Beerdigungstraditionen im Spiegel von russischer Volkskultur und sozialen Beziehungen
Heidnische Bräuche, weltliche und kirchliche Rituale bei Trauerfeiern und Beerdigungen, Feiern zum Andenken an die Toten, bei denen viel Wodka fließt, und sehr unterschiedliche Friedhofstypen in großen Städten und auf dem Land, erlauben tiefe Einblicke in die Kultur und sozialen Beziehungen des russischen Volkes.
von Sergey Bardin
Der Tod wird in Russland wie ein großes Unglück empfunden, unabhängig davon, ob der Verschiedene krank war oder unvermittelt starb, ob er jung oder alt war. Noch im 20. Jahrhundert existierte im Norden Russlands die Institution von Klageweibern, von Frauen, die den Verstorbenen beweinten. Beweinen bedeutete, innerhalb einiger Tage oder sogar einiger Wochen Texte vom Leid zu singen und herauszuschreien. Klageweiber wurden oft auf einem Fluss mit Booten herangebracht, sie begannen zu weinen, sich Haare auszureißen und sich lange vor der Ankunft in einen besonderen Zustand der Ekstase hineinzusteigern. Von der Qualität ihres Schreiens und Weinens hing auch ihr Honorar ab. Nach der Zahl und Bekanntheit der beschäftigten Klageweiber bewertete man die Größe des Unglücks der Familie und, entsprechend, ihrer Liebe zum Verstorbenen.
In Russland, wo das Leben traditionell schwierig ist, bedeutet der Tod nicht nur den Verlust eines nahestehenden Menschen, sondern ist mit einer Menge zusätzlicher bürokratischer und finanzieller Probleme verbunden: Autopsie, Sterbeurkunde, Einbalsamierung, Beantragung eines Platzes auf einem Friedhof, Kauf von Beerdigungszubehör, Beerdigungsservice, Beisetzung. Die notwendigen Geldbeträge für eine anständige Beerdigung sind ziemlich hoch (siehe Kasten).
Deshalb versuchten früher viele alten Leute, von ihrer Rente Geld für die Beerdigung beiseite zu legen. Das ist auch heute noch so, wird aber angesichts unzureichender Renten immer schwieriger. Wenn den Alten das gelingt, kann dieser Spartopf auch als Quelle für Darlehen an Familienmitglieder dienen. Die Alten leihen gerne Geld an die Jungen aus. Denn sie wissen, dass dann die Jungen auch im Falle eines unerwarteten Todes alles so machen werden, wie es sein soll. Wer bei einem Todesfall als Darlehensnehmer vom "Sterbegeld" diese Pflicht nicht erfüllte, zöge gesellschaftliche Ächtung auf sich. Den Sarg und anderes Zubehör kaufen die Alten nicht im voraus. Das gilt bei uns als ein schlechtes Omen.
Wenn in einer Familie jemand gestorben ist, werden zuerst alle Spiegel im Haus mit einem schwarzen Stoff bedeckt. Es wird ein Diener aus einer Agentur für Ritualservice bestellt. Ferner wird ein Auftrag für die Einbalsamierung und Bestattung vergeben. Bei einem Todesfall in der Familie verkehren die Familienmitglieder in einer besonderen Sprache. Man sagt nicht "Er ist gestorben", sondern "Er ist weggegangen". Man sagt nicht "Ich besuchte eine Beerdigung", sondern "Ich leistete den Dienst", "Ich nahm Abschied". Den Toten nennt man nicht "Gestorbenen", sondern es ist "der Ruhende" oder "der Neuvorgestellte".
Nach der Einbalsamierung werden die Tage für die weltlichen Bestattungsdienste, nämlich der Trauerfeier und der Beisetzung festgelegt. Sie finden an einem Tag statt, falls der weltlichen Trauerfeier nicht noch eine kirchliche folgt. Für die weltliche Trauerfeier wird in der Stadt eine Trauerhalle gemietet, die neben Leichenhallen von Krankenhäusern oder in der Nähe von großen Friedhöfen liegen. Gewöhnlich handelt es sich um ein schlichtes steinernes Gebäude, zu dem eine Fichtenallee führt. In der "nichtreligiösen Kirche", wo die offizielle Verabschiedung der Kollegen und Freunde von dem Verstorbenen stattfindet, ist es üblich, viele frische Blumen zu bringen. Weil die Sträuße, besonders im Winter, in mehrere Schichten von Papier und Zeitungen gepackt werden, liegen im Vorraum der Trauerhalle Haufen von Papier auf dem Boden.
Manchmal findet die weltliche Trauerfeier nicht in der Trauerhalle, sondern im örtlichen Kulturhaus statt. Der Raum wird dann mit der Trauersymbolik geschmückt: schwarze Bänder, Fichtenzweige und Samt.
Die Halle ist blitzsauber, es erklingt eine traurige Geigenmusik. Alle treten ein, gehen um den aufgebockten Sarg herum und legen ihre frischen Blumen darauf. Dann beginnt der Verwalter der Halle - gewöhnlich ist es ein älterer repräsentativer Mann - die Verabschiedungszeremonie. Am Kopfende des Sarges treten diejenigen auf, die ein paar Worte zum Lebensweg des Verstorbenen sagen möchten. Normalerweise sind es nicht die Verwandten, sondern die Chefs und Kollegen. Es ist üblich, sich bei der Trauerfeier ruhig zu verhalten und Gefühlen nur zurückhaltend Ausdruck zu verleihen. Nachdem alle Reden gehalten wurden, geht, wer es wünscht, vor dem Verlassen der Halle noch einmal am Sarg vorbei. Zurück bleiben dann nur noch die Verwandten zur Verabschiedung.
Früher wurden bei den Beerdigungen bekannter Leute Trauerwachen
Religionszugehörigkeit
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Wenn es anschließend keine kirchliche Trauerfeier gibt, werden nach der weltlichen Feier alle, die es wünschen, mit Bussen auf den Friedhof gebracht, wo das Beerdigungsritual stattfindet. Findet eine zusätzliche kirchliche Trauerfeier statt, verlassen alle den Raum, und der Verstorbene wird in die Kirche gebracht. Die kirchliche Trauerfeier findet in der Regel einen Tag nach der weltlichen statt.
Die ganze Nacht steht der Sarg mit dem Verstorbenen in der Kirche. Hier legt man dem Verstorbenen ein Papierband mit dem Text eines Gebets auf die Stirn. Frauen wird dazu noch eine Blumenkrone aus Papierblumen aufgesetzt. Am Tag der Trauerfeier kommen die nahestehenden Freunde und die Verwandten in die Kirche. Sie kaufen Kerzen, zünden sie an den vor Ikonen stehenden Öllampen an und begeben sich in die Nähe des Verstorbenen. Der Geistliche führt das Ritual des Trauergottesdienstes durch, er liest Gebete. Zum Trauergottesdienst muss man nicht unbedingt in Schwarz kommen, aber normalerweise in einem dunklen Anzug oder Kostüm. Die Frauen tragen Kopftücher, bei den Männern sind die Köpfe nicht bedeckt. Mützen halten sie in den Händen. Manchmal gibt es mehrere Trauerfeiern an einem Tag und man muss lange draußen vor der Kirche warten, bis "der eigene" Verstorbene an der Reihe ist.
Die Trauerfeiern der Kirche sind eindrucksvoller als die weltlichen. Die Gesichter der Menschen leuchten vom Schein der Kerzen in ihren Händen. Die Alten flüstern Gebete und bekreuzen sich. Viele junge, aber auch manche älteren Frauen schauen etwas ängstlich. Sie sind mit den kirchlichen Gepflogenheiten noch nicht vertraut und haben noch keinen festen Glauben; aber sie beachten das kirchliche Ritual. Wenn sie in die Kirche zum Trauergottesdienst kommen, scheint es ihnen, dass die Kirche irgendeinen Schlüssel vom Geheimnis des Todes hat. Das Ritual scheint eine gewisse Gewalt über sie zu haben. Aber das lange Stehen ermüdet sie, und viele entdecken, dass sie zum direkten Treffen mit dem Tod noch nicht bereit sind. Sie pressen sich dann an die Alten.
Mit den Aufgaben des Küsters beauftragt man in Russland ältere Frauen, die auch die Kirche sauber machen. Sie erhalten Geld dafür, dass alles so läuft, wie es laufen soll. Der Geistliche wird für das Trauerritual separat bezahlt. Nach dem Gottesdienst fahren diejenigen, die es wünschen, mit Bussen und Autos auf den Friedhof. In der Regel kommen die Geistlichen nicht mit. So versammeln sich am Grab weniger Menschen als in der Kirche. Aber dort ist es üblich, die eigenen Gefühle zu zeigen. Man fasst die Hände des Verstorbenen, manche fallen am Grab in Ohnmacht. Es wird heftig geweint. Und manche, die sich vorher mit starrer Mine beherrscht hatten, weinen hier endlich leise.
Wenn am Grab alle Reden gehalten und die Trauergäste vom Sarg weggetreten sind, warten die Bestattungsgehilfen noch ein paar Minuten, bis die Verwandten von dem Verstorbenen Abschied genommen haben, dann schließen sie geschickt den Deckel und befestigen ihn mit Nägeln. Anschließend versenken sie den Sarg mit Seilen in der Grube. Die Verwandten und Anwesenden werfen je eine Handvoll der Erde ins Grab. Die Bestattungsgehilfen schaufeln dann einen Erdhügel darüber, der mit Kränzen überschüttet wird.
Bereits vor der Beerdigung sind die Grenzen des Grabes mit einem Betonquadrat markiert worden. Und gleich nach der Beisetzung wird ein Schild aufgestellt, auf dem der Vorname, der Nachname und die Daten der Geburt und des Todes aufgeschrieben sind. Oft bleibt dieses Schild jahrelang stehen, bis die Verwandten einen Grabstein oder eine Umzäunung aufstellen. Deshalb versucht man, einen zeitweiligen Rahmen mit dem Porträt des Verstorbenen zu bestellen und es so mit Kunststoff oder mit dem Glas zu schützen. Man versucht, den Rahmen an ein Metallrohr anzuschweißen, das tief in die Erde eingeschlagen wird. Später aber muss das Grab nach der Tradition mit einem Metallgitterzaun von ungefähr 2,5 mal 2,5 Meter begrenzt werden. Die Zaunhöhe beträgt ungefähr 1,5 Meter. Die Zaunpfähle müssen tief eingraben und einbetoniert werden, damit die durchfrierende Erde den Zaun nicht ausstößt oder schräg stellt und damit der Zaun nicht gestohlen wird. Im Zaun gibt es eine Tür, die manchmal mit einem Vorhängeschloss versehen wird. Die Zäune stehen dicht an dicht. Manchmal kann sich nicht einmal ein Kind zwischen ihnen hindurchzwängen. Deshalb sieht solch ein Friedhof wie eine Stadt aus Metallkäfigen aus, zu deren Türen man von den Straßen aus auf Fußwegen gelangt.
Innerhalb des Metallgitterzaunes befindet sich der Grabstein oder das Grabkreuz. Vor ihm liegt ein kleines Beet mit frischen Blumen, die verbleibende Fläche ist normalerweise mit Sand bestreut. Daneben steht eine kleine Kasten-Bank, wo die Werkzeuge verwahrt werden. Neben der Bank steht ein sehr kleiner, zusammengeschweißter Metalltisch, beide mit einem Schloss gesichert, damit die Gartenwerkzeuge und der Besen, eine Kunststoffflasche zum Begießen der Blumen, eine Dose Ölfarbe sowie ein Pinsel nicht gestohlen werden. Der Zaun, der Kasten und das Kreuz werden oft aus billigem Eisen hergestellt, das schnell rostet. Deshalb muss man sie in jedem Frühjahr neu streichen. Man nimmt die Farben, die zur Verfügung stehen und billig sind. Es wird mit schwarzer, grüner, blauer oder brauner Farbe gestrichen.
Zigeuner, die nach der Tradition dem Verstorbenen sein ganzes Eigentum mit ins Grab legen, - den Fernseher, das Mobiltelefon, den Goldschmuck - betonieren das Grab und alles, was darin liegt, fest ein, damit nichts gestohlen wird.
Nach einer Beerdigung muss man unbedingt zur Gedenkfeier kommen. Alle, die auf dem Friedhof, bei der weltlichen oder kirchlichen Trauerfeier waren, können kommen. Die Gedenkfeier ist der Hauptteil des russischen Beerdigungsrituals. Es gibt hier keine Liste, keine Ordnung. Oft sind bei der Beerdigungsfeier die Leute nebeneinander, die einander zuvor nie gesehen haben. Oder sie haben sich so viele Jahre nicht gesehen, dass sie einander nicht wiedererkennen. Verwandten aus entfernten Städten treffen sich manchmal nur bei Beerdigungen, deshalb können sie nur während der Gedenkfeier miteinander sprechen.
Manchmal kommen so viele Leute, dass - wenn die Gedenkfeier in einer Wohnung stattfindet, wo es nur wenig Platz gibt - in Schichten dem Verstorbenen gedacht wird. Kaum jemand hat genügend Sitzgelegenheiten für so viele Menschen. Deshalb werden Stühle von den Nachbarn geliehen und Bretter über Stuhlpaare gelegt und mit Decken umhüllt. Die erste Schicht setzt sich, und die anderen rauchen auf der Treppe oder warten im Hof. Zuerst wird Kutja gegessen, ein Gedenkfeiergericht. Weil viele Menschen diese Tradition nicht kennen oder vergessen haben, kündigen die Wirtinnen das an: "Zuerst Kutja". Kutja wird aus gekochtem Reis oder aus Weizen mit Honig und Rosinen gemacht. Es ist süß und ungesalzen. Man kostet mit dem Löffel von dem Gericht und schenkt dann gleich das erste Glas voll. Das ist in der Regel Wodka oder Kognak. Die Menschen sind durchgefroren, sie haben in der Kirche und auf dem Friedhof heftig geweint, und jetzt müssen sie den Stress ablegen. Sie heben in der Stille das erste Glas, sagen dann "gedenken wir"und trinken, ohne anzustoßen. Dann gibt es einen Imbiss: viel scharfes Essen.
Ein Teller mit einer Gabel und einem Löffel bleibt unberührt - das ist das Geschirr desjenigen, der begraben wurde. Auf den leeren Teller wird ein Glas mit Wodka gestellt, und es wird mit einem Stück von Roggenbrot bedeckt. Es heißt, dass der Wodka aus diesem Glas innerhalb von 40 Tagen verdunstet, und dann muss man sich noch einmal treffen, um des Verstorbenen zu gedenken. Aber schon vorher, am neunten Tag nach dem Tod, versammelt man sich zu einer zweiten Gedenkfeier.
Wenn die Familie reicher ist, wird ein Café oder eine Banketthalle gemietet. Das ist für alle günstig, weil die Gedenkfeier an einem Tag beginnt und endet. Dann werden lange Tische gedeckt. Nahe Verwandte werden am Haupttisch vorn in der Halle platziert, wie bei einer Hochzeit. Wodka und Wein werden mitgebracht, das Essen wird im Café bestellt. Sehr teurer Kaviar und Delikatessen werden auch mitgebracht und nur ein wenig für die Bedienung bezahlt. Man trinkt lange, es werden auch lange Trinksprüche angehört, aber es wird niemals angestoßen. Bei der Gedenkfeier können sehr arme und sehr reiche Menschen auf einander treffen, die einander in gewöhnlichem Leben niemals begegnen würden.
Die Gedenkfeier wird von den Frauen gestoppt, wenn sie sehen, dass die Männer zu viel getrunken haben. Zum Beispiel, wenn ein älterer Mann in seiner Rede den Vornamen und den Mittelnamen des Verstorbenen zu verwechseln beginnt. Anstatt ihn als Ivan Petrowitsch zu bezeichnen, bezeichnet er ihn als Piotr Iwanovitsch. Dann sagt irgendeine mächtige Verwandte: "So, wenn es schon auf 'Piotr Iwanovitsch' kommt, dann reicht es. Es ist Zeit, Schluss zu machen." Für alle Bekannten des Verstorbenen wird damit das Ritual beendet.
Für den, der jetzt im eigenen Grab liegt, beginnt rund um ihn herum ein anrührendes und besonderes Leben. Das Grab muss gepflegt werden. Das kann man selbst machen. Oder man kann mit den auf den Friedhof kommenden älteren Frauen eine Vereinbarung treffen. Das können die "Nachbarn" sein, die regelmäßig benachbarte Gräber eigener Verwandten besuchen. Oder es sind einfach Frauen, die damit Geld verdienen, dass sie die Gräber auf dem Friedhof pflegen. Man muss nur angeben, welche Dienste man bestellt, und es ist nicht notwendig, im Voraus zu zahlen. Diese einfachen Frauen aus den Dörfern fragen einen nach der Nummer des Mobiltelefons und sagen, sie würden sie anrufen, wenn alles fertig ist. Fragt man, warum sie keine Vorkasse nehmen, antworten sie einfach: "Wohin kommst Du denn einmal, mein Lieber? Machen wir die Berechnung entsprechend." Auf dem Friedhof beim Zaunfärben oder beim Blumenpflanzen oder an den Wasserhähnen - die es immer noch gibt - finden die Leute angesichts des Todes leicht zu einer gemeinsamen Sprache. So ist der Ablauf auf einem russischen Friedhof an einem Werktag.
Aber einige Male im Jahr, während der kirchlichen orthodoxen Feste - am Weidensonntag (dem letzten Sonntag vor dem orthodoxen Osterfest), zum orthodoxen Osterfest selbst, an den Tagen des Elternsamstags, zu den Festen des Roten Hügels und zu Pfingsten B, ist man geradezu verpflichtet, den Friedhof zu besuchen. An diesen Tagen schickt die Verwaltung von den U- und S-Bahn-Stationen kostenlose Busse zu den Friedhöfen. Diese Tage gelten in der Volksmythologie als halboffizielle Gedenktage für die Verstorbenen. Tausende von Leuten kommen auf die Friedhöfe und pflanzen innerhalb von den im voraus gestrichenen Grabzäunen Blumen, legen auf die Gräber gefärbte Hühnereier, Äpfel, Papierblumen und tischen Wodka auf. Sie trinken und beweinen die Verstorbenen. Sie bewirten auch die Passanten und geben den Bettlern sehr großzügig Almosen.
Oft ist neben der Bank innerhalb des Zaunes ein winziger Tisch mit einem Bein in der Mitte tief eingegraben. Auf dem wird serviert, wenn man beim Besuch des Friedhofs allein eine kleine Gedenkfeier hält. Der Brauch, das Grab eines Angehörigen zu besuchen und mit dem Verstorbenen zu trinken, ist der am meisten verbreitete russische Brauch. Deshalb handeln am Eingang des Friedhofes legale Läden mit Wodka und bieten Imbisse an. Aber die älteren Blumenverkäuferinnen handeln auch illegal mit Wodka.
An den Feiertagen werden auch Passanten bewirtet. Da wird etwa Wodka ins Glas gegossen und dann wendet man sich an einen Vorbeigehenden: "Gedenken Sie?" Es wird ihm Wodka und ein Imbiss gegeben. Der Passant bekreuzt sich vor dem Grab und fragt: "Wie lautet der Name?" Man antwortet beispielsweise so: "Der Sklave des Gottes Grigorij". Er antwortet dann: "Ewiges Gedenken!" Er trinkt aus, trocknet die Tränen ab, isst den Imbiss. Dann bedankt er sich, verbeugt sich, bekreuzt sich noch einmal und geht weiter. Für solche Tage wird eine riesige Menge von künstlichen Blumen gefertigt. Am Eingang des Friedhofes stehen reihenweise Verkäufer von künstlichen und frischen Blumen. Wenn man die frischen Blumen auf das Grab legt, werden sie an der Knospe gebrochen - damit die Verkäufer die Blumen nicht für einen erneuten Verkauf vom Grab stehlen.
Der Brauch, auf den Friedhof zu kommen, zu trinken und zu beten, belastet die Beziehung zwischen Volk und Kirche. Eigentlich handelt es sich dabei nämlich um einen ganz heidnischen Brauch. Und die Russische Orthodoxe Kirche scheint diesen Brauch überhaupt nicht gut zu heißen. Aber sie verbietet ihn auch nicht direkt. Besonders fragwürdig ist es aus der Sicht der Kirche, zu Ostern zum Grab zu gehen. Ostern gedenkt die Kirche der Verstorbenen nicht, denn die Trauer vermindert doch die Freude. Auf die Frage, ob man zu den kirchlichen Festen auf den Friedhof kommen darf, antworten die Geistlichen ausweichend. Es wird gesagt: "Das Grab von jedem Christen ist ein heiliger Platz...". Als ich den Patriarchen Aleksij danach fragte, antwortete er allerdings nicht ausweichend: "Wenn Sie zum Beten gehen - dann gehen Sie. Bei Gott sind alle am Leben".
Die Kirche trifft auch keine Maßnahmen gegen den Brauch, die Gräber von Verwandten an kirchlichen Festtagen zu besuchen. Vielleicht deshalb, weil das Grab von Angehörigen zur Zeit der Verfolgungen in Russland für den Menschen immer die Kirche und die Sakramente ersetzte. Hier konnte er ohne Angst weinen, beten und mit Gott Zwiesprache halten. Der einfache Friedhof wurde durch die Volksfrömmigkeit geheiligt.
So stehen mein Vater und ich zu Ostern am Grab meiner Mutter und der Schwiegertochter. Mein Vater verbeugt sich tief und bekreuzigt sich. Dann entzünden wir vor dem Grabstein die kirchlichen Kerzen, so wie vor einem Altar. Dann stehen wir schweigend und warten, bis diese von selbst erlöschen oder vom frischen Frühlingswind ausgeblasen werden.
Die durchschnittlichen Preise für Beerdigungsdienstleistungen
in der Stadt Tscheljabinsk im Ural in Rubel (1 Euro = 33 Rubel) |
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Sarg | 555 |
Sarg samtig | 750 |
Sargdeckel mit Seide und Klöppelspitzen | 200 |
Kerzen | 5 |
Ritualtuch, komplett 12 m. | 200 |
Handtücher, 12 Stück | 40 |
vorläufiges Grabschild | 200 |
Kreuz mit einem Schild | 200, 550, 700 |
Kränze | 100-2000 |
Trauerband mit einer Aufschrift | 30, 50 |
Leichenwagen, 15 Plätze | 950 | Leistungen der Unternehmung für die Organisation und Durchführung von Beerdigungen: |
Vorbereitung des Verstorbenen zur Beerdigung (Einbalsamierung) | 460-760 |
Beförderung ins Haus (Hereintragen des Sarges und des Beerdigungszubehörs) | 300-500 |
Beförderung des Verstorbenen ins Leichenhaus | 300 |
Hinaustragen des Sarges, Trauerprozession vor dem Haus und auf dem Friedhof | 950-1500 |
Trauerhalle, 1 Stunde | 300-500 |
Ausstellung von Unterlagen | 50 |
Grabstätte auf dem Friedhof Gradskoje | 2274 |
auf dem Friedhof Uspenskoje | 2274 |
auf dem Friedhof Scherschnewskoje | 2274 |
Friedhof Fatejewskoje | 2300 |
Friedhof Mitrofanowskoje | 2400 |
Friedhof Suchomesowo | 2300 |
Friedhöfe in RusslandHeldenalleen für BanditenIn Russland kann man Friedhöfe nach städtischen und dörflichen Typen unterscheiden. Zu den dörflichen Friedhöfen würde ich die Friedhöfe von Dörfern und kleineren Städten mit bis zu 15.000 Einwohnern zählen. Solch ein Friedhof ist der poetischste und der grünste Platz in der ganzen Gegend. Schon aus der Ferne kann man das leicht erkennen: Der schattigste und der lockigste Birkenhain auf einer Anhöhe oder ein alter Kiefernwald ist sehr oft ein dörflicher Friedhof. Das, was jetzt die Landschaft der postsowjetischen Periode kleinerer russischer Städte und Dörfer verschandelt - hässliche Dörfer wie einst die Sowjosen und Kolchosen, verlassene Technikruinen und abgefressene Skelette von Kuhställen, städtische Baracken von Werkssiedlungen B, verstärkt den Kontrast zu den dörflichen Friedhöfen. Vor kurzem fuhr ich am Fluss Pachra entlang, einer der schönsten Gegenden in der Nähe Moskaus, um dort eine Datscha zu mieten. Ich sah eine Flusswindung, ein hohes Sandufer und einen uralten Kiefernwald vor der Brücke über den Fluss. Die Schönheit dieses Ortes berührte mich tief, und ich entschied, die Datscha in genau dieser Gegend zu mieten. Wie groß war meine Verwunderung, als ich näher kam und sah, dass dort ein Friedhof lag. Aber daneben war eine ungepflegte Siedlung, staubige Straßen mit Asphalt voller Schlaglöcher, trostlose Betongaragen und halbverfaulte Häuser. Auf den dörflichen Friedhöfen sind Grabstätten sehr billig, in entfernten Gegenden kosten sie fast nichts. Die Gräber sind dort weit verstreut. An vielen stehen gebogene, oft selbst hergestellte, in Kolchosewerkstätten oder einer Garage zusammengeschweißte Eisenkreuze. Auf den Kreuzen hängen alte ausgeblichene Kränze mit selbstgemachten Papierblumen. Die Leute lieben es, hierher zu kommen, zu sitzen, im Sommer auszuruhen. Eine schöne Natur, hohes nicht gemähtes Gras, Windgeräusch unter den Zweigen und die fast völlige Abwesenheit von Menschen, abgesehen von Feiertagen, machen den Reiz von solchen dörflichen Friedhöfen aus. Ganz anders sind die Friedhöfe in größeren Städten. Man kann diese in mehrere Kategorien unterteilen. Da gibt es zum einen die Beamtenfriedhöfe, wo die Leute aus der Verwaltung, berühmte Menschen und inzwischen auch sehr reiche Städter oder ihre Verwandten begraben werden. In Moskau ist es der Friedhof Nowodewitschje, wo die Frau von Stalin, Nikita Chruschtschow, die Schriftsteller Tschechow und Bulgakow, die Schauspieler aus dem Moskauer Kunsttheater, Generäle, Marschälle, viele Helden der Sowjetunion, Regisseure und Maler begraben liegen. Es gibt auch eine Filiale vom Friedhof Nowodewitschje, den Friedhof Trojekurowskoje. Auf diesen Friedhöfen gibt es viele Monumente und Skulpturen, die Grabstätten sind hier sagenhaft teuer. In der sowjetischen Zeit konnte man einen Platz auf diesen Friedhöfen nur durch eine persönliche Anordnung des Stellvertreters des Vorsitzenden des Moskauer Stadtsowjets erhalten. Um seine auf tragische Weise gestorbene Schwiegertochter dort begraben zu können, sollte mein Vater, ein Generalmajor, schriftlich auf den laut der Diensthierarchie ihm gehörenden Platz auf diesem Friedhof verzichten. Die zweite Kategorie der städtischen Friedhöfe - auf diesen sind Grabstätten auch sehr teuer - sind gewöhnliche, aber uralte Friedhöfe, die in der Regel noch im 14. Jahrhundert entstanden sind. Diese Friedhöfe werden oft nach der Hauptgrabstätte genannt: Nemezkoje oder Armjanskoje. Manchmal wird er nach der Gegend benannt wie in Moskau der bekannte Friedhof Wagankowskoje. Der Wert dieser Friedhöfe besteht in ihrem edlen uralten Geist und darin, dass es bei ihnen eine Kirche gibt. Auf diesen Friedhöfen werden auch die in Bandenkriegen gestorbenen Gauner begraben, die in Russland mit dem Wort "Brüderchen" bezeichnet werden. Sie erhalten ein prachtvolles Begräbnis und riesige Granitdenkmäler. Oft werden sie auf diesen Denkmälern in Lebensgröße abgebildet wie ein Fotonegativ: Weiß auf Schwarz. Solche Gräber bilden in den Städten mit vielen Banditen ganze Alleen. Man bezeichnet sie als Heldenalleen. Eine bekannte Heldenallee gibt es auch in einer kleinen Stadt Egorjewsk im Südosten von Moskau. Die dritte Kategorie sind die modernen Friedhöfe. Sie liegen oft weit draußen vor der Stadt, oft in der Nähe von großen Mülldeponien. Diese sind so riesig, dass es oft nicht leicht ist, ein Grab zu finden, auch wenn Sie die Nummer des Grundstücks kennen. Asphaltierte Straßen überziehen diese Ruhestätten, so dass man mit dem Auto zum Grab fahren kann. Aber auch Linienbusse verkehren auf diesen mehrere Quadratkilometer großen Flächen. Im Frühling werden diese vom Tauwasser überflutet. Oberhalb des Friedhofs Nikolo-Uspenskoje im Süden von Moskau türmt sich eine Halde städtischen Mülls, über dem Vogelschwärme kreisen. Die Halde wird immer wieder von Traktoren zusammengeschoben. Weil es eine lange Zeit braucht, bis auf den neuen Friedhöfen Bäume wachsen, findet man dort zur Zeit nur Buschwerk und Unkraut. Sergey Bardin |
aus: der überblick 02/2003, Seite 22
AUTOR(EN):
Sergey Bardin:
Der Physiker Sergey Bardin arbeitet als freier Journalist und Autor in Moskau. Er ist Autor von drei Romanen und einem Buch über die Geschichte der russischen Naturwissenschaften.