Warum harte Urteile und Vergeltung in den USA so populär sind
Noch vor einigen Jahrzehnten hielten viele Amerikaner es für sinnvoll, sozial Schwache staatlich zu fördern, und eine geringe Zahl von Häftlingen galt als Erfolg. Dass heute die gegenteilige Ansicht vorherrscht, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Gegenoffensive konservativer Politiker, Wissenschaftler und Publizisten gegen den liberalen Trend der sechziger Jahre.
Billy Mayfield arbeitet seit zwanzig Jahren im Gefängnisdienst, und wenn er nicht schon vorher ein Zyniker war, dann ist er es in dieser Zeit geworden. "Ich glaube nicht an Rehabilitationsmaßnahmen", sagt er, der heute in New Folsom, einem Hochsicherheitsgefängnis unweit der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, für Public Relations zuständig ist. "Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, ob er sich bessern will oder nicht. Da kann von außen niemand etwas bewirken." Natürlich habe er Mitleid mit jemand, der in seiner Kindheit misshandelt oder geschlagen wurde, aber das könne keine Rechtfertigung sein, sein ganzes Leben lang Straftaten zu begehen. Er selbst habe eine schwere Kindheit gehabt, sein Stiefvater habe ihn schlecht behandelt. Ist er deswegen zum Verbrecher geworden? Nein, ist er nicht.
Billy Mayfield ist ein adrett gekleideter Herr um die fünfzig, untersetzt und kräftig, mit einem roten Schnurrbart. Seine Gäste, die er in New Folsom herumführt, behandelt er ausgesprochen zuvorkommend; Offenheit gehört zu seinem Job. Umso weniger Respekt bringt er den Gefangenen entgegen, die hier teilweise horrende Strafen absitzen. Im Grunde genommen seien das alles Terroristen, sagt Mayfield, "denn sie terrorisieren die Gesellschaft". Damit meint er nicht nur Mörder und Vergewaltiger, sondern auch einfache Diebe und Drogendealer, die ihren Lebensunterhalt außerhalb der bürgerlichen Pfade bestreiten. Alles Terroristen. So einfach ist das - und symptomatisch für die Einstellung, die die amerikanische Gesellschaft in den vergangenen zwanzig Jahren gegenüber Straftätern entwickelt hat und die manche Europäer daran zweifeln lässt, ob auf der anderen Seite des Ozeans die Menschenwürde überhaupt noch als ein universelles Gut betrachtet wird. Man bedenke: Die USA sind eines von nur sechs Ländern auf der Welt, die noch an Minderjährigen die Todesstrafe vollstrecken. Die anderen sind Pakistan, Saudi-Arabien, Nigeria, der Jemen und der Iran.
Billy Mayfiled schreitet über den sogenannten Sensitive Needs Yard in New Folsom, den Bereich also, wo die sensiblen Fälle untergebracht sind: Kindermörder, die in der Gefängnishierarchie ganz unten stehen und Gefahr laufen, von anderen Häftlingen angegriffen zu werden; die sogenannten berühmten Fälle, das heißt Täter, deren Verbrechen für große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gesorgt haben und die deswegen gleichfalls den Hass anderer Straftäter auf sich ziehen; und schließlich ehemalige Gang-Mitglieder, die sich den Weg in den etwas angenehmeren Strafvollzug im Sensitive Needs Yard erkauft haben, indem sie Informationen über die Bandenstrukturen an die Justiz weitergegeben haben. Verrat nennt sich das im Bandenjargon, und der wird mit dem Tod bestraft. Die Gruppe jedoch, die schon durch ihre räumliche Abgrenzung als erste ins Auge fällt, sind die psychisch Kranken.
Es ist Sommer, und in der Hitze des kalifornischen Hinterlandes verbringen die Gefangenen die meiste Zeit des Tages im Freien. Durch den Innenhof des Sensitive Needs Yards hallen Wortfetzen, die mal nach Befehlen, mal nach laut geführten Selbstgesprächen klingen. Sie kommen vom anderen Ende des Innenhofs, wo einige Maschendrahtkonstruktionen stehen, die im Fachjargon Rabbit Walk heißen, Kaninchenauslauf: etwa fünf Meter lange und zwei Meter breite Verhaue, in denen Häftlinge, die in der normalen Gefängnisbevölkerung nicht klar kommen, ihr tägliches Bewegungspensum absolvieren. Sie sind psychisch Kranke, die, sobald sie sich unters Gefängnisvolk mischen, von anderen Häftlingen bis auf Blut gereizt und dann häufig wegen ihres aggressiven Verhaltens von den Gefängniswächtern in Isolationshaft gesteckt werden. 23 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sind sie dann weggesperrt - ein Zustand, der jeden psychisch Kranken nur noch weiter in den Wahnsinn treibt.
Die Gefangenen stehen in Unterbekleidung auf dem Betonfußboden. Ein Farbiger läuft den Rabbit Walk in schnellen Schritte auf und ab und schimpft dabei vor sich hin. Weil sie mit Tabletten behandelt werden und in der Hitze die Gefahr besteht, dass ihr Kreislauf zusammenbricht, werden die psychisch Kranken die ganze Zeit von einem Sprenkler mit Wasser berieselt. "Gehen Sie nicht zu nah ran", sagt Mayfield, als handele es sich um gefährliche Raubtiere. "Und hören sie nicht hin, diese Leute neigen dazu, sich ausführlich über ihr Schicksal zu beklagen."
Mayfield sieht keine Veranlassung, aus Political Correctness mit seiner wirklichen Meinung hinterm Berg zu halten. Warum auch. Er betrachtet seinen Beruf als Dienst an der Gesellschaft, und bei dem derzeitigen Klima in den USA kann er sicher sein, dass er mit seiner Einstellung gut ankommt. "Unsere Aufgabe ist es, die Gesellschaft vor Verbrechen zu schützen", sagt er. "Trotzdem ist die Gesellschaft nie sicher. Es laufen immer noch sehr viele Verbrecher in Freiheit herum. Schlagen sie irgendeine Zeitung in Kalifornien auf, und sie werden auf Beichte von schrecklichen Verbrechen stoßen."
Wegsperren, abstrafen, zu Tode befördern - das ist das Rezept, mit dem die USA seit zwanzig Jahren dem Problem der Kriminalität beizukommen versuchen. Der Krieg gegen Drogen, Obdachlose und Ghettokinder hat dabei irrationale Züge angenommen. Denn während in dieser Zeit die Verbrechensrate kontinuierlich sank, bewegte sich die Zahl der Verurteilten nach oben. Am 15. Februar 2000 hat die Gefängnisbevölkerung in den USA offiziell die Zweimillionengrenze überschritten. Auf je 100.000 Einwohner kommen damit über 600 Gefangene - so viel wie nirgendwo sonst auf der Welt mit Ausnahme Russlands. 200.000 Häftlinge sind psychisch krank oder gar geistig behindert, 1,2 Millionen sitzen Strafen wegen meist harmloser Drogendelikte ab. Und seitdem der Oberste Gerichtshof 1976 die Vollstreckung der Todesstrafe wieder zugelassen hat, sind mehr als 600 zum Tode Verurteilte vergast, gehängt, durch Stromschläge oder mit Giftinjektion ins Jenseits befördert worden.
In anderen westlichen Ländern stößt diese Art von Justiz, die Rache vor Rehabilitation stellt, auf Unverständnis. Bei der Todesstrafe, so schrieb jüngst die deutsche Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, gehe es häufig "um Befriedigung von Rache, von Sensationsgelüsten, von Vernichtungstrieben - bei Strafenden und Zuschauern". Wenn aber "ein befreundetes Land in Fragen, die zu den Grundsatzfragen der demokratischen Wertegemeinschaft gehören, falsch handelt, dann schmerzt das besonders".
Ältere Amerikaner wissen von Zeiten zu berichten, in denen auch in ihrem Land Straftäter nicht zu Monstern hochstilisiert wurden, die es mit gnadenloser Härte zu bekämpfen gelte. In den sechziger Jahren, erinnerte sich einmal der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter, hätten sich Gouverneure damit gerühmt, wenn in ihrem Staat die Häftlingsrate besonders niedrig war. Heute sei es genau umgekehrt. Anfang der siebziger Jahre gab es gar Kriminologen, die für einen totalen Stopp im Gefängnisbau plädierten, weil sie das Zeitalter einer gerechten Gesellschaftsordnung ohne nennenswerte Kriminalität herannahen sahen.
Das ist alles Schnee von gestern. Wer heute etwa Präsident der USA werden will, kann sich ein weiches Herz nicht erlauben. Der Letzte, der das verkannte, war 1988 der demokratische Kandidat Michael Dukakis. Der damalige Gouverneur von Massachusetts plädierte für einen liberaleren Strafvollzug; ein Vorstoß, der sich zum Bumerang entwickeln sollte. Denn kurz vor den Wahlen nutzte Willie Horton, ein in Massachusetts wegen Mordes verurteilter Afro-Amerikaner, seinen Freigang aus, um ein Ehepaar zu entführen und die Frau zu vergewaltigen. Der republikanische Kandidat George Bush schlachtete die Geschichte weidlich aus und warf Dukakis vor, soft on crime zu sein, nachsichtig gegenüber Verbrechen. Einer von Bushs Wahlkampfstrategen bezeichnete den Fall Horton als eine "wundervolle Verbindung zwischen Liberalismus und einem großen schwarzen Vergewaltiger". Die Wahl hatte Dukakis damit verloren.
Nicht ohne Grund achtete vier Jahre später der demokratische Präsidentschaftskandidat, ein gewisser Bill Clinton, darauf, in Verbrechensfragen nicht von rechts überholt zu werden. Kurz vor den Wahlen reiste er in seinen Heimatstaat Arkansas, um an der Exekution eines geistig umnachteten Mörders teilzunehmen. Auch vor den Wahlen 1996 setzte Clinton ein bewährtes Mittel ein, um seinen Platz im Weißen Haus zu behaupten: Er setzte ein Gesetz in Kraft, in dem die ohnehin schon stark reduzierten Rechte von Gefangenen noch weiter beschnitten wurden und durch das die Vollstreckung der Todesstrafe erleichtert wurde.
Wie konnte es so weit kommen? Warum sind die USA heute das einzige Land in der westlichen Welt, das straffällig gewordene Kinder nach Erwachsenenstrafrecht aburteilt? Wie kann es sein, dass heute ein zum ersten Mal verhafteter Crackdealer bis zu fünf Jahre ins Gefängnis muss? Warum spielt die Angst vor Kriminalität überhaupt eine derat große Rolle im amerikanischen Bewusstsein?
Nach Meinung konservativer Politologen und Soziologen spiegelt die Angst vor Verbrechen objektive Sachverhalte wieder. So sei seit den sechziger Jahren die Kriminalität stetig gestiegen, und mit ihr die Forderung nach härteren Strafen und weniger Nachsicht gegenüber Straftätern. Wenn Politiker also die Rechte von Angeklagten und Häftlingen beschneiden, wenn sie "Null Toleranz" gegenüber jeder Art von Grenz-überschreitung zeigen, dann handelten sie demokratisch, da sie einzig dem Willen des Volkes entsprächen.
Gemäß dieser These müsste die Bevölkerung also dem Thema Verbrechen umso mehr Aufmerksamkeit erweisen, je stärker die Kriminalitätsrate steigt. Dafür gibt es jedoch keine Belege. Im Gegenteil: Meinungsumfragen belegen, dass beispielsweise während der Präsidentschaft Ronald Reagans die Furcht vor Verbrechen stieg, obwohl zur gleichen Zeit die Kriminalität sank.
Noch zweifelhafter wird die Behauptung, Härte gegenüber Straftätern entspringe rationalen Kriterien, wenn man genauer vergleicht, welche gesellschaftlichen Gruppen am härtesten von Kriminalität betroffen sind und welche dagegen die härtesten Strafen fordern. Da zeigt sich, dass Frauen und Afro-Amerikaner am meisten um ihre Sicherheit fürchten, sich aber gleichzeitig für maßvolle Strafen aussprechen. Umgekehrt fühlen sich weiße Männer auf dem Land im Durchschnitt weniger von Kriminalität bedroht, fordern aber die härtesten Strafen.
Die gnadenlose Haltung gegenüber Straftätern hat also weniger mit objektiven Tatsachen zu tun, als dass sie politisch gewollt und entsprechend inszeniert ist. Der Ursprung der heute herrschenden konservativen Philosophie über Ursache und Wirkung von Verbrechen reicht bis in die frühen sechziger Jahre zurück. 1962 hatte der Soziologe Michael Harrington eine Studie mit dem Titel The Other America veröffentlicht, in der er mit dem zentralen Mythos des amerikanischen Traumes aufräumte. Dieser Mythos besagte, dass sich jeder Amerikaner, wenn er nur wolle, durch harte Arbeit zumindest einen respektablen Wohlstand erarbeiten könne; darüber hinaus, so der Mythos weiter, habe jeder sogar die Chance, mit etwas Glück vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Harringtons Sozialstudien ergaben ein gänzlich anderes Bild. Demnach lebten zu jener Zeit 40 bis 50 Millionen Amerikaner an der Armutsgrenze, obgleich sie Vollzeit erwerbstätig waren. In manchen Gegenden - wie in Teilen der Appalachen im Osten des Landes - gab es gar Familien, die seit Generationen in Armut lebten und es nicht geschafft hatten, sich aus eigener Kraft aus ihrem Elend emporzuarbeiten.
Mit seiner Studie rüttelte Harrington das liberale Gewissen Amerikas wach. Wenn ein Amerikaner, der hart arbeitete, nicht genügend Geld verdiente, um seine Familie angemessen zu ernähren, konnte das kaum seine Schuld sein, so die Schlussfolgerungen der damals regierenden demokratischen Regierung. Der Staat sollte nun einspringen, um den sozial Benachteiligten durch bessere Bildungsmöglichkeiten und Sozialleistungen die Chance zu geben, mit dem Rest des Landes gleichzuziehen. Die von John F. Kennedy begonnene Sozialpolitik mündete unter seinem Nachfolger Lyndon Johnson in den "Krieg gegen die Armut", der in seinen Ausmaßen an die Bemühungen Franklin D. Roosevelts in den dreißiger Jahren erinnerte; der hatte es geschafft, durch groß angelegte staatliche Interventionen die Auswirkungen der damaligen Weltwirtschaftskrise zu lindern.
Doch die Antwort konservativer Republikaner auf Johnsons Politik ließ nicht lange auf sich warten. Sie warfen den Demokraten Verrat am amerikanischen Ethos vor und machten deren Sozialpolitik direkt verantwortlich für die steigende Kriminalität. Wenn der Staat Geld von oben nach untern umverteile, so die Argumentation konservativer Republikaner, liefere er der "untätigen" Bevölkerung die moralische Rechtfertigung, Gesetze zu brechen und sich zu nehmen, was sie brauche. Außerdem fördere Sozialhilfe den Zusammenbruch der Familien, weil Männer sich nicht mehr für die Versorgung von Frau und Kindern verantwortlich fühlten. Während sich die Männer hernach hemmungslos dem Drogenkonsum hingäben, würden die Frauen uneheliche Kinder gebären, um dann die entsprechende Unterstützung vom Staat abzukassieren.
Hinter dem Angriff der Republikaner auf das Sozialsystem verbarg sich unverhohlener Rassismus. Denn etwa zeitgleich mit dem Erwachen des sozialen Gewissens unter Liberalen feierte auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung ihre ersten großen Erfolge. Sie forderte eine Abschaffung der Rassentrennung und gleiche Rechte für die Schwarzen. Und mit der massenhaften Migration schwarzer Landarbeiter von den Südstaaten in die Großstädte des Nordens und Nordostens gewann die Stimme der Afro-Amerikaner an politischem Gewicht. Die meisten von ihnen fanden ihre politische Heimat in der Demokratischen Partei.
Besonders in den Südstaaten verfolgte man diese Entwicklung mit Abscheu. Auch ein Jahrhundert nach Beendigung der Sklaverei galten hier Schwarze als minderwertige Kreaturen, die nicht in der Lage seien, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Da der Süden traditionell demokratisch wählte, die Demokraten unter Kennedy und Johnson aber zu Verfechtern der Gleichberechtigung geworden waren, sahen die Republikaner ihre Chance gekommen, diese Wählerschicht auf ihre Seite zu ziehen.
Doch offener Rassismus war in Zeiten der Bürgerrechtsbewegung nicht mehr möglich. Also verwendeten die Republikaner subtilere Methoden. Um die Forderungen der Schwarzen nach mehr Gleichberechtigung zu diskreditieren, stellten sie die Bürgerrechtsbewegung in einen ursächlichen Zusammenhang mit der steigenden Straßenkriminalität. So hieß es, die Linken und Kommunisten würden zu Ungehorsam aufrufen, die Moral der Gesellschaft untergraben und den Mob zu Gewalt animieren.
Jeder Amerikaner, ob Rassist oder nicht, verstand diese Botschaft. Sie spielte auf tiefsitzende, mit Angst, Hass und Verachtung besetzte Klischees an - Klischees, die Schwarze als gewalttätig, zügellos, sexbesessen und faul darstellten. Die Ängste der weißen Mittelklasse vor Gewalt von Schwarzen waren damit reichlich bedient.
Der republikanische Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater scheiterte 1964 noch kläglich mit seinem Versuch, die Wahlen zu gewinnen, indem er sich als Held der Verbrechensbekämpfung darstellte. Vier Jahre später hatte sein Nachfolger Richard Nixon jedoch Erfolg. Auch er stellte das Thema ins Zentrum seines Wahlkampfes, und diesmal schaffte es die Propagandamaschine seiner Partei, die tiefsitzenden Ängste der weißen amerikanischen Mittelschicht in Wählerstimmen umzumünzen. Monatelang bombardierten die Republikaner das Wahlvolk mit der Botschaft, Amerika werde im Chaos versinken, wenn nichts gegen das Verbrechen getan werde. Das Ergebnis: Bei einer Umfrage im Jahr 1969 gaben 81 Prozent der Befragten an, dass Recht und Ordnung im Land zusammengebrochen seien. Verantwortlich machten sie dafür "aufständische Neger" und Kommunisten.
Verglichen mit dem Mann, der Amerika ein Jahrzehnt später umkrempeln sollte, war Nixon jedoch geradezu ein Liberaler. Der Charakter der konservativen Revolution, die Ronald Reagan nach seinem Wahlsieg 1980 in Gang setzte, lässt sich am besten in zwei Worten zusammenfassen: radikaler Individualismus. Reagan versetzte der Epoche des sozialen Gewissens, deren Niedergang sich bereits seit einigen Jahre angekündigt hatte, den endgültigen Todesstoß. Jeder sollte wieder selbst für seine vermeintlichen Fehler gerade stehen und nicht mehr die Gesellschaft für sein Schicksal verantwortlich machen. Wer keine Arbeit hatte, sollte sich welche suchen und nicht dem Staat auf der Tasche liegen. Bist du arm, so hast du selbst Schuld, lautete das neue Credo.
Und Reagan meinte es ernst: Während er die Wirtschaft konsequent deregulierte und die Arbeitnehmer schutzlos den Interessen der Unternehmer aussetzte, strich er gleichzeitig jegliche staatlichen Sozialleistungen auf ein Minimum zusammen und legte sich mit den Gewerkschaften an. Binnen weniger Jahre gingen Millionen von Arbeitsplätzen verloren, während gleichzeitig die Profite der Unternehmen in die Höhe schossen. Die Tüchtigen sollten wieder für ihre Arbeit belohnt werden, so hatte Reagan versprochen, und wer clever und skrupellos genug war, konnte sich die neuen Freiheiten eines Geschäftsmannes zunutze machen.
Die Mehrheit der Bevölkerung bewegte sich jedoch auf dem Weg nach unten: der Mittelstand vom sicheren Arbeitsplatz zum unsicheren Job, die unteren Schichten vom Geldmangel ins Elend. In einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffte, war aber die Beschwörung des amerikanischen Ethos um so wichtiger, damit die Gesellschaft nicht völlig aus den Fugen geriet. Selbst diejenigen, die darunter litten, dass der Staat sich aus seiner sozialen Verantwortung zurückzog, mussten von der Idee überzeugt werden, dass sie es eines Tages schaffen könnten, zu Reichtum und Ehre zu gelangen. Anders würden sie diese Ungerechtigkeit kaum hinnehmen.
Funktionieren konnte der Appell an die Eigenverantwortung aber nur, weil der amerikanische Ethos nicht nur ein Mythos, sondern tief in der amerikanischen Seele verankert ist. Andere Nationen würden durch eine gemeinsame Religion, Rasse oder Sprache verbunden, schreibt der Sozialwissenschaftler John E. Schwarz. Die amerikanische Gesellschaft hingegen werde durch den tiefen Glauben zusammengehalten, dass Aufstieg und Erfolg jedem Einzelnen möglich sei.
Unter Reagan wurde diese Philosophie jedoch ins Negative verkehrt. Wer nämlich in dem Wettbewerb um die größten Kuchenstücke versagte, der war entweder nicht fleißig genug, oder er hatte das amerikanische Ethos nicht verinnerlicht. In jedem Fall sei es falsch, so die sozialdarwinistischen Theoretiker des Neoliberalismus, dass der Staat diesen Menschen übermäßig helfe; denn das würde die Schwachen und Arbeitsscheuen nur unnötig über Wasser halten und sie dazu animieren, sich fortzupflanzen - auf Kosten der Starken und Guten. Die verlören nämlich den Anreiz, ihre Talente zum Einsatz zu bringen, wenn sie sähen, dass sich Leistung nicht mehr lohne. Das Ergebnis sei eine Gesellschaft, in der die Schwachen den Ton angäben und den Rest mit nach unten zögen.
Die Bevölkerung sah das etwas differenzierter. Die meisten Amerikaner glaubten an den amerikanischen Traum; gleichwohl wussten sie, dass, wer scheiterte, nicht unbedingt ein Versager sein musste, sondern äußere Umstände mit im Spiel sein konnten. Wer arbeitete und trotzdem in die Armut abglitt, dem sollte nach Meinung der Mehrheit der Staat durchaus unter die Arme greifen. Die vermeintlichen Faulenzer jedoch, die die Hand aufhielten oder über Drogenhandel das schnelle Geld zu machen versuchten - für die hatten Durchschnitts- Amerikaner keinerlei Verständnis. Mehr noch: Auf sie konnte jemand, dessen Lebensstandard in den achtziger Jahren kontinuierlich sank, geradezu einen Hass entwickeln.
So entstand das Konzept der deserving poor und der undeserving poor. Die ersteren waren ohne eigene Schuld vom Schicksal benachteiligt und verdienten deswegen Unterstützung; die zweiteren hatten ihr Elend selbst verschuldet, so dass ihnen jegliche Hilfe gestrichen werden sollte. Doch nicht nur das: Wenn die undeserving poor versuchten, auf krummen Wegen an das schnelle Geld zu kommen - etwa durch Drogenhandel -, dann hatten sie nichts anderes verdient, als dafür bestraft zu werden.
Wer aber waren nach Meinung des Durchschnittsamerikaners die undeserving poor? An dieser Stelle schloss sich der Kreis zu den Südstaatenrepublikanern der sechziger Jahre. Denn bei vielen Amerikanern hält sich bis heute das Vorurteil, dass Schwarze nicht dieselbe Arbeitsethik besäßen wie der Rest des Landes. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Politologen Martin Gilens mit dem Titel Why Americans Hate Welfare liefert dafür eindrückliche Belege. So nehmen laut Umfragen die meisten Amerikaner Armut als ein spezifisch schwarzes Problem wahr. Und viele halten gleichzeitig Afro-Amerikaner für weniger arbeitsam und diszipliniert als den Rest der Bevölkerung. Sie halten Sozialhilfe für gerechtfertigt, aber nur für diejenigen, die trotz harter Arbeit in Armut geraten sind.
Dieser latente Rassismus wurde während der Regierungszeit Ronald Reagans reichlich genährt. Denn der Krieg gegen die Drogen, den Reagan 1982 ausrief, richtete sich in erster Linie gegen die schwarze Bevölkerung. So sind etwa 75 Prozent der Drogenkonsumenten weiß, Afro-Amerikaner machen aber mittlerweile 75 Prozent der wegen Drogendelikten verurteilten Häftlinge aus.
Anfangs wurden noch die Drogenhändler zu den Feinden der amerikanischen Gesellschaft schlechthin hochstilisiert; später aber kamen die Drogenkonsumenten hinzu. "Wenn dieses Problem gelöst werden soll", verkündete Reagan 1986, "dann dürfen Drogenkonsumenten nicht mehr die Gesellschaft für ihre Taten verantwortlich machen. Sie sind als Individuen verantwortlich. Wir anderen müssen klar zum Ausdruck bringen, dass wir den Konsum illegaler Drogen nicht länger tolerieren werden - von niemandem."
Je länger die Dämonisierung der Drogen und der Drogenkonsumenten anhielt, desto stärker setzte sich im Bewusstsein der Bevölkerung die Überzeugung fest, dass für derartige Delikte hohe Strafen gerechtfertigt seien, unter Umständen selbst die Todesstrafe. Und je länger die wirtschaftliche Unsicherheit anhielt, in der sich die amerikanische Mittelschicht seit Anfang der achtziger Jahre befand, desto stärker wuchs ihre Wut auf die vermeintlichen Parasiten, die auf Kosten anderer einen Lebensstil gewählt hätten, der dem amerikanischen Ethos widerspreche. Während 1965 nur 45 Prozent der Amerikaner die Todesstrafe befürworteten, waren es 1988 bereits 71 Prozent, und der Anteil derer, die der Meinung waren, die Gerichte seien zu nachsichtig gegenüber Straftätern, stieg von 48 auf 82 Prozent. Angesichts dessen war es kein Wunder, dass die Idee, straffällig gewordene Mitbürger wieder in die Gesellschaft zu reintegrieren, immer weiter in den Hintergrund geriet. Das Volk verlangte nach Vergeltung, und die Politiker, die die ganze Drogenhysterie überhaupt erst in Gang gesetzt hatten, waren mehr als bereit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.
Moralische Unterstützung für ihren Kreuzzug gegen die "parasitären Unterklassen" bekamen die Politiker von konservativen Soziologen und Biologen, die Anfang der neunziger Jahre eine Theorie aufwärmten, die bereits Anfang des Jahrhunderts populär gewesen war. Laut dieser Theorie wird die Intelligenz eines Menschen ausschließlich durch seine Gene bestimmt. Weniger intelligente Menschen neigten eher dazu, Verbrechen zu begehen, so die Theorie weiter, während höher Begabte arbeitsam und erfolgsorientiert seien. Und weil Schwarze im Vergleich zu den anderen Rassen im Durchschnitt weniger intelligent seien, begingen sie auch die meisten Verbrechen. Diese Theorie, die die Autoren Charles Murray und Edward Herrnstein in ihrem Buch The Bell Curve vertraten, fügte sich leicht ein in das Gesellschaftsbild, das die Vertreter des Neoliberalismus seit Ende der siebziger Jahre verbreitet hatten. "Es gibt keine Alternative" war die Standardformel, mit der etwa Margaret Thatcher den Kritikern ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik entgegentrat. Dahinter steckte der Gedanke, dass Ungleichheit unter den Menschen quasi vom Schicksal vorherbestimmt sei.
Nach all den Jahren der Hysterie kehrt aber wenigstens in die Drogenpolitik langsam die Vernunft zurück. So fordern mittlerweile selbst konservative Publizisten, Politiker und Geschäftsleute die Legalisierung von Marihuana und ein Ende des Drogenkrieges. Vielleicht wächst ja auch eines Tages bei den Nachfolgern von Billy Mayfield die Erkenntnis, dass Rehabilitation dem amerikanischen Traum am ehesten entspricht.
aus: der überblick 01/2000, Seite 39