Kleinkreditprogramme verändern die Arbeit und das Selbstverständnis von NGOs
Die Vergabe von Kleinstkrediten, der sogenannte Mikrofinanzansatz, wird mehr und mehr als das ideale Instrument zur Entwicklungsförderung angesehen. Viele NGOs konzentrieren sich inzwischen auf Kleinstkreditprogramme, zumal NGOs im Süden daraus Einnahmen erzielen. Doch dieses Instrument kann eine Eigendynamik entwickeln, die den ursprünglichen Zielen der NGOs zuwider Läuft und ihre Zielgruppen spaltet.
von Michael Brüntrup
Der Mikrofinanzansatz, der seit etwa zehn Jahren in der Entwicklungshilfe Furore macht, hat mindestens zwei historische Wurzeln, die auch in Bangladesch zu finden sind. Zum einen ist er eine extreme Vereinfachung eines älteren integrierten Ansatzes zur Förderung von Kleinunternehmen im informellen Sektor, bei der Kredite nur eine Leistung unter vielen war daneben gab es Aus- und Fortbildung, Innovationsverbreitung, Marktförderung und dergleichen. Der andere Ursprung ist die direkte Armutsbekämpfung durch klassische Hilfsleistungen wie Nothilfe, food und cash for work (Nahrungsmittel oder Bargeld gegen Arbeit), Solidargruppenbildung und anderes. Außerdem gibt es noch die alte Tradition der Spar- und Kreditgenossenschaften und der Entwicklungsbanken, die jedoch in Bangladesch weniger wichtig für die Entwicklung des Mikrofinanzansatzes sind allenfalls ihr Scheitern machte die Bahn frei für neue Wege der Kreditvergabe im ländlichen Raum.
In Bangladesch gab es nach dem Unabhängigkeitskrieg 1971 ein gewaltiges Heer an armen und entwurzelten Familien, zahlreiche private Hilfsinitiativen und eine Vielzahl von Experimenten in allen Bereichen der Entwicklungshilfe. Kleinkredite kristallisierten sich als besonders wirksame Komponente sowohl von Unternehmensförderung als auch bei der Armutsbekämpfung heraus; es war sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner mit hoher entwicklungspolitischer Wirksamkeit. Denn selbst die Ärmsten entpuppen sich vielfach als Kleinstunternehmer, die Mikrokredite sinnvoll einsetzen können und das Bedürfnis und die Fähigkeit zum Sparen haben.
Es wird darum gestritten, wer der eigentliche Erfinder des Mikrofinanzansatzes in Bangladesch ist. Sicher gehört dazu die Grameen Bank von Professor Yunus, heute der prominenteste Vertreter des Mikrokredit-Ansatzes weltweit. Aber andere Erfahrungen waren sicher genau so entscheidend, etwa ein Action-Research-Programm der UN Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO für die innovative Vergabe von Agrarkrediten oder die Experimente von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) wie BRAC (siehe den Artikel von Berthold Kuhn in diesem Heft) mit Instrumenten der Armutsbekämpfung und der Ansiedlung von Flüchtlingen.
Spätestens seit dem Mikrokreditgipfel Anfang 1997 in Washington, an dem auch Staatschefs und gekrönte Häupter teilnahmen, ist Mikrofinanz ein auch der breiteren Öffentlichkeit bekannter Begriff eine Seltenheit im Entwicklungshilfe-Geschäft. Dieser Erfolg hat mancherlei Gründe: die Klarheit und Direktheit des Ansatzes, die scheinbar universelle Geltung der Prinzipien, die Aussicht auf sich selbst tragende Institutionen, die große Zahl der erreichten Menschen und gleichzeitig bewegende Einzelschicksale, und nicht zuletzt charismatische Vertreter der Idee.
Bei Mikrokrediten geht es je nach Definition um Summen von maximal 500 bis 2000 Mark, oft aber deutlich weniger. Das geliehene Geld wird auf vielfältige Weise eingesetzt: Hier kauft eine Frau eine Kuh, füttert diese mit Haushaltsabfällen und Unkraut vom Wegesrand, verkauft die Milch und zieht ein Kälbchen groß. Dort kann eine Familie, die auch bisher schon Reis gekauft, verarbeitet und weiterverkauft hat, mit Hilfe des Kredites größere Mengen einkaufen und dadurch günstigere Einkaufspreise erzielen. In einer anderen Familie wird eine Rikscha gekauft, was auf Dauer billiger ist, als täglich Miete für eine Rikscha zu zahlen. Andere pachten Land, kaufen Saatgut und Dünger, machen kleine Verkaufsstände auf, erwerben eine Nähmaschine, vergrößern ihr Betriebskapital, ersetzen zu Wucherzinsen geliehenes Geld oder Material durch eigenes; manche werden sogar selber zu Geldverleihern. Kurz, es gibt unzählige Möglichkeiten für arme Haushalte, Geld selbst wenn es hohe Zinsen kostet ertragsbringend einzusetzen.
Weil solche Einsatzmöglichkeiten guten Gewinn bringen so die Erfahrung , sind die armen Kreditnehmer auch die besten Rückzahler. Das liegt auch an der Kontrolle durch die Gruppe. Der jeweils nächste auf der Liste bekommt seinen Kredit nämlich nur, wenn das zuvor begünstigte Mitglied der Gemeinschaft seinen Kredit zurückgezahlt hat. Folglich achten alle in der Gemeinschaft darauf, dass die anderen die Kredite verantwortlich einsetzen und fristgerecht zurückzahlen. Und sie haften als Gruppe dem ursprünglichen Geldgeber.
Äußerst wichtig bei Mikrofinanzprogrammen ist, dass die Kreditzinsen die Kosten voll decken, einschließlich der Personal-, Sach- und Kapitalkosten sowie des Ausgleichs für ausfallende Kreditrückzahlungen und der Inflation. Die zentralen Dogmen des neuen Ansatzes lauten: Nur dauerhaft sich selbst tragende Finanzinstitutionen sind sinnvoll, und die Armen sind bankfähig im Sinne einer ausreichenden Zins- und Rückzahlung. Dabei wird davon ausgegangen, dass für die Armen der Zugang zu Finanzdienstleistungen wichtiger ist als niedrige Kredit- oder hohe Sparzinsen. Darüber hinaus verlangen die meisten (allerdings nicht alle) Förderkonzepte, dass die Kreditvergabe mit einer Spareinlage verknüpft wird und eine "systemische" Einbettung einzelner Programme in die nationale Institutionenlandschaft gewährleistet ist. Letzteres bedeutet, dass keine Insellösungen gefördert werden, die mit anderen Finanzinstitutionen nicht in Verbindung stehen und nicht mit solchen Geldgeschäfte abschließen können.
Insbesondere die Förderung des Sparens wird als wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung und Entwicklung armer Haushalte gesehen. Der Nutzen eines gemeinsamen Spartopfes, aus dem die Beteiligten bei besonderen Anlässen Überbrückungskredite beziehen können, ist unbestreitbar groß: Er dient als Notreserve für schlechte Zeiten, für die Finanzierung größerer Investitionen, für die Reparatur des Hauses, für die Zahlung des Schulgeldes oder der Kosten im Krankheitsfall, für die Bezahlung der Aussteuer der Töchter oder einer sozial wichtigen Feier. Damit wird aus dem Mikrokredit- ein Mikrofinanzsystem, durch das der armen Bevölkerung eines Landes neben Sparen und Kredit auch Finanzdienstleistungen wie Versicherungen und Leasing dauerhaft zugänglich gemacht werden.
Vier Typen von Mikrofinanzinstitutionen (MFI) werden gemeinhin unterschieden: Banken, die auch Kleinstkunden betreuen; Genossenschaften, bei denen jedes Mitglied auch gleichberechtigter Eigentümer der MFI ist; Neugründungen von spezialisierten Mikrobanken, die mehrere größere Anteileigner haben oder Aktiengesellschaften sind; und schließlich NGOs, die ausschließlich oder in Kombination mit anderen Aktivitäten Mikrofinanzdienstleistung anbieten.
Vieles, was den Mikrofinanzansatz so populär macht, ist bei lokalen NGOs, die mit Mikrokrediten arbeiten, gegeben. So streben viele NGOs eine stärkere finanzielle Unabhängigkeit nicht nur selber an, um weniger von finanziellen und programmatischen Unwägbarkeiten der Geberorganisationen abhängig zu sein. Auch die Geber verlangen mehr finanzielle Unabhängigkeit der von ihnen begünstigten NGOs, um die institutionelle Dauerhaftigkeit der von ihnen unterstützten Programme zu sichern. Es gibt aber nur wenige Felder, auf denen NGOs gewinnbringend arbeiten und sich dauerhaft gegen private Unternehmen durchsetzen können. Deshalb ist ihre Nähe zu armen Bevölkerungsgruppen und das Vertrauen, das sie bei diesen genießen, ihr entscheidender Vorteil. Mit Hilfe der Mikrofinanzierung, unterstützt von billigem Startkapital aus der Entwicklungshilfe, wird diese Nähe zu einem wichtigen Kapitalbildungsfaktor. Die Armen schätzen zudem persönliche finanzielle Dienstleistungen für konkrete Vorhaben oft mehr als Ausbildungs- und Bewusstseinsförderung oder unpersönliche Infrastrukturmaßnahmen .
In Bangladesch, dem Mutterland des Mikrofinanzansatzes mit heute über acht Millionen Kreditnehmern, gibt es mittlerweile unter den NGOs in vielen Regionen eine regelrechte Konkurrenz um die Zielgruppe, wobei NGOs mit attraktiven Finanzdienstleistungen oft das Rennen machen. NGOs, die nicht auf den Mikrofinanz-Zug aufgesprungen sind, klagen bereits über einen herben Mitgliederschwund, obwohl die Zielgruppen ihre nichtfinanziellen Dienste zumeist ohne größere Eigenleistung erhalten. Hinzu kommt, dass Finanzdienstleistungen ideologisch (fast) neutral sind. Das erleichtert Teilen der Zielgruppe, den Kontakt zu einer Hilfsorganisation mit solchem Service aufzunehmen.
Dies trifft insbesondere auf Frauen zu, die in vielen Ländern nur mit Zustimmung ihrer Ehemänner zu NGO-Veranstaltungen gehen dürfen. Welchen Grund sollten Männer haben, ihre Frauen zu Empowerment-Kursen zu schicken, in denen diese lernen, dass sie von Männern unterdrückt werden? Wenn ihre Frauen aber an Mikrofinanzprogrammen teilnehmen, haben auch die Männer einen Vorteil, sei es, dass die Frauen mehr zum Einkommen der Familien beitragen oder über die Frauen und die NGO der Zugang zu Fremdkapital geöffnet wird.
Weitere wenn auch nicht unbestrittene Gründe sprechen dafür, dass mit Mikrofinanz-Dienstleistungen mehr Menschen nachhaltig geholfen werden kann als mit anderen Hilfsleistungen: Zumindest mittelfristig kann beachtliche Hilfe und Selbsthilfe geleistet werden, ohne auf Geld aus dem Ausland angewiesen zu sein. Manchmal lassen sich sogar kommerzielle Kapitalquellen für entwicklungspolitische Ziele anzapfen. Ferner befreit eine rein finanzielle Unterstützung die Zielgruppe von den bei integrierten Projekten üblichen zusätzlichen inhaltlichen und technischen Auflagen. Solche haben sich oft genug als unausgegoren und nicht angepasst herausgestellt. Die Konditionen, an die Kredite häufig immer noch geknüpft werden, tragen unter gegebenen sozialen Bedingungen oft direkt dazu bei, dass Kredite nicht zurückgezahlt werden können und diese Kreditprogramme scheitern. Das kann beispielsweise der Fall sein bei falschen Zuchtmerkmalen für Saatgut, zu teurem Dünger- und Pestizideinsatz, infolge Minderertrags bei der Umstellung auf biologischen Anbau, bei Vermarktungsproblemen, wenn Ersatzteile für Investitionsgüter fehlen oder die Arbeitsbelastung und -verteilung innerhalb der Familien nicht beachtet wird.
Vielfach wird argumentiert, dass Armut ein vielschichtiges Problem sei und dass die, die in Armut aufgewachsen sind, auch dann, wenn ihr Einkommen steigt, nicht vollen Zugang zu allem haben, was für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist. Das mag teilweise stimmen. Aber die Möglichkeiten, sein Recht gerichtlich durchzusetzen, Bildungseinrichtungen zu besuchen oder Gesundheitsdienste zu nutzen, verbessern sich deutlich, wenn man mehr Kaufkraft hat. Dagegen trägt es zur Armut bei, wenn man keinen Zugang zu solchen Institutionen hat. Der vielleicht wichtigste Nebeneffekt des Mikrofinanzansatzes kann darin bestehen, dass das Selbstbewusstsein wächst. Der kollektive Druck erzwingt mehr Selbständigkeit und Eigenleistung sowohl bei den Zielgruppen als auch bei den Institutionen, die Mikrokredite vergeben. Sich aus eigener Kraft gegen Armut wehren zu können, prägt mehr als Armutsminderung mit Hilfe von Subventionen und Geschenken.
Es gibt also gute Gründe dafür, dass sich NGOs für den neuen Ansatz begeistern, ihn zumindest in ihr Dienstleistungsrepertoire aufnehmen oder ihre Arbeit sogar ganz auf ihn umstellen. Viele NGOs sehen Mikrofinanz allerdings immer noch eher als Lockmittel, mit dem sie an die Zielgruppen herankommen, um sie dann wirtschaftlich zu stärken und die "eigentliche" Entwicklungsarbeit zu leisten, die sie oft mit den Begriffen Empowerment, "politische Partizipation" und "Abbau der strukturellen Ungerechtigkeiten und Entwicklungshemmnisse" kennzeichnen.
Allerdings birgt Mikrofinanz auch Risiken und Nebenwirkungen. Diese sollte eine Organisation gut bedenken, bevor sie sich auf diesen Ansatz einlässt. Für die ursprünglichen Geldgeber besteht die Gefahr, dass sie infolge ihrer Finanzhoheit und ihrer Konditionen für die Programme, etwa die Auflage, das Instrument der Mikrofinanzierung einzusetzen, die Ausrichtung einer NGO maßgeblich prägen, ohne das eigentlich zu wollen. Und eine NGO, die sich mit Mikrofinanz zunächst nur aus taktischen und strategischen Gründen, aber nicht mit dem Herzen anfreundet, kann das Kleinstkreditprogramm eine Eigendynamik entwickeln, die über kurz oder lang das Selbstverständnis der Organisation in Frage stellt.
In vielen NGOs sind die Philosophie und das gesellschaftspolitische Engagement ihrer Gründer deutlich zu spüren und spiegeln sich in der Motivation ihrer Mitarbeiter wider. Viele haben vor allem den gesellschaftspolitischen Kampf gegen Armut, Diskriminierung und strukturelle Fehlentwicklungen auf ihre Fahnen geschrieben. Das Selbstverständnis, das Persönlichkeitsprofil und die Arbeitsanforderungen bei einem Banker auch wenn er Kleinstfinanzierung betreibt sind aber mit Sicherheit anders als bei einem NGO-Mitarbeiter. Während vom typischen NGO-Mitarbeiter etwa Kreativität, Einfühlungsvermögen und soziale Kompetenz erwartet werden sowie die Bereitschaft, die Partizipation der Zielgruppenmitglieder anzuregen und anzunehmen, zählen beim Banker Zuverlässigkeit, Genauigkeit und Seriosität. Das soziale Prestige des Bankers dürfte in der lokalen Gesellschaft aber wesentlich höher sein. Symptomatisch ist, dass die Mitarbeiter einer großen MFI in Bangladesch auf Mitarbeiterversammlungen diskutierten, ob sie als Anrede das formelle Sir anstelle des bisher gebräuchlichen Brother (Bruder) einfordern sollten.
Trotz aller entwicklungspolitischen Bemühungen einer NGO muss ein Mikrofinanzprogramm letztlich nach Maßgabe wirtschaftlicher Überlegungen ausgearbeitet und angeboten werden. Mitglieder einer MFI erhalten einen Kreditvertrag und vielleicht noch ein Sparbuch, aber sie bekommen wenig Spielraum für das Aushandeln von Positionen und für die Mitbestimmung über die Arbeit der MFI. Die Partizipation besteht allenfalls in der Teilnahme an Gesellschafterversammlungen in solchen MFI, die Kooperativen wie Genossenschaftsbanken, Dorfkassen oder der Grameen Bank ähneln. Aber selbst dort sind die Mitbestimmungsmöglichkeiten durch die Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit stark eingeschränkt. Das heißt nicht, dass die MFI nicht sehr genau auf die Bedürfnisse ihrer Kunden achten gerade unter Konkurrenzdruck müssen sie das sehr wohl. Aber diese Sensibilität entspricht eher dem Verhältnis zwischen Anbieter und Kunden die Produkte müssen zwar auf die Bedürfnisse der Kunden abgestimmt sein, aber die Geschäftspolitik bestimmt die Bank weitgehend selbst, wie das auch aus den Industrieländern bekannt ist. Wenn aber erst einmal die Leistung einer NGO nicht mehr an sozialpolitischen Wirkungen, sondern an Finanzindikatoren gemessen wird, wenn Controlling und Kostenträgerrechnung die Macht übernommen haben, bleibt vom Idealismus einer NGO, der ja eigentlich die Triebkraft ihrer Existenz ist, oft nicht mehr viel übrig.
In der Zielgruppe schließlich, die in ein Mikrofinanzprogramm einsteigt, werden sich vielleicht ohne dass das gleich bewusst wird die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern ändern, weil der Mikrofinanzansatz bestimmte wirtschaftliche Verhaltensweisen erfordert. Weil so ein Programm kostendeckend arbeiten muss und die Gruppenmitglieder gemeinsam für den Kredit jedes einzelnen Mitglieds haften, werden sie nicht mehr alle an dieser Gemeinschaft teilhaben lassen. So werden etwa als unzuverlässig bekannte Personen, Nichtsesshafte, chronisch Kranke, Behinderte oder Unverheiratete weniger Chancen auf die Mitgliedschaft haben. Aber auch die Frau eines trinkenden Ehemannes, der Rivale eines wichtigen Gruppengründers oder Angehörige einer sozialen Randgruppe haben weniger Chancen auf Mitgliedschaft. Dadurch können auch Personen diskriminiert werden, die selbst durchaus kreditwürdig sind, vor allem aber jene ins Abseits gedrängt werden, die besonders bedürftig sind. Denn ein Landloser hat weniger Sicherheiten zu bieten als ein Landbesitzer, eine Familie am Rande des Existenzminimums wird schneller infolge von Krankheit oder Unfall ihre Rücklagen oder das Betriebskapital aufzehren als eine mit Reserven. Für die an einem Mikrofinanzprogramm teilnehmende Gruppe sind sie also ein erhöhtes Risiko.
Es wird mittlerweile weitgehend anerkannt, dass die Ärmsten (in Ermangelung einer besseren Unterscheidung der Zielgruppen werden oft Begriffe wie hardcore poor oder poorest of the poor benutzt) von Mikrofinanzprogrammen meistens ausgeschlossen sind. Vertreter des Mikrofinanz-Ansatzes sagen dazu, dass für einen Teil dieser Ärmsten neue Finanztechniken entwickelt werden müssten, ein anderer Teil aber auch einfach nicht kreditwürdig sei und ihm nur mit Transferleistungen geholfen werden könne.
Fragwürdig ist dann aber, dass auch bei kombinierten NGO-Programmen weitere Programmkomponenten wie Subventionierung von Gesundheits- und Hygienemaßnahmen, Fortbildung und Empowerment-Training nur den Mitgliedern angeboten werden, die auch an der Mikrofinanzierung teilnehmen. Mikrofinanz wirkt so als Diskriminierung der Ärmsten.
Umgekehrt bevorzugen Mikrofinanzprogramme aber eine Personengruppe, die ansonsten eher benachteiligt ist: die Frauen. In Bangladesch ist gut zu beobachten, dass MFI sich vor allen an Frauen richten. Natürlich wird das der Öffentlichkeit unter dem Etikett "Frauenförderung" verkauft. Aber es stehen auch profanere Gründe dahinter, die die innere Logik von Kreditprogrammen sehr schön illustrieren: Zum einen sind Frauen in Bangladesch sehr stark ans Haus gebunden, so dass sie wesentlich leichter tagsüber zu Gruppentreffen kommen können. So kann ein MFI-Mitarbeiter etwa drei Gruppentreffen pro Tag besuchen, während es bei der Teilnahme von Männern vielleicht eines am Abend wäre. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis. Zum anderen gelten Frauen (weltweit) als bessere Rückzahler als Männer. Das mag nicht nur an besserer Moral liegen, sondern auch daran, dass sie weniger mobil und so leichter unter Druck zu setzen sind.
Fast sämtliche MFI in Bangladesch wickeln daher ihre Kredite über Frauen ab. Zwei größere Wirkungsanalysen, die für das deutsche katholische Hilfswerk Misereor erstellt wurden, ergaben jedoch, dass die Kreditnutzung klar der von Männern dominierten Erwerbsarbeitsteilung folgt. Zwar war nach mehrjähriger Teilnahme an einem Mikrokreditprogramm das den Frauen verfügbare Einkommen in absoluten Zahlen deutlich höher als das einer Kontrollgruppe, relativ zum Einkommen der Männer war aber kaum eine Verbesserung festzustellen. Die ökonomische Stellung der Frauen gegenüber den Männern wird also nur bedingt gestärkt. Zwar zeigte die Studie auch, dass durch eine Teilnahme an den Programmen die Frauen ihr Wissen erweitern, ihr Selbstbewusstsein steigern und ihre soziale Stellung in Familie und Gesellschaft leicht verbessern konnten, aber für deutliche Fortschritte ist offensichtlich mehr als nur der Zugang zu Finanzdienstleistungen nötig.
Doch die Tatsache, dass die Armen von sich aus die Kosten für Mikrofinanz-Dienstleistungen zu zahlen bereit sind, wird von vielen bereits als ausreichender Indikator dafür angesehen, dass diese Programme für die Zielgruppe nützlich und profitabel sind und daher entwicklungspolitisch sinnvoll. Es ist dies in der Tat eine außergewöhnliche Demonstration der Wertschätzung, die kaum eine andere Maßnahme im Entwicklungshilfebereich für sich beanspruchen kann. Für andere entwicklungspolitische Aktivitäten gibt es kaum harte und gut untermauerte Erfolgsnachweise. Für persönliche Dienstleistungen wie Beratung, Ausbildung oder Bewusstseinsbildung können meistens keine kostendeckenden Gebühren erhoben werden, welche die nützlichen Wirkungen zumindest aus Sicht der Zielgruppe belegen könnten. Auswirkungen von Investitionen in die Infrastruktur, die Technologieentwicklung, die Bildung und Ausbildung, die Schaffung sozialer Netzwerke und dergleichen können meist nur indirekt gemessen werden, da sie als öffentliche Güter normalerweise nicht von Einzelnen oder Gruppen bezahlt werden.
Der Mangel an allgemein anerkannten Messmethoden für die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe verführt so leicht dazu, dass eine NGO ihre Effektivität und Effizienz an in Zahlen ausdrückbaren Indikatoren misst wie Kreditrückzahlungsquote, Wirtschaftlichkeit und dergleichen. Ist aber ein Programm, dessen Kosten in voller Höhe aus Zinsen und Gebühren zu decken sind und das sich auf Dauer selbst tragen kann, schon ein Beweis für eine allgemeine entwicklungspolitische Wirkung? Bislang wurde Entwicklungszusammenarbeit doch eher als eine internationale Sozialhilfe angesehen, die den Schwächsten der Weltgesellschaft helfen soll, menschenwürdig zu leben, und grundsätzlich aus Transferzahlungen gedeckt werden muss. Und NGOs im Norden leben selbst von Spenden und Staatsgeldern, Quellen, die Süd-NGOs kaum zur Verfügung stehen. Sollen sich ausgerechnet die Süd-NGOs selbst finanzieren müssen? Und lenkt diese wirtschaftliche Verpflichtung sie nicht ab von ihren eigentlichen Zielen?
Oft wird angeführt, Mikrofinanzierung trage zum gesamtwirtschaftlichen Wirtschaftswachstum bei und fördere so zumindest indirekt auch die soziale Entwicklung. Aber Kritiker des Mikrofinanzansatzes bestreiten das. Ohne den Einsatz produktivitätssteigernder Technologie, ohne Investitionen in die Infrastruktur, ohne funktionierende Märkte, ohne gesunde gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen, ohne Rechtssicherheit könne Armut nicht strukturell reduziert werden. Befürworter halten dagegen, dass die Milkrofinanzierung einzelnen mehr wirtschaftlichen Spielraum bietet und dadurch viele andere Entwicklungsfaktoren verbessert werden. Gleichwohl dürften die Kleinstunternehmerinnen schnell an Wachstumsgrenzen stoßen, wenn sich die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht verbessern.
Letztlich kommen wir auf die grundlegende Frage der Entwicklungszusammenarbeit zurück: Was ist Armut, ein eher materielles oder eher gesellschaftliches Phänomen? Können die Armen dieser Welt durch ein höheres Einkommen ihre Grund- und anderen Bedürfnisse stillen oder müssen gesellschaftliche Rahmenbedingungen radikal geändert werden? NGOs und Geber tun gut daran, sich diesen Fragen ständig neu zu stellen. Auf den Mikrofinanzansatz alleine zu setzen, dürfte aber gewiss die falsche Antwort sein.
aus: der überblick 03/2001, Seite 62
AUTOR(EN):
Michael Brüntrup:
Dr. Michael Brüntrup ist freier Gutachter. Er bearbeitet vorwiegend Fragen der Mikrofinanzierung sowie der Ressourcen- und Agrarökonomie.