Gemeinsinn schafft Sicherheit - stokvels sind im südlichen Afrika ein angepasstes Sicherheitsnetz nach traditionellem Muster
In afrikanischen Gesellschaften bildete die Großfamilie das Netz der sozialen Sicherheit. Wer keine Arbeit fand, wurde von irgendeinem Verwandten beschäftigt; wenn jemand seine Kinder nicht versorgen konnte, sprangen Geschwister, Tanten oder Onkel ein. Die Abwanderung in die Städte hat solche Familienbande oft auseinander gerissen. Aber die Stadtbewohner schufen sich neue Netze der wechselseitigen Hilfe.
von Grietjie Verhoef
Südafrika war im neunzehnten Jahrhundert keine politische Einheit. Es bestand vielmehr aus von Häuptlingen oder Königen regierten Gebieten, britischen Kolonien und Republiken der Buren. Die Ökonomie in der Region des Südlichen Afrikas war von der Landwirtschaft geprägt. Als dann 1870 Diamanten und ab 1886 Gold entdeckt wurden, entwickelte sich Schritt für Schritt aus den Anfängen der Bergwerken eine umfassende industrielle Wirtschaft. Nach und nach wurden die unabhängigen afrikanischen Agrargesellschaften, die schnell wachsende koloniale Bergbauwirtschaft und die aufkeimende industrielle Wirtschaft zu der in den Metropolen konzentrierten Wirtschaft der Kolonialmacht Großbritannien verschmolzen. Diese Integration trug zur Wanderungsbewegung von Afrikanern in die städtischen Zentren bei – vor allem im letzten Viertel des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die zunehmende Urbanisierung hat zu fundamentalen Veränderungen der Wirtschafts-, Macht- und Geschlechterbeziehungen innerhalb der traditionellen afrikanischen Gemeinschaften geführt. Bis dahin hatten afrikanische Frauen einflussreiche Positionen in der gesellschaftlichen Organisation der Produktion innegehabt. Die Verteilung von Arbeit, Rechten und Verantwortung hingen von Geschlecht, Alter und Stellung im Verwandtschaftssystem ab. Zugang zu Produktionsmitteln sowie Kontrolle drüber und ihre Übertragung waren durch soziale Beziehungen und die Arbeitsteilung geregelt, wobei bestimmte Tätigkeiten je nach Geschlecht zugeteilt wurden. Die Eigentumsrechte von Frauen und ihr Zugang zu Ressourcen gründeten auf ihrem Status als Ehefrau, und der Ehemann hatte sie und ihre Kinder zu versorgen. Nach seinem Tod war seine Familie weiter verpflichtet, sich seiner Frau und der Kinder anzunehmen. Wenn jemand alt oder krank war oder keine formelle Arbeit fand, versorgte oder beschäftigte ihn jemand aus der Großfamilie, wenn er keine direkten Angehörigen mehr hatte oder diese das nicht leisten konnten. Die Unterstützung der Großfamilie bestand nicht in Geldleistung, sondern in persönlicher Hilfe.
Mit der Ansiedlung in Städten verloren die Frauen die Rechte des Zugangs zu Eigentum und Produktionsmitteln und dadurch auch den sozialen Einfluss, der mit ihren Verpflichtungen in der Produktion verbunden gewesen war. Als infolge der Produktion von Agrarerzeugnissen für den Markt, der Arbeitsmigration und der Verstädterung kapitalistische Wirtschaftsbeziehungen in die traditionellen Gesellschaften eindrangen, hatten Frauen immer weniger Zugang zu Land und die Arbeitslasten wurden außerordentlich ungleich verteilt. Die Produktion für den Markt wurde zur ausschließlichen Domäne der Männer. Den Frauen verblieb die Aufgabe, die Nahrungspflanzen für die Familie anzubauen. Damit wurden sie vom nunmehr bedeutendsten Wirtschaftsprozess und der wichtigsten Geldquelle ausgeschlossen.Um nicht ausschließlich für ihre Ehemänner arbeiten zu müssen, suchten sie sich deshalb Lohnarbeit. Die traditionellen Formen der sozialen Absicherung verschwanden somit fast vollständig. Trotzdem behielten informelle soziale Sicherungssysteme eine erhebliche Bedeutung für die Bevölkerung.
Menschen aus traditionellen Gesellschaften, die nun in vorherrschend modern geprägten städtischen Gebieten lebten, stellten fest, dass sie ihre eigenen Unterstützungsnetzwerke schaffen mussten. Das war nur auf der Grundlage vertrauter traditioneller Organisationsweisen der sozialen Sicherung möglich, die hauptsächlich auf der Unterstützung durch Verwandte oder vertraute Freunde gründeten. In ihrem städtischen Umfeld setzten afrikanische Frauen ihre wirtschaftlichen Fähigkeiten und Kenntnisse dazu ein, unter Bedingungen von Arbeitslosigkeit und Armut Überlebensstrategien zu entwickeln. Sie übernahmen eine Vielfalt von Arbeiten im informellen Sektor. Da es keinen gesicherten Zugang zu Produktionsmitteln gab, war Armut unter afrikanischen Stadtbewohnern weit verbreitet. Deshalb schufen sie besondere Strukturen innerhalb ihrer Gemeinschaften, die ihnen Geld verschafften, ohne das sie in der Stadt nicht leben konnten.
In den afrikanischen Wohnvierteln entstanden informelle finanzielle Organisationen, die allgemein unter dem Oberbegriff stokvels bekannt sind. (In den verschiedenen afrikanischen Sprachen und Regionen gibt es viele verschiedene Namen für diese Art von Vereinigungen). Stokvels sind Spar- oder Kreditgesellschaften, zu denen sich eine Gruppe von Menschen zusammenschließt. Jedes Mitglied verpflichtet sich, regelmäßig einen bestimmten Geldbetrag in einen gemeinsamen Topf einzuzahlen. Je nach den Regeln des jeweiligen stokvels wird die von allen eingezahlte Gesamtsumme – oder Teile davon – reihum an die Mitglieder nach Antrag oder nach Bedürftigkeit ausgezahlt. Die stokvels sind demnach eine alternative Form des Sparens unter Afrikanern, im Gegensatz zum Sparen im formellen europäischen Bankensektor. Afrikaner waren ursprünglich mit dem formellen Finanzsektor überhaupt nicht vertraut. Da die Meisten weder lesen noch schreiben konnten, fanden sie die stokvels verständlicher und angemessener als das europäisch geprägte Bankensystem, das ihnen unflexibel, unpersönlich und unzugänglich erschien.
In stokvels trafen sich nahe Verwandte oder vertraute Freunde zum geselligen Zusammensein und zahlten gleichzeitig in den gemeinsamen Spartopf ein. Sie konnten darauf vertrauen, dass alle Teilnehmerinnen die gemeinsam vereinbarten Regeln der Organisation respektieren würden, die verlangen, dass jede regelmäßig bei den Treffen erscheint, den vereinbarten Betrag einzahlt und zu gegebenem Zeitpunkt ihre Auszahlung erhält. Im Prinzip können stokvels mit den auch in anderen Ländern existierenden Spar- und Kreditgesellschaften nach dem Rotationsverfahren (Rotating Savings and Credit Associations) verglichen werden. Allerdings kommt im südafrikanischen Zusammenhang hinzu, dass diese Clubs einen großen seelischen Beistand für die Menschen bieten, die in der Stadt aus ihren Stammesverbänden herausgerissen waren und andernfalls relativ isoliert leben müssten. Stokvels wurden beispielsweise als Teepartys abgehalten, oder es wurde von den Frauen selbst gebrautes Hirsebier ausgeschänkt; später gab es auch lebhafte Feiern, bei denen industriell erzeugte Getränke konsumiert wurden. Der wichtige Aspekt der gegenseitigen Unterstützung in den dem traditionellen Leben entfremdeten
Townships, den meist vor den Städten gelegenen Wohnvierteln der Schwarzen und Farbigen, wurde also kombiniert mit der Möglichkeit, finanzielle Rücklagen zu bilden und sich Zugang zu Krediten oder zusätzliches Einkommen zu verschaffen. Stokvels boten Menschen mit niedrigem und unregelmäßigem Einkommen einen gesicherten Zugang zu größeren Summen Geldes, die sie je nach Bedarf verwenden konnten.
Die soziale und wirtschaftliche Bedeutung der stokvels war fest verankert in dem afrikanischen Wertesystem der Gemeinschaft. Der Begriff dafür heißt ubuntu, was wörtlich bedeutet, dass ein Mensch nur durch andere Menschen ein Mensch sein kann. Ubuntu ist die humanistische afrikanische Ethik, in deren Zentrum der Mensch und die Verbindungen zwischen Menschen stehen. Es ist ein kollektives Bewusstsein, eine geteilte Erfahrung beispielsweise von Entbehrung oder Armut, die die Menschen zur gegenseitigen Hilfe bewegt. Diesem kollektiven Bewusstsein zufolge kann kein Einzelner Bedürfnisse nur für sich allein befriedigen, wenn die Gemeinschaft, in der er lebt, Mangel leidet. Jede einzelne Person gehört einer Gruppe von Personen an. Das Konzept betont die Bedeutung der Gruppe sehr stark, besonders wenn es um Angelegenheiten des Überlebens geht. In seinem grundlegendsten Sinn steht ubuntu für intensive Fürsorge und Miteinander Teilen. Der Begriff wird manchmal so beschrieben: Wenn jemand zwei Kühe hat und die Milch einer Kuh für den Verbrauch des Besitzers ausreicht, erwartet ubuntu von dieser Person, dass sie die Milch der zweiten Kuh an unterprivilegierte Brüder oder Schwestern gibt. Durch dieses Beispiel werden die wichtigsten Werte von ubuntu unterstrichen: erstens kollektive Solidarität, zweitens Zugehörigkeit, drittens Mitgefühl, viertens Respekt, fünftens Menschenwürde und sechstens die Einheit der Gruppe.
Im städtischen Umfeld wurde ubuntu praktiziert, indem Afrikaner – vor allem Frauen mit Verantwortung für Kinder – stokvels ins Leben riefen, damit etwas zum Überleben und zur Verbesserung der Lebensbedingungen gespart werden konnte. Mangels Zugang zu Land oder traditionellen Unterstützungsnetzwerken schufen die Mitglieder von stokvels mit diesen informellen Organisationen neue Netzwerke. Vor allem enge Freunde (nicht notwendigerweise Verwandte) bilden zusammen eine Unterstützergruppe, welche jeweils für die Kinder der anderen sorgt und ein starkes Gefühl der Solidarität entwickelt. Eine solche Gruppe ist ein sicherer Ort, um Ersparnisse aufzubewahren, und eine zuverlässige Quelle für Kredite, die von anderer Seite nicht zu erhalten sind. Das soziale Unterstützungsnetz reicht über das einzelne Mitglied hinaus und bietet Schutz auch für die Familie des Mitglieds. Die finanziellen Arrangements von Einzahlung und Auszahlung sind zwar strikt auf die Mitglieder beschränkt, jedoch profitiert deren Familien von dem dadurch eröffneten Zugang zu Geld. Auch Notfälle im Familienkreis werden berücksichtigt, wenn die Auswahl getroffen wird, wer Kredit erhält.
Die stokvels verbreitern das soziale Sicherheitsnetz der Teilnehmer, weil sie nun auf finanzielle Unterstützung von den Mitglieder vertrauen können, die nicht aus dem traditionellen Verwandtschaftssystem stammen. So ersetzen die
stokvel-Mitglieder die traditionelle Verwandtschaftsbeziehung durch ubuntu, durch Gemeinschaftsgeist, Teilen und Zusammenarbeit innerhalb des vertrauten Mitgliederkreises. Dieses Unterstützungsnetz ist nicht zuletzt deshalb so verlässlich, weil jeder ausgeschlossen wird, der die Regeln nicht einhält. Durch Verletzung der Regeln würde sich der/die Betreffende selbst vom Zugang zu Krediten und sozialer Unterstützung ausschließen. Ausgeschlossen wird etwa, wer bei den regelmäßigen Treffen unentschuldigt fehlt oder die vereinbarte Summe nicht zahlt. Da die meisten Afrikaner keine Möglichkeit haben, von Banken Kredite zu bekommen, würden sie bei einem Ausschluss aus dem stokvel künftig keinerlei Kredit mehr haben.
Noch wichtiger ist für die meisten Mitglieder, dass stokvels sich an Beerdigungskosten beteiligen. Wegen der großen Bedeutung von Trauerfeiern in der afrikanischen Tradition führt der Tod eines Verwandten zu großen finanziellen Belastungen für die Familie. Beerdigungsvereine oder makgotlas entstanden aus der afrikanischen Sitte, der Familie des Verstorbenen Essen oder Getränke zum Begräbnis mitzubringen. In traditionellen Gesellschaften wurde der beste Ochse geschlachtet, um mit seiner Haut den Verstorbenen einzuwickeln und mit seinem Fleisch die Trauergäste zu bewirten. Der Verstorbene sollte so würdig wie möglich beerdigt werden. Ganz wichtig ist für die meisten Afrikaner, dort begraben zu werden, wo bereits die Ahnen bestattet liegen. Durch die zunehmende Verstädterung ist das allerdings immer teurer geworden. Stokvels wurden deshalb vor allem auch deswegen gegründet, um sich gegenseitig bei der Finanzierung der hohen Bestattungskosten in den Städten zu unterstützen.
Die Beerdigungsvereine sollten sicherstellen, dass die traditionelle Praxis einer würdigen Trauerfeier durch den sozialen und wirtschaftlichen Wandel infolge der Urbanisierung und Industrialisierung nicht untergraben wird. Sie bestehen in der Regel aus kleinen Gruppen von Vertrauten, die durch regelmäßige Einzahlungen in einen gewöhnlichen stokvel für die Beerdigungskosten ansparen. Dadurch ist eine völlig neue Form eines sozialen Hilfsnetzes entstanden, das in traditionellen ländlichen Gemeinden nicht notwendig war: Erst in den Städten entstand Bedarf nach Särgen, weil die Menschen in den Townships keine Ochsen mehr halten konnten. Särge waren teuer, aber die Afrikaner wollten nach wie vor das beste Begräbnis, das sie sich irgendwie leisten konnten, so wie es früher Brauch war, den besten Ochsen zu schlachten, wenn jemand starb. Wenn der Leichnam in die Heimat auf dem Land überführt werden muss, steigen die Kosten noch weiter.
Die beschriebenen Beerdigungsgesellschaften gründeten sich zuerst in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie führen in neuer Form den Brauch fort, nach dem die Gemeinschaft der Familie des Verstorbenen seelischen Beistand leis-tete und bei der Bewirtung der Trauergäste half. Damit ermöglichen sie, auch in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels infolge von Migration und Verstädterung die traditionellen Verpflichtungen bei einem Trauerfall zu erfüllen.
Gegenwärtig werden stokvels nicht ausschließlich von armen Leuten als Überlebenshilfe gegründet, sondern auch von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht als Kapitalanlageform. Das Stokvel-Organisationsmodell, das nach dem Prinzip ubuntu funktioniert, stellt also immer noch ein wichtiges sozio-ökonomisches Unterstützungsnetz für Afrikaner in der multikulturellen südafrikanischen Gesellschaft dar.
Wie wichtig das ist, zeigten die Verteilung der Bankkredite auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die letzten Statistiken dazu stammen aus dem Jahr 1990, weil die Hautfarbe danach nicht mehr als Unterscheidungskriterium aufgeführt wird. Danach gingen nur 5 Prozent der formellen Bankkredite und Ratenzahlungskredite an schwarze Kunden, obwohl sie 70 Prozent der Bevölkerung mit 36 Prozent des gesamten Einkommens stellten. Das erklärt, warum etwa 40 Prozent der Kredite, die an Schwarze ausgezahlt wurden, aus stokvels stammten. Es gibt mehr Afrikaner, die zu stokvels gehören, als solche, die Bankkonten haben. Das unterstützt die These, dass die Werte von ubuntu den Stokvel-Mitgliedern Sicherheit geben, wo die traditionellen Systeme sozialer Sicherung zusammengebrochen und sie nicht in die modernen integriert sind.
Auch das Wachstum des informellen Sektors in Südafrika, in dem hauptsächlich afrikanische Frauen arbeiten, erklärt die gegenwärtige weite Verbreitung der stokvels. Beschäftigte im informellen Sektor haben nur selten ausreichende Kreditwürdigkeit, um bei gewöhnlichen Banken leihen zu können. Überdies benötigen Kleinunternehmer meist nur Kleinkredite. Die aber sind wegen der Bearbeitungskosten für die Banken nicht rentabel. Mit Unterstützung von ausländischen Gebern sind nichtstaatliche Organisationen (NGOs) gegründet worden, die Kredite an Unternehmer im informellen Sektor zur Verfügung stellen – vorwiegend an Frauen – unter der Bedingung, dass sie mindestens seit fünf Jahren Mitglied in einem stokvel sind. Diese Bedingung bestätigt den Wert der stokvels als einer sehr zuverlässigen Organisationsform für soziale Sicherheit und finanzielle Hilfe. Stokvels haben sich in der modernen südafrikanischen Gesellschaft etabliert als Ausdruck der Werte von ubuntu, der kollektiven Solidarität, der Zusammengehörigkeit, des Mitgefühls, des Respekts und der Einheit der Gruppe.
Informelle SchutzsystemeAuf ubuntu ist VerlassFrau Satekge lebt als Haushälterin in Johannesburg. Die 52-jährige wurde in der kleinen Stadt Soekmekaar im nördlichen Transvaal als eines von sechs Kindern geboren. Ihre Eltern waren Landarbeiter. Nach Abschluss der fünften Klasse verließ sie die Schule. Im Alter von nur 18 Jahren gebar sie ihr erstes von fünf Kindern und heiratete ihren Mann im Alter von 19 Jahren. Im Jahr 1970 zog sie mit ihrem Ehemann in das rund 800 Kilometer entfernte Johannesburg. Dort wohnten sie gemeinsam in zwei kleinen Zimmern bei der Familie, für die Frau Satekge den Haushalt führte. Ihr Ehemann verdiente sein Geld mit kleineren Renovierungs- und Bauarbeiten. Die Kinder blieben in Soekmekaar, wo der Bruder von Frau Satekge sich um sie kümmerte. Frau Satekges Geld reichte hinten und vorne nicht, denn sie musste von ihrem eigenen Verdienst das Schulgeld zahlen, die Schuluniformen kaufen und Kostgeld für die Kinder nach Soekmekaar schicken, weil ihr Mann kein Geld für die Ausbildung der Kinder abgab. Während sie in Johannesburg arbeitete, verließ sich Satekge darauf, dass ihre Verwandten ihre Kinder pflegten und betreuten. Der Gemeinschaftssinn von ubuntu gab ihr Sicherheit: Sie konnte sich darauf verlassen, dass ihre Kinder bei ihrem Bruder und seiner Familie in guter Obhut waren, solange sie in Johannesburg arbeitete. Sie musste gleichwohl einen Weg finden, ihr Haushaltseinkommen zu erhöhen, um die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen zu können. Sie begann, Kleidung an Mitglieder ihrer Kirchengemeinde zu verkaufen. Im Jahre 1985 schloss sie sich einer stokvel-Spar- und Kreditgemeinschaft an, die aus sechs Mitgliedern bestand. Die Mitglieder waren alle Angehörige der zionistischen Kirche Zion Christian Church (ZCC) und nahmen regelmäßig an Gottesdiensten in Johannesburg teil. Der stokvel war von einem Mitglied der ZCC gegründet worden, der im städtischen Umfeld einen Bedarf an wechselseitiger Unterstützung und an Zugang zu Kredit sah. Die Mitglieder dieses stokvels treffen sich einmal im Monat und zahlen eine feste Summe ein (zur Zeit sind das monatlich 200 Rand – knapp 54 Mark; die Summe hat sich seit 1985 kontinuierlich erhöht). Alle sechs Monate wird die gesamte angesparte Summe reihum an Mitglieder ausgezahlt. So konnte auch Frau Satekge zweimal eine höhere Summe bekommen. Sie war vor allem deshalb Mitglied in dem stokvel geworden, um genügend Geld zu haben, wenn sie das Schulgeld ihrer Kinder bezahlen und Bücher oder Schuluniformen kaufen musste. Dieses stokvel, das die vertrauenswürdigen sozialen Beziehungen innerhalb der Kirche nutzte, bot den afrikanischen Frauen, die mit dem städtischen Umfeld noch nicht so vertraut waren, wechselseitige Hilfe und finanzielle Sicherheit. Mit Hilfe dieser Organisationsform konnten die Frauen einander wechselseitig geben, was sie brauchten. Das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit schließt ein, dass Vorsorge getroffen wird für den Fall, dass jemand beerdigt werden muss. Frau Satekge war sich im Klaren, dass sie einmal die Kosten für die Bestattung ihrer Mutter würde tragen müssen, da sie als einzige von allen Kindern ihrer Mutter ein festes Einkommen hatte, wenn es auch nur das kleine Einkommen einer Hausangestellten war. Kurz nachdem sie in Johannesburg angekommen war, wurde sie deshalb Mitglied in einem Bestattungsverein. Eine Gruppe von zehn Hausangestellten, alles Frauen, die in der Nachbarschaft arbeiten, treffen sich einmal im Monat und zahlen eine bestimmte Summe. Von dem gesparten Gesamtbetrag erhalten die Mitglieder bei künftigen Beerdigungen in ihrer Familie einen Kostenzuschuss. Der Monatsbeitrag beträgt derzeit 80 Rand (21,50 DM); mit 5 Rand hat es einmal angefangen. Die Beiträge an den Bestattungsverein werden von der Sekretärin des Vereins auf einem Sparkonto der People’s Bank angelegt. Reihum muss jedes Vereinsmitglied einmal turnusmäßig die Aufgabe der Sekretärin übernehmen; Frau Satekge war bislang dreimal an der Reihe. Die Sekretärin hat die Verantwortung, die Monatsbeiträge einzusammeln und sie in die Bank zu bringen. Und sie muss genau Buch führen über die einzelnen Einzahlungen und die Ausgaben im Falle einer Beerdigung. Frau Satekge kam die Mitgliedschaft in dem Bestattungsverein zugute, als ihre Mutter im Jahr 1999 starb. Jedes Mitglied des Vereins zahlte ihr direkt einen Barbetrag für die Kosten der Beerdigung. Von dem Sparkonto des Vereins wurden 850 Rand als Kostenzuschuss für einen Sarg abgehoben. Weil die Mutter von Frau Satekge in einem Krankenhaus in Johannesburg verstorben war, musste der Leichnam zur Beerdigung nach Soekmekaar überführt werden. Angehörige des Bestattungsvereins waren schon vorher nach Soekmekaar gefahren um Frau Satekge bei den Vorbereitungen für die Beerdigung zu helfen. Jemand kümmerte sich um den Kauf des Sarges, jemand um die Überführung des Leichnams, darum, wie die Priester der ZCC die Trauerfeier gestalten sollten, und darum, dass Essen und Trinken für die Trauergäste vorbereitet wurde. Der Bestattungsverein ist ein anschauliches Beispiel für den Gemeinschaftsgeist des ubuntu zwischen den Mitgliedern. Sie kümmerten sich um Janet, das jüngste Kind von Frau Satekge, das ihr im Jahre 1998 nach Johannesburg gefolgt war, um dort zur Schule zu gehen. Am Freitagnachmittag nach Schulschluss reisten Mitglieder des Vereins mit Janet nach Soekmekaar. Nach der Beerdigung brachten Mitglieder des Vereins Janet am Montagmorgen zurück zur Schule, während Frau Satekge die letzten Formalitäten der Beerdigung erledigte. Ohne den seelischen und finanziellen Beistand der Mitglieder des Bestattungsvereins wäre es Frau Satekge weder möglich gewesen ihre Mutter in würdevoller traditioneller Art, dem afrikanischen Brauch entsprechend zu beerdigen, noch ihre Mutter in ihrer Heimat Soekmekaar zu bestatten. Weil ihre Brüder und Schwestern zu wenig verdienten, lag die Verantwortung für das Begräbnis allein auf den Schultern von Frau Satekge. Für verstädterte Afrikaner sind Beiträge an einen Bestattungsverein ein wesentlicher Beitrag zur sozialen Sicherheit. Wo infolge der Wanderung in die Städte Familien auseinander gerissen worden waren, musste das traditionelle Netzwerk wechselseitiger Hilfe durch alternative soziale Strukturen ersetzt werden. Die Beerdigungsgesellschaften sind ein Beispiel für solch ein kollektives Handeln, Loyalität und Gemeinsinn. Grietje Verhoef |
aus: der überblick 01/2001, Seite 38
AUTOR(EN):
Grietjie Verhoef :
Grietjie Verhoef ist Professorin für Geschichte und leitet den Fachbereich für Geschichtsstudien an der Rand Afrikaans Universität, Auckland Park, Südafrika.