote unterbreiten. So standen 1996 sechzehn ländliche Gemeinden, die sich als Standort für neue Haftanstalten anboten, auf einer Liste der Strafvollzugsbehörde des Staates New York. Um im Kampf um neue Strafanstalten "wettbewerbsfähig" zu sein, bieten ländliche Gemeinden und Kleinstädte oft finanzielle Zuschüsse und Zugeständnisse wie kostenloses Land, eine verbesserte Wasser- und Abwasserversorgung und Mietzuzahlungen an. Als der Gouverneur von New York, George Pataki, 1996 drei neue Hochsicherheitsgefängnisse ausschrieb, übertrumpften sich die Kommunen gegenseitig mit Angeboten. Altamont stellte rund 40 Hektar Land zum Bau eines Gefängnisses bereit. Antwerp, eine kleine Gemeinde im Norden des Staates New York, beantragte einen Bundeszuschuss von 600.000 Dollar, um das Wasserversorgungssystem auf den neuesten Stand zu bringen und so seine Chancen beim Wettbewerb um ein Staatsgefängnis zu erhöhen.
Angesichts der zunehmenden Privatisierung des Strafvollzugs steigen manche Gemeinden auch selbst in das Geschäft mit Gefängnissen ein: Sie bemühen sich um private Finanzmittel, um Gefängnisse als "Spekulationsobjekte" auf ihrem Land errichten zu lassen. Appleton in Minnesota und Hinton in Oklahoma gehörten zu den ersten Kleinstädten, die in den frühen neunziger Jahren als wirtschaftliche Entwicklungsmaßnahme Strafanstalten selbst bauten und verwalteten. Andere folgten ihnen. Jack Barrett, der Bürgermeister von Holdenville, einer kleinen Stadt in Oklahoma, die durch den Zusammenbruch der Ölbranche in den achtziger Jahren Einwohner und Arbeitsplätze verloren hatte, machte der Strafvollzugsbehörde von Oklahoma ein Angebot: Wir bauen euch ein Gefängnis, ihr gebt uns die Häftlinge. Barrett nahm Kontakt mit dem größten privaten Gefängnisbetreiber der USA auf, der Corrections Corporation of America (CCA), die seine private Haftanstalt führen sollte. Investoren sagten 34 Millionen Dollar für den Bau zu. Holdenville hat 1996 sein neues 960- Betten-Gefängnis eröffnet, und es ist nicht nur randvoll mit Häftlingen, sondern hat auch einen nicht ganz unbekannten Direktor: Steve Kaiser, den früheren Chef der Strafvollzugsbehörde von Oklahoma.
Gefängnisse als Wachstumsindustrie sind auf ständig steigende Zahlen von Häftlingen angewiesen. Die Vereinigten Staaten bieten der Branche in dieser Hinsicht ideale Marktbedingungen. Der Staat gibt hier mehr für Gefängnisse aus und sperrt mehr Menschen ein als jede andere industrialisierte Nation der Welt. In den frühen siebziger Jahren saßen etwa 200.000 Menschen in den Haftanstalten der USA; heute sind es nach Angaben des Büros für Justizstatistik fast zwei Millionen (im Februar ist die Zwei-Millionen-Grenze überschritten worden - Anm.d.Red.). Die meisten sind wie überall Männer; Frauen stellten 1998 sechs Prozent der Häftlinge in Bundes- und Staatsgefängnissen und elf Prozent in örtlichen Haftanstalten, wo nur kurze Strafen verbüßt werden.
Trotz des Rückgangs der Kriminalität haben sich die Ausgaben für das Strafjustizsystem inflationsbereinigt seit Mitte der Achtziger fast verdoppelt. Heute fließt mehr als ein Drittel dieser Ausgaben - 35,9 Milliarden Dollar im Jahr 1995 - in den Bau und den Betrieb von Haftanstalten. Die meisten dieser Kosten werden von den Regierungen der einzelnen Staaten aufgebracht. Umgerechnet auf jeden US-Bürger betrugen 1995 die Ausgaben für die Strafjustiz 366 Dollar pro Kopf. Das bedeutet eine Steigerung von 69 Prozent gegenüber 1983. Auch im neuen Jahrtausend veranschlagt der Staat hohe Kosten für das Gefängnissystem, weil man davon ausgeht, dass die Häftlingszahlen weiter steigen werden.
Mit der enormen Zunahme der erwachsenen Gefängnisbevölkerung in den USA ist auch das Engagement des privaten Sektors im Gefängniswesen sprunghaft angestiegen. Heute gibt es doppelt so viele Verurteilte wie vor zehn Jahren, aber die Zahl der privaten Gefängnisbetten ist um mehr als das siebenfache gestiegen. Viele Einzelstaaten fürchten sich wegen der steigenden Zahl an Häftlingen vor einer Kostenexplosion und setzen daher auf Privatisierung. Auch Partnerschaften zwischen kapitalstarken privaten Strafvollzugsunternehmen und ländlichen Lokalverwaltungen, die auf Beschäftigungs- und Kaufkraftzuwächse hoffen, vermehren sich stark und werden dies wohl auch weiterhin tun.
Die ersten privaten Gefängnisse der Vereinigten Staaten nahmen Mitte der achtziger Jahre ihren Betrieb auf. Im Dezember 1998 saßen fast 90.000 Häftlinge in Gefängnissen ein, die nach Profitgesichtspunkten geführt wurden. Jüngste Skandale und Gerichtsverfahren haben zwar die Börsenkurse der privaten Gefängnisbetreiber stark fallen lassen. Doch zuvor waren die Nettoprofite des Marktführers in der Branche, der Corrections Corporation of America, von 30,9 Millionen US-Dollar 1996 auf 53,9 Millionen 1997 gestiegen. Schätzungen zufolge könnte die Branche ihren Umsatz bis 2002 verdreifachen.
Afro-Amerikaner, Latinos und Amerikaner indianischer Abstammung stellen einen weit größeren Teil der Häftlinge, als ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Heute sind über zwei Drittel aller Häftlinge in den USA Farbige (auch zwei Drittel aller Frauen im Gefängnis sind farbig). Fast alle sind arm. Die Daten lassen vermuten, dass die Mehrheit aller Insassen in Staatsgefängnissen aus einer relativ kleinen Anzahl von Innenstadtbezirken in den Metropolen stammt. So zeigen Statistiken aus den frühen neunziger Jahren, dass drei Viertel aller Gefangenen des Staates New York aus sieben vorwiegend von Afro-Amerikanern und Latinos bewohnten Vierteln in New York City kamen.
Vor allem der so genannte "Krieg gegen die Drogen" ist verantwortlich für den enormen Anstieg der Zahl der Strafgefangenen und den zunehmenden Anteil farbiger Häftlinge. Seit 1980 ist die Zahl der wegen Drogendelikten Inhaftierten von etwa 50.000 auf 400.000 angestiegen. Das sind mehr Häftlinge, als in England, Frankreich, Deutschland und Japan zusammen überhaupt im Gefängnis sitzen. 1992 waren 12 Prozent der US- Bevölkerung schwarz, und Schwarze stellten nach Angaben einer landesweiten Studie über Drogenmissbrauch 13 Prozent derjenigen, die angaben, mindestens einmal im Monat eine illegale Droge zu konsumieren. Dennoch sind mehr als ein Drittel aller wegen Drogenbesitz Festgenommenen, mehr als die Hälfte aller deshalb Verurteilten und mehr als drei Viertel aller dafür in Staatsgefängnissen Inhaftierten schwarz. Fast 40 Prozent aller Schwarzen, die in ein Staatsgefängnis eingewiesen werden, wird ein Drogenvergehen zur Last gelegt. Der Krieg gegen die Drogen hat, nach Ansicht von Professor David Courtwright, funktioniert "wie eine Art gigantischer Staubsauger, der über den Innenstädten der Nation hängt und junge schwarze Männer von der Straße und ins Gefängnis saugt".
Wenn man davon ausgeht, dass Haftanstalten den ländlichen Gemeinden einen Nettogewinn bescheren, kann man dann auch sagen, dass die innerstädtischen Bezirke einen Nettoverlust dadurch erleiden, dass sie einen überproportionalen Anteil des "Rohmaterials" für die Gefängnisindustrie liefern? Es gibt Anzeichen dafür, dass die hohe Rate von Strafgefangenen unter afro- amerikanischen Männern in den USA schwere Auswirkungen auf innerstädtische Nachbarschaften hat. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Gesetzesbrecher sowohl einen Aktivposten als auch eine Belastung für die innerstädtischen Gemeinschaften darstellen, in denen sie leben. Da ein zunehmender Anteil der Häftlinge wegen nicht mit Gewalt verbundener Drogendelikte einsitzt, ist anzunehmen, dass die Verluste für die Gemeinden, aus denen sie stammen, umso größer sind und weiter zunehmen. Wenn diese Delinquenten ins Gefängnis kommen, fällt die finanzielle und anderweitige Unterstützung weg, die sie zuvor zum Erhalt der familiären und gemeinschaftlichen Netze beigetragen haben. Dieser wirtschaftliche Nutzen, den die jungen Männer für ihre Gemeinschaften hatten, wird mit ihrer Verhaftung umgewandelt und verlagert: umgewandelt in "Strafkapital" - die Nachfrage nach bezahlten Angestellten im Strafvollzug - und verlagert an den Ort, an dem diese Angestellten leben und arbeiten.
Auch der Nutzen, den die ländlichen Gemeinden von der Arbeit der Häftlinge haben, muss berücksichtigt werden. Gerade in Haftanstalten auf dem Land ist es üblich, dass die Insassen für die Kommune arbeiten. Die Gefangenen der Haftanstalt in Coxsackie beispielsweise wurden dazu eingesetzt, Gestrüpp im Umkreis einer Wasseraufbereitungsanlage zu roden, das Gemeindezentrum in Athens und einen Pfarrgemeindesaal zu streichen, das Dach der Stadthalle von New Baltimore zu decken und Asphalt zu versiegeln. Dabei betrug ihr Lohn 42 Cents (rund 80 Pfennig) die Stunde.
Die Strafvollzugsbeamten betrachten dies als "Pflege guter Beziehungen zur lokalen Gemeinschaft". Manchmal findet gar ein Wettstreit innerhalb der Gemeinden um die Dienste der Häftlinge statt. In einigen Teilen des Landes dürfen Hochsicherheitsgefangene nicht außerhalb der Anstalt arbeiten. Es ist aber üblich, dass alle Gefangenen innerhalb des Gefängnisses an Projekten mitarbeiten, die den Gemeinden zugute kommen.
Ein weiterer Transfer von Reichtum aus den innerstädtischen Bezirken in die ländlichen Gemeinden besteht darin, dass Insassen von Haftanstalten in den Einwohnerstatistiken der Orte registriert werden, in denen sich die Gefängnisse befinden. Ländliche Bezirke, in denen in den achtziger Jahren neue Haftanstalten eröffnet wurden, konnten in dieser Zeit einen Bevölkerungszuwachs von 8,8 Prozent verzeichnen - weit über dem US-Durchschnitt von 4,2 Prozent. Im Norden der USA, wo die Landbevölkerung fast ausschließlich weiß ist, führt der starke Zuwachs an Häftlingen aus den Großstädten in vielen ländlichen Gegenden zu ungewöhnlichen Zuwachsraten an farbigen Einwohnern.
Da nun die Verteilung staatlicher Mittel in vieler Hinsicht an Bevölkerungszahlen gebunden ist, erhalten ländliche Gemeinden aufgrund der Häftlinge, die sie "beherbergen", höhere Zahlungen, während die Innenstadt-Bezirke, aus denen die Häftlinge stammen, weniger bekommen. Wie lohnend das ist, zeigt ein Beispiel: Im Mai 1999 erließ der Staat Arizona ein Gesetz, das es einer Kommune erlaubt, sich jedes Staatsgefängnis innerhalb eines Bereichs von 15 Kilometer jenseits ihrer Grenzen einzuverleiben, um ihre Bevölkerungszahlen zu erhöhen und so höhere staatliche Zuschüsse zu bekommen. Nach dem Bericht einer örtlichen Zeitung plant die Stadt Buckeye in Arizona, sich vor dem 1. April 2000, dem Stichdatum für den nächsten Zensus, zwei Gefängniskomplexe einzugliedern. Sie verspricht sich davon zusätzliche Einnahmen von 285 Dollar pro Insassen - insgesamt 726.465 Dollar.
Auch die politischen Machtverhältnisse können von Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur der jeweiligen Gebiete beeinflusst werden. In den USA hängt es von der Einwohnerzahl eines Wahlkreises ab, wie viele Kongressabgeordnete sowie Vertreter in einzelstaatlichen und lokalen Gremien er entsenden darf. Von Zensus zu Zensus können demographische Verschiebungen für einzelne Kommunen zum Gewinn oder Verlust von Repräsentanten führen. Im April 1999 legte ein Kongressabgeordneter aus Wisconsin einen Gesetzentwurf vor, nach dem Bundesstaaten die Häftlinge, die sie zum Verbüßen der Strafe in andere Staaten schicken, weiter in ihrer Bevölkerungsstatistik mitzählen dürfen. Als Begründung führte er an, dass sein Staat so viele Häftlinge in Gefängnisse jenseits der Staatsgrenzen sende, dass er besorgt sei, Wisconsin könnte nach dem 2000er Zensus einen seiner neun Kongresssitze verlieren.
Seit dem letzten Zensus 1990 hat sich der Trend zu Haftanstalten auf der grünen Wiese verstärkt. In den Achtzigern wurden im Durchschnitt noch 16 neue Gefängnisse pro Jahr in ländlichen Gebieten gebaut; in den Neunzigern ist diese Zahl auf 25 gestiegen. Vielleicht bewirken die Ergebnisse des bevorstehenden 2000er Zensus endlich das, was bisher nicht gelungen ist: mehr amerikanische Bürger aufzurütteln, damit sie die tiefgreifenden Auswirkungen des gewaltigen Booms der Gefängnisindustrie zur Kenntnis nehmen.
aus: der überblick 01/2000, Seite 44
AUTOR(EN):
Tracy Huling:
Tracy Huling ist Dokumentarfilmerin und Expertin für das Strafjustizsystem der USA. Ihr Film "Yes, in my backyard" von 1998 beschäftigt sich mit der Gefängnisindustrie in ländlichen Gebieten der USA. Teile ihres Artikels wurden einem Bericht entnommen, den Frau Huling 1999 in ihrer Funktion als Beraterin der US-Menschenrechtskommission verfasst hat.