Wer die Terroristen des 11. September bekämpfen will, muss zunächst ihre Logik begreifen
Die Attentäter des 11. September werden weithin als irrational und als Dogmatiker angesehen. Doch der Terrorismus hat System, und seine begünstigenden Voraussetzungen lassen sich benennen: kommunikativ isolierte Gruppen, Blockade-Erfahrung politischer Akteure, ein großes Personalreservoir und Gewaltmärkte als Rückzugs- und Aufmarschgebiet.
von Georg Elwert
Die von Bin Laden beschworene Tradition lockt uns auf die falsche Fährte des religiösen Traditionalismus. Viel spricht dafür, dass die Attentäter vor dem Hintergrund ihrer Informationen und ihrer Normen sehr rational handelten. Das Netzwerk al-Qaeda, das sie und Bin Laden einschließt, hat sich in der Vergangenheit als ausgesprochen lernfähig erwiesen.
Das Ausmaß der Aktionen auf New York und Washington hat alle Beobachter überrascht. Die Angriffe sind möglicherweise mehr als nur symbolische Handlungen, die zur öffentlichen Wahrnehmung der eigenen Ziele dienen sollen. Sie könnten auch einem uns als völlig irreal erscheinendem Traum entsprungen sein: mit diesen Anschlägen die Machtverhältnisse auf der Welt zu ändern. Zuvor hatten Bin Ladens Aktionen offensichtlich nie die gewünschte Zahl der Todesopfer und das erhoffte Aufsehen erreicht. Dies spricht aus der Logik dieses Typs von Organisation für einen Wechsel der als Opfer gewählten Symbole. Es ist nicht auszuschließen, dass man unter den Attentatsplanern hoffte, mit einem Schlag die Spitze der USA zu liquidieren und einer großen internationalen Aufstandsbewegung das Signal zu geben. In ähnlichen Fantasien lebte zum Beispiel die Rote Armee Fraktion in Deutschland. Sie glaubte, die Unterdrückten warteten nur auf das Signal, dass die Spitze der Gegenseite getötet werden könne. Auf einer vergleichbaren Kommunikationsinsel lebte auch die Aum-Sekte, die in ihrer Welteroberungsfantasie ein Giftgas-Attentat in Tokio verübte.
Ideologien benötigen zum Wachsen eine Abschottung. Nur noch bestimmte Medien werden angehört, gesehen und gelesen. Die Utopie wächst in einem Isolat. Wie bei einer esoterischen Gruppe ist das Gespräch mit Fremden eher zu meiden. Nur über Weniges darf man mit Außenstehenden sprechen. Genau so wird uns die Attentäter-Gruppe aus Hamburg geschildert. Nur bestimmte Informationen aus der Außenwelt lässt eine solche sektiererische Gruppe an sich heran. Jede Information, welche nicht im Auftrag der Gruppe bewusst gesucht und angefordert wurde, macht den verdächtig, der sie weitergibt.
Wichtig ist, dass die Organisation ihre Kämpfer von solchen Menschen fern hält, die ihnen ideologisch nahe stehen, aber an wichtigen Punkten Differenzen artikulieren. Das Gespräch mit diesen "Abweichlern" oder "Liberalen" könnte die eigene Position aufweichen. Dass in der wichtigen Schlussphase vor dem Terrorangriff die Attentäter in den USA (und möglicherweise auch im Nahen und Mittleren Osten) versammelt wurden, deutet an, dass dort eine Abschottung leichter als in Deutschland zu gewährleisten war. Der Kontakt zu gefährlichen Freunden muss unterbunden werden: Schlimmstenfalls, wenn sie sich immer wieder "aufdrängen", müssen diese irritierenden Kräfte genauso wie potenzielle Abweichler getötet werden, denn sie sind für die Lagermentalität bedrohlicher als der eigentliche Gegner.
Vor den aus revolutionärer Sicht bedenklichen Zeitungen und Sendern schützt man sich durch Interpretationsanleitungen. Dies sind, ganz postmodern, Dekonstruktions-Schemata, mit denen die Botschaft hinter der Botschaft dechiffriert werden soll. Dass die "Wir-Welt" gut ist und die Welt der andern böse, darf nicht in Frage gestellt werden. Dass "Wir" derzeit die Macht nicht haben, ist eine "verkehrte Welt". Man muss nicht nur alles tun, damit sich das ändert, man muss auch fleißig Informationen sammeln, die bestätigen, dass "Wir" siegen werden.
Solche kommunikativen Isolate mit selektiver Informationsaufnahme und zweipoligen Weltbildern sind häufiger als wir meinen. Das überlegene Lächeln und die Unfähigkeit zuhören zu können, verraten die Bewohner dieser Inseln. Offensichtlich haben die Männer der al-Qaeda sich in ihrem Isolat unter der Bedingung reduzierter Außenkommunikation eine Traumwelt gebaut, die ihnen mehr Erfolg suggerierte, als sie erreichen können. Das Isolat ihrer religiös firmierenden Politsekte konnten sie auch am Rande des Studentenmilieus einer deutschen Hochschule aufrechterhalten.
Wie werden die "Kämpfer" die Aktion bewerten? Dass der Präsident der USA sich gerade nicht aus dem Weißen Haus und der Verteidigungsminister gerade nicht aus dem Pentagon meldeten, muss den Terroristen als Bestätigung erscheinen. Dass dies Sicherheitsplänen entsprach, ist für diese fernen Beobachter irrelevant. Was zählt, ist der vom Fernsehen vermittelte Eindruck eines Präsidenten, der hektisch von Ort zu Ort fliegt und fast atemlos nur kurze Erklärungen abgibt, aber keine Zuversicht vermitteln kann.
Dass es keine Panikreaktionen gegeben hat, dass alle wichtigen Institutionen weiterhin funktionieren, zählt für al-Qaeda nicht. Solche Eindrücke lässt man in der Mentalität des Lagers nicht zu. Illustrativ für die selektive Informationsaufnahme ist das Beispiel des Nahost-Konflikts. Wir im Westen sehen, wie die Regierung der USA fast verzweifelt versucht, Israel und Palästina zum Ausgleich zu drängen. Die andere Seite nimmt selektiv ganz andere Fakten auf. Aus ihrer Sicht sind die USA das Land, aus dem Siedler nach Israel kommen, die von dort aus weiter ziehen, um das Land fremder Menschen, der Palästinenser, zu besetzen. Dass die USA Israel eine millionenschwere Entwicklungshilfe spenden, wird als bewusste Unterstützung dieser gewaltsamen Landnahme interpretiert.
Diese Weltsicht von den USA als Erzbösewicht wird ungewollt auch von anderer Seite gefördert. Die Regierungen der mit den USA verbündeten arabischen Staaten stellen unpopuläre Entscheidungen gern als Rücksichtnahme auf die USA dar. Wenn sie ein überbordendes Haushaltsdefizit durch Sparsamkeit bekämpfen müssen und dabei mächtige Interessengruppen, wie die Offiziere, verschonen, verweisen sie auf die USA, die hinter Weltbank und Weltwährungsfonds stünden.
Es ist auffällig, dass die Rekruten von al-Qaeda aus bestimmten Ländern der islamischen Welt viel häufiger kommen als aus anderen. Wer etwas über die Alltagserfahrung in diesen Ländern weiß, hat einen Schlüssel zu den Attentaten in der Hand. Man möchte verzweifelt Einfluss nehmen: "Action" ist gefragt. Für die Machtlosen schafft der Terror ein Surrogat. Die Frage, ob man noch selbstbestimmt handeln kann, Handlungsfähigkeit verloren hat oder wiedergewinnen kann, öffnet oder schließt die Option für Gewalt. Wer Gewalt erklären will, muss fragen, welche anderen Formen der Einwirkung auf Machtstrukturen oder der Konfliktregelung ausgefallen sind. Der selbstmörderische Terror schafft für Menschen mit der Erfahrung politischer Ohnmacht die Illusion von Handlungsfähigkeit. Die Ideologie wird dann, wenn die Option gewählt wurde, gesucht, wiederentdeckt oder frisch geschöpft.
So fern und fremdartig diese Option erscheint, so plausibel ist sie für Menschen aus autoritär verfassten Staaten. Gewiss, in diesen Staaten stehen dem, der besticht, einige Einflussmöglichkeiten offen. Wer jedoch auf diesem "Markt" anderen unterlag oder wem das Geld für die Korruption fehlt, wird sich zu denen schlagen, die sich vom Regime abwenden. Korruption ist eines der drei häufigsten Schlüsselworte in der Propaganda von al-Qaeda. Wenn in Ägypten der Staatschef wieder mal mit 95 Prozent der Stimmen gewählt wurde, wenn in den Golfstaaten und Saudi-Arabien schon die Rede von Wahlen als Blasphemie geahndet wird, dann erscheint es als aussichtslos, politischen Einfluss zu suchen.
Das Organisationsnetz um al-Qaeda hatte ein großes Problem zu überwinden, das zu lösen Zeit und viel Aufwand erforderte: die Rekrutierung von Selbstmordattentätern. Das ist weitaus schwieriger, als man nach Zeitungsberichten annehmen möchte. Selbstmordattentäter dürfen nicht depressiv sein. Es gibt zwar auch depressive Attentäter; diese lassen sich aber nicht zuverlässig in eine Organisationsdisziplin einbinden. Selbstmordattentäter brauchen ein Milieu, das diese Taten durch seine Normen fördert.
Das ist der Islam gerade nicht. Jeder gebildete islamische Theologe bestätigt, dass Selbstmord verboten ist. Die erste Überlegung war daher möglicherweise, solche Attentäter aus anderen Milieus einzukaufen. Dazu passt eine Nachricht aus Sri Lanka. Die Elam Liberation Tigers, die tamilischen Terroristen (vgl.: "der überblick" 2/2001), erhielten, wie sie einem Forscher sagten, vor ein paar Jahren ein lukratives Angebot. Als Gegenleistung hätten sie eine Einheit ihrer eigenen Selbstmordattentäter zur Verfügung stellen müssen. Die "Tiger" lehnten diese Entleihe ab.
Für die interne Lösung, selbst Attentäter-Einheiten aufzustellen, wurden weitaus mehr Menschen rekrutiert, als unmittelbar als Attentäter gebraucht wurden. Die Selbstmordattentäter wurden aus diesen herausgefiltert. Schätzungsweise kam nur einer von 100 Rekruten (und nur einer von 1000 Interessenten) in die engere Wahl. Das Profil der Rekruten jung, männlich, risikobereit, prestigesuchend entspricht dem der "jungen Wölfe", die wir in diesem Lande als Entwickler neuer Technologien und Unternehmensgründer verzweifelt suchen. Sie stechen heraus, sind aber nicht psychisch abweichend.
Da sich unter Selbstmordattentätern fast immer Abspringer finden, müssen mehr Kommandos auf den Marsch gesetzt werden, als am Ende dann zuschlagen. In den USA waren nicht in allen Flugzeugen zwei Attentäter-Piloten plus drei Mitkämpfer; es ist wahrscheinlich, dass das eine oder andere Terror-Team gar nicht bis in die Flugzeuge kam, weil einige Kämpfer selbst den geplanten Ablauf sabotierten, sodass sie gegenüber den Mitstreitern der Tat als ungewollt verhindert erschienen (mancher, der jetzt als "Schläfer" gefunden wird, könnte tatsächlich ein Abspringer sein). Dies zeigt das Problem und zugleich die Lernfähigkeit der Organisation.
Intern wurde nicht von Selbstmord gesprochen; das war tabu. Eine Ideologie musste entwickelt oder kopiert werden, die diese Attentäter in "Helden" umdefinierte. Das erfordert für einen theologisch gebildeten Menschen einige Verrenkungen.
Ideologie allein reicht aber nicht; das politische Vorhaben muss sinnvoll erscheinen. Menschen, die aus Ländern kommen, in denen es scheint, als könne man durch politisches Handeln nichts erreichen, sind die besten Nachwuchskräfte für Selbstmordeinheiten. Hier zahlte sich Bin Ladens Spezialisierung auf repressive arabische Staaten, insbesondere prowestliche Diktaturen und Monarchien, aus.
Die Frage, woher Bin Laden sein großes Personalreservoir gewinnen konnte, lenkt unseren Blick weg von Palästina und Afghanistan. Denn dort leben relativ wenige Menschen oder diese sind bereits gut in verschiedene Organisationen eingebunden. Da er sich als Verbündeter der Taliban etablierte, konnte er die Mehrheit der Afghanen, die nach zuverlässigen Informationen eher taliban-kritisch eingestellt sind, nicht ansprechen. Auch war die Kampfesweise der afghanischen Mudschahedin in der Vergangenheit gerade durch Risiko-Vermeidung und nicht durch selbstmörderisches Frontkämpfertum charakterisiert.
Das eigentliche Reservoir sind die autoritären arabischen Staaten, die ihre Oppositionskräfte mehr oder weniger rabiat unterdrücken, und die USA oder Frankreich als ihre Freunde bezeichnen. Diese Oppositionsgruppen haben überwiegend nicht als Islamisten begonnen. Sie starteten häufig mit einem Appell an westliche Staaten. Die USA erschienen als großer Bruder aller Demokraten und all derer, die für Religionsfreiheit kämpfen. Sich an sie zu richten, war erst einmal nahe liegend. Dass die USA diesen Kräften kein Gehör schenkten, sondern die autoritären Herrscher stützten, musste seit den fünfziger Jahren zu politischen Frustrationen führen.
Beobachter des Nahen Ostens haben Schwierigkeiten das "Westliche" an der saudiarabischen Monarchie zu erkennen. In den fünfziger Jahren wurden die arabischen christlichen Kirchen geschlossen, in den Siebzigern ging es gegen die Schiiten, in den Achtzigern gegen abweichende Theologen unter den Sunniten. Auf ein Parlament wird verzichtet. Dass Bin Ladens antiwestlicher Kampf als Anti-Saudi-Bewegung begann, ist Basis seiner Glaubwürdigkeit im islamischen Lager. Er bot einen Hafen für Oppositionelle aus allen arabischen Ländern. Diese Strategie traf sich mit der fast identischen Saddam Husseins. Seine Netzwerke konnten bisher keine Suizid-Attentäter schaffen; sie sind gezwungen mit denen der al-Qaeda zu konkurrieren oder zusammenzuarbeiten.
Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von al-Qaeda liegt darin, dass sie sich unter Kriegsherren (warlords) entwickelte. Teile des Netzwerkes waren oder sind in Gebieten ohne staatliches Gewaltmonopol wie Sudan, Tadschikistan und Afghanistan beheimatet, dort haben sie ein Aufmarsch- und Rückzugsgebiet. In diesen Räumen besteht eine Verflechtung von wirtschaftlichen Interessen und Gewalt. Die Forschung nennt sie Gewaltmarkt. Raub, Schutzgelderpressung, Geiselnahme und Schmuggel gehören genauso dazu wie der Handel mit ideologischen Gütern. Dieser Gewalthandel mit ideologischen Symbolen besteht darin, dass man reichen Spendern ein Opfer verkauft. In Europa hatten die IRA und ihre Konkurrenten hierin eine Meisterschaft entwickelt. Das Opfer der eigenen Kämpfer und/oder das Opfer an den Menschen der feindlichen Seite wurden medienwirksam inszeniert. Aus Mitleid mit den Opfern oder aus Stolz auf den Erfolg der eigenen Sache fließen dann die Spenden.
Während die nordirischen Händler solch blutiger Devotionalien ihre Kunden in Nordamerika verloren, hat al-Qaeda in den letzten Jahren begonnen, diesen Markt in den reichen arabischen Staaten zu erobern. Wenn ein staatliches Gewaltmonopol nur begrenzt durchgesetzt wird oder ganz fehlt wie im Gewaltmarkt Afghanistan kann sich jeder Kriegsherr seine eigenen Normen basteln. Das sind ideale Bedingungen für organisierte Kriminalität. Ideologische Unternehmer nutzen die gleichen Strukturen.
In Gewaltmärkten herrschen spezielle Evolutionsbedingungen. Durch die brutale Selektion der Gewalt der Gewalt, die sich rechnet werden in diesem Feld laufend neue Institutionen und Formen der Gewaltorganisation ausgetestet. Nichts ist verboten; alles ist erlaubt, was man durch seine eigene bewaffnete Macht schaffen und erhalten kann.
Eine Organisation, die es nicht schafft, sich durch ihre Taten das Geld zu beschaffen, um die Waffen zu erneuern und die Kämpfer zu reproduzieren, muss aufgeben. Es findet in höchster Geschwindigkeit eine Selektion der effektivsten Organisationen statt. Der Weg vom ideologischen Dinosaurier zum modernen Raubtier ist in kürzester Zeit durchlaufen. Das, was wir als Organisation ansehen, erscheint dabei in sehr unterschiedlichen Formen, die zum Teil keine formalen Organisationen im soziologischen Sinn sind. Es mögen Netzwerke von Wir-Gruppen sein, die sich als Teil einer imaginierten Gemeinschaft sehen, oder so etwas Diffuses wie eine soziale Bewegung. Die Vielgestaltigkeit des gleichen Handlungszusammenhangs erleichtert dabei sein Überleben in sehr verschiedenen Kontexten.
Dass Bin Laden ursprünglich ein Hilfstruppenführer des amerikanischen Geheimdienstes CIA war, ist in diesen Tagen häufig hervorgehoben worden. In den letzten zehn Jahren wurde er zum warlord. Das brachte eine neue Qualität. Er trat nun als unabhängiger Akteur in den afghanischen Gewaltmarkt ein. Durch sein Kapital konnte er sich verlustreiche Gratis-Unternehmen leisten. Aber er verdiente auch Geld. Bin Laden produzierte spendenträchtige symbolische Gewalt, er verkaufte den Dienst an einer ideologischen Sache. Ideologie-Unternehmer haben andere Zielsuchsysteme als klassische Kriegsherren. Sie müssen die Welt der Symbole und deren raschen Wandel im Auge behalten. Wer keine überzeugenden Symbole trifft, verliert an Spendenzustrom. (Al-Qaeda bot auch andere Dienste an. Die Ermordung des Kriegsherren Massud im Auftrag der Taliban soll auf ihr Konto gehen.)
Am al-Qaeda-Ableger in Zentralasien dort Wahabis genannt lässt sich die Lernfähigkeit beobachten. Zuerst versuchten sie sich in der moralischen Aufrüstung der dortigen Muslime, indem sie die deren Form islamischer Rituale als heidnisch kritisierten. Der massive Unwillen ihrer Gebetspartner nötigte sie zum Rückzug. Als sie sich dann, toleranter geworden, auf eine Vigilanten-Rolle als selbst ernannte Ordnungshüter zurückzogen und Staatsdiener für "unislamische" repressive Akte bestraften, wurden sie wieder akzeptiert und konnten einheimische Kämpfer rekrutieren. Die Entfernung von der alten ideologischen Strenge, eine schleichende Entideologisierung, macht die Organisation nicht weniger gefährlich.
In China hatte ein solcher Evolutionsprozess historisch bedeutsame Folgen: Im Gewaltmarkt der dortigen Kriegsherren (vgl. "der überblick" 2/1995) entstand eine ideologisierte, weitgehend geheime Organisation, die nach einem langen Marsch und langen Krieg das Land veränderte: die chinesische kommunistische Partei. Mao Tse-tung war aus der Sicht seiner Zeit anfangs nur ein Kriegsherr unter vielen, der durch seine schlicht gestrickte Ideologie auffiel.
Auch in Afghanistan läuft eine Evolution unter beschleunigten Bedingungen. In diesem wie in anderen Gewaltmärkten werden alle möglichen politischen, kriminell-ökonomischen und ideologisch-religiösen Ziele und Organisationsformen ausprobiert. Die Ergebnisse sind nicht zu unterschätzen. Al-Qaeda bzw. "Bin Laden" ist das neueste Modell.
Die Ziele der Gewalt können wechseln wie die Konjunktur politischer Symbole von Stärke, Reichtum oder Freundschaft. Wer als Vormacht, Ausbeuter oder Bündnispartner der Feinde erscheint, muss fürchten, zum Ziel spektakulärer Aktionen zu werden. Russland, Indien und Frankreich haben konkreten Grund zur Sorge. Kein Land kann sich sicher fühlen.
Kriegsherren lernen rasch, dass sie vier Elemente brauchen, wenn sie nicht untergehen wollen: gute Waffen, hohe Truppenmoral, stabile Kommandolinien und Verbündete. Wir erschrecken über die unkonventionellen Waffen, bestaunen (und überschätzen) die Truppenmoral und rätseln über die Kommandolinien. Über die Verbündeten wird dagegen noch zu wenig geredet.
Bei der Wahl der Verbündeten und Geschäftspartner haben zumindest Teile von al-Qaeda alles Wählerische, das ihnen früher eigen war, abgelegt. Man bezieht mal in Zentralasien ein Flugzeug von Russen, teilt Transportkapazitäten mit tamilischen Rebellen und spricht mit Saddam Hussein, obwohl man dessen angeblicher Wiederentdeckung islamischer Wurzeln zutiefst misstraut. Die Netzwerkstruktur ermöglicht es, dass man an einem Ende mit chinesischen Staatsstellen Waffengeschäfte tätigt, während ein anderer, verbündeter Teil des gleichen Netzes in Sinkiang gegen den Staat der Waffenlieferanten Bomben legt. Wie die Taliban nutzt man staatliche Geheimdienste, zum Beispiel den des "westlichen" Pakistan, oder lässt sich von ihnen benutzen.
Als Behörden dürfen wir uns die Geheimdienste der schwachen Staaten nicht vorstellen. Wie auch in anderen Bereichen regiert in diesen Staaten nicht das Gesetz, sondern die Autorität der jeweils präsenten Chefs. Ihnen gilt die Loyalität. Geheimdienstmitarbeiter bekommen kein Gehalt, sondern beziehen ihr Einkommen aus illegaler Wirtschaftstätigkeit und Erpressung (daher "geheim"). Wer diese Verdienstmöglichkeiten schafft und garantiert, wird als Chef anerkannt. Die Ziele der Dienste und die der Staatenlenker können dauerhaft divergieren. Pakistan ist dafür ein Beispiel.
Zu den Veränderungen auf den Gewaltmärkten gehört auch die Stabilisierung der Terrororganisationen, die ideologische Opfer vermarkten. Neben der Ausbildung klandestiner Apparate fällt eine zunehmende Professionalisierung und Arbeitsteiligkeit der Terror-Organisationen auf. Man kauft Spezialisten ein, heuert kompetente Subunternehmen an oder schickt wie al-Qaeda Kämpfer in eine Spezialausbildung. Im Zuge der Professionalisierung erkannten diese Kräfte das Waffenpotenzial bestimmter ziviler Technologien. Der Katastrophen-Soziologe Charles Perrow hatte schon vor 15 Jahren warnend auf die waffengleiche Instrumentalisierbarkeit bestimmter komplexer Technologien hingewiesen. Der Terror kam später als erwartet. Zur technologischen Verfügbarkeit musste sich erst die arbeitsteilige Organisation entwickeln, die diese schreckliche Nutzung möglich machte.
Ideologieproduzenten, Finanzexperten, Gewaltspezialisten und andere bildeten in der Entwicklung der Gewaltmärkte zunehmend eigene Stäbe oder eigene Organisationen aus. Von der Mafia kennen wir schon länger eine ähnliche Arbeitsteilung. Sie hat es schon vor Bin Laden und vor den Taliban geschafft, die notwendigen Dienstleistungen von staatlichen Nachrichtendiensten und Polizeiapparaten zu erstehen.
Netzwerke sind in unserer Strafrechtslogik schwerer zu erfassen als hierarchische Organisationen. Wer in der Vernetzung der al-Qaeda das Kommando hat, ist nicht eindeutig zu sagen. Je nach Perspektive kann die kommandierende Spitze sehr verschieden aussehen: ein Agitator wie Osama Bin Laden, ein Organisator wie Aymad Mughniya (Attentatsspezialist aus dem Libanon), ein Kommunikations- oder Technikexperte, der noch im Schatten steht, ein Truppenführer wie Nasir Ahmed Mudschahed (der in Afghanistan für al-Qaeda spricht) oder ein staatlicher Apparat aus einem anderen Land.
Ideologische Unternehmen können eine besondere aber auch hoch ambivalente Ressource in Gewaltmärkte einbringen, um die sie andere Gewaltunternehmer beneiden: die Begeisterung einer charismatischen Bewegung. Berichte von Teilnehmern an Ausbildungslagern anderer internationaler Geheimorganisationen lassen Schlüsse auf die Lager der al-Qaeda in Afghanistan zu. Man erlebt subjektiv eine große Zeit; das große Ziel lässt die Probleme des Alltags zurücktreten. Dadurch fühlt man sich leicht, man ist entlastet. Brüderlichkeit, nicht Hierarchie, bestimmt die sozialen Beziehungen. Die Undurchschaubarkeit der Zukunft lichtet sich durch die Worte des Guru. Man gewinnt Freunde fürs Leben, denen man sich auch verbunden fühlt, nachdem man das Lager verlassen hat.
Das große Problem der charismatischen Bewegungen ob religiös oder atheistisch ist der Moment, in dem Teilnehmer die Prophezeiung als fehlgeschlagen erleben. Kämpfer erleben die sich angeblich dem großen Ziel widmenden "Brüder" als selbstsüchtige Intriganten (so geschehen in Bin Ladens sudanesischem Lager), sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Feind nicht so dämonisch ist, wie verkündet (so einige RAF-Kämpfer angesichts von Richtern mit Augenmaß), oder der erwartete Endsieg kommt nicht. Diese Krise überleben die meisten Bewegungen nicht. Einige aber schaffen es, zur Organisation zu werden, indem sie den Selbsterhalt in den Vordergrund rücken und zugleich die Mobilisierung auf Dauer stellen, indem sie diese kreativen Agitationsspezialisten in die Hände legen.
Das Finanzmanagement der Kriegsherren hat sich am radikalsten verändert. Während chinesische Kriegsherren in den zwanziger Jahren noch Edelmetallbarren und Dollarscheine horteten und afrikanische in den Siebzigern noch Diamanten gegen Waffen mit den gleichen Partnern tauschten, haben heute alle Kriegsherren, über die wir Genaueres wissen, eigene Markt- und Finanzexperten. Sie beobachten die Märkte, diversifizieren die Handelspartner und legen das Geld lukrativ an. Im Fall der Tamil Tigers und dank dem New Yorker Prozess zu al-Qaeda gibt es genauere Einblicke. Das Kapital wird nicht nur in Gewaltmitteln angelegt. Investitionen im Transportgewerbe oder Investmentfonds ermöglichen es, die Organisation auch über Flauten hinweg flüssig zu halten. Wer sogenannte Schurkenstaaten als zentrale Finanzplätze vermutet, liegt wahrscheinlich falsch. Das Wenige, was wir präzise wissen vor allem über Kriegsherren aus Somalia und dem Kaukasus (zum Teil Partner von al-Qaeda) ist, dass sie relativ konventionelle Finanzplätze auf der arabischen Halbinsel, in Nordamerika, Lichtenstein und Zypern bevorzugen. Ähnlich der organisierten Kriminalität suchen sie die Sicherheit eines ordentlichen Wirtschaftsrechts.
Das beliebteste Schlüsselwort zur Beschreibung der staatenlosen Gewalt des 11. September ist "Hass". Das schöne an "Hass" ist, dass mit einer Silbe schon alles erklärt ist. Gewiss, in den Texten der al-Qaeda finden sich auch Spuren einer Inszenierung von Hass. An direkten Belegen fehlt es aber. Im Gegenteil: Soweit uns die Attentäter bekannt sind, waren sie gerade nicht unmittelbare Opfer vorhergehender US-amerikanischer Angriffe. Sie gehörten nicht zu den "Verdammten dieser Erde". Ihre Familien haben von dem Welthandel, den das World Trade Center repräsentiert, eher profitiert als unter ihm gelitten. Das Ziel der Gewalt jener Zellen, die später al-Qaeda bildeten, war nicht klar fixiert, sondern wandelte sich im Laufe der Jahre. Mal war es die ihnen verräterisch erscheinende Außenpolitik Ägyptens, mal die Innenpolitik Saudi-Arabiens, mal die russische Präsenz in Afghanistan. Die große gewaltsame Wirkung ihrer Taten zeugt von kühler strategischer Planung und gerade nicht von heißer Emotion. Diese Kühle ist das zentrale Problem. Wenn aber die Beschreibung der Täter als irrational und dogmatisch falsch ist, kann auch die darauf basierende Strategie scheitern.
Mit Vergeltung zu drohen, ist nahe liegend. Russland erprobte in Tschetschenien diese Strategie. Derzeit probiert Israel diesen Weg aus. Seit der zweiten Intifada werden regelmäßig doppelt so viele Palästinenser getötet, wie die Terroristen selbst hatten ermorden können. Dieses Vorgehen wird dadurch vervollkommnet, dass man besonders die Palästinenser zu treffen sucht, die durch Führungsqualitäten oder Organisationstalent aufgefallen waren.
Das Ergebnis dieser Strategie sollte andere Staaten nicht gerade ermutigen. Auch frühere Versuche, Guerillabewegungen mit derartigen Methoden zu bekämpfen, waren wenig erfolgreich. Einige Attentäter konnten zwar getötet werden, und die Mehrzahl der Angehörigen von Racheopfern hat in ihrer Niedergeschlagenheit nicht einmal Rachedurst. Eine Minderheit von Angehörigen jedoch wird motiviert und kämpft nicht minder engagiert weiter. Diese Wirkung kann von einer Terrororganisation sogar eingeplant sein. Sie benötigt den Gegenschlag als Mobilisierungshilfe.
Der Organisationsspezialist Imad Mughniyeh, dem eine führende Rolle im Überschneidungsbereich von al-Qaeda und libanesisch-palästinensischem Terrorismus zugeschrieben wird, hat zwei Brüder und möglicherweise weitere Verwandte bei solchen Vergeltungsschlägen verloren. Es scheint als habe er nach dem ersten Schlag auf seine Familie aufgeben wollen; nach dem zweiten jedoch wurde er zum Vollprofi. Er wird wegen der Attentate des 11. September gesucht. Wenn ein Ziel von Gewalttätern darin besteht, zu Märtyrern zu werden, wirkt gerade tödliche Rache kontraproduktiv. Für die Führer gilt: Ein Tod im Kampf oder die Todesstrafe würde sie zu unsterblichen Märtyrern machen.
Ein auf den ersten Blick nicht minder überzeugender Vorschlag ist der, man solle "die dahinter liegenden Konflikte beseitigen". Beseitigen? Soll man zum Beispiel die Palästinenser aussiedeln? Oder doch die Israelis? Das ist politisch wie soziologisch naiv. Konflikte kann man nicht beseitigen, man kann sie nur kleinarbeiten und dadurch gewaltfrei gestalten. Die moderne Soziologie legt uns mit Dahrendorf und Luhmann sogar etwas paradox Erscheinendes nahe: den Konflikt zu institutionalisieren. Das heißt, Regeln für das gewaltlose Austragen von Interessengegensätzen schaffen und dadurch das Konfliktgeschehen vorhersehbarer machen. Dadurch wird dem Konflikt das Bedrohliche genommen. Konkurrenz und Debatte werden zu normalen und friedlichen Handlungen, zu Wettbewerb.
Nehmen wir das Verhältnis der früheren "Erbfeinde" Deutschland und Frankreich. Kein Tag vergeht, in dem sich nicht ein französischer Hersteller über einen deutschen Konkurrenten ärgert, ein Deutscher mit dem Kopf gegen ein französisches Immobiliengesetz läuft, ja sogar Franzosen in Deutschland bei Vergehen ertappt werden oder Deutsche in Frankreich Verbrechen begehen. Es wird sogar gemutmaßt, französische Unternehmer hätten führende deutsche Politiker bestochen. Besteht deswegen ein französisch-deutscher Konflikt? Oder wird etwa zu einer deutsch-französischen Intifada aufgerufen?
Direkt nach oder schon während einer Befriedung und das heißt: Durchsetzung eines Gewaltmonopols muss der Aufbau von Institutionen der nächste Schritt sein. Durch Institutionen für Konfliktregelung müssen Konflikte veralltäglicht und kleingearbeitet werden. Wird dieses sozialwissenschaftliche Basiswissen über die Bedeutung des Gewaltmonopols in seiner rechtsstaatlichen Form hier in Europa auf dem Balkan beherzigt? Stärken wir nicht bisweilen das Gewaltmonopol einer Klasse von Militärs, Polizisten und politischen Unternehmern, die jedes Gericht an die Wand (oder in den Fluss) drücken?
Immer dann, wenn unsere Politiker zu einer wichtigen Besorgung aufbrechen, melden sich viele, die ihnen noch schnell etwas auf den Einkaufszettel schreiben möchten. Armutsbekämpfung taucht so wieder als Thema auf. Ein hehres Ziel. Niemand kann dagegen sprechen. Da wir alle gerne zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen möchten, wurde von Wissenschaftlern schon öfter untersucht, ob Armut und Gewalt zusammenhingen. Überraschenderweise ist das Ergebnis der empirischen Forschungen nicht die von vielen erwartete klare Bestätigung des Zusammenhangs. Es gibt schon gemeinsame Ursachen von Armut und Gewalt. Unbestreitbar ist aber auch, dass eine Steigerung des volkswirtschaftlichen Reichtums erst einmal das Gewalt-Niveau anhebt. Es wächst nicht nur die Begehrlichkeit, die Mittel zur Gewalt werden leichter zugänglich. Besonders dann, wenn mit intensiverem Warenaustausch die Institutionen der Konfliktregelung nicht mitwachsen, steigt die Gefahr.
Die überwältigende Mehrheit derer, die sich öffentlich äußern, ist für eine Bestrafung der Gewalt-Täter. Diejenigen, die sich per Resolution in deutscher Sprache äußern, fügen immer hinzu, dass aber keine militärischen Mittel verwandt werden dürfen. Das klingt souverän und machbar und wird daher meist gleich an den amerikanischen Präsidenten oder den deutschen Außenminister adressiert.
Es ist richtig, dass Gewalt nicht durch Rache bekämpft werden kann. Aber die Gewalt, welche die Täter für sinnvoll halten, endet erst dann, wenn sie günstigere Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen sehen und/oder wenn ein Gewaltmonopol durchgesetzt wird. Ein politischer Akteur, genauso wie ein Räuber, wird sich die Pistolenkugel nur sparen, wenn man seine Forderung unverzüglich voll erfüllt, ihm sein Geld gibt oder wenn ihn eine andere Instanz mit ihrer Gewalt zum Verzicht zwingt. Zwang ist die (unsichtbare) Randbedingung der Friedfertigkeit. Diese Logik, eine polizeiliche Logik, gilt für Individuen wie für Kollektive.
Die Durchsetzung eines Gewaltmonopols erfordert, dass die erzwingende Gewalt als Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. Das ist die Logik des rechtsstaatlichen Gewaltmonopols die Position des Jurizismus , wenn man so will. Der Jurizismus schiebt sich zwischen den Bellizismus und den Pazifismus. Aber wie allen aus sozialwissenschaftlich-historischem Erfahrungswissen gewonnenen Positionen fehlt ihr die strahlende Schlichtheit, die Bellizismus und Pazifismus auszeichnet. Es ist eine polizeiliche, nicht eine militärische Logik, sie nimmt damit ein Stück Alltagswissen der Zivilgesellschaft auf. Aber kein ernsthafter Analytiker darf verschweigen, dass auch polizeiliche Logik unter Umständen Waffen manchmal sogar schwere, das heißt: militärische Waffen erfordert. Und diese sollten nicht von autonomen Hilfstruppen sondern von Profis gehandhabt werden, die den Nationen, die sie entsenden, verantwortlich sind.
Selbst dann, wenn man nur von außen durch Boykott Druck auf ein Land ausüben möchte, ist eine Erzwingung erforderlich. Dies zeigen uns Versäumnisse auf dem eigenen europäischen Kontinent. Dass den Waffen- und Treibstoff-Schmugglern nach Bosnien nur selten bewaffnete Grenzer und Zöllner entgegentraten, verlängerte den Krieg um mindestens ein Jahr und damit um gut 100.000 Tote. Wer kriminellen oder politischen Unternehmern, die zu ihrer Reproduktion auf Gewalt angewiesen sind, entgegentreten will, kann selbst auf Gewalt als Möglichkeit nicht verzichten.
Dass nicht der Islam, sondern ein Teil der relativ kleinen Minderheit der Islamisten Gewalt religiös überhöht, wird von allen Autoren hervorgehoben. Dass sich diese Erkenntnis dennoch vielen Menschen nicht einprägen will, liegt daran, dass wir die Ursachen der Gewalt gerne in etwas Fernem sehen würde. Dass Gewalt eine Ausfall-Option ist, die hinter jeder Ordnung liegt, ist eine bedrohlichere Vorstellung als die Exotisierung der Gewalt als Produkt eines fremden Glaubens.
Gegen einen Aufruf zum Dialog kann man daher nichts einwenden. Es ist immer besser, Menschen mit fremden Gedanken zuzuhören. Das Zuhören und potenziell das Lernen sollte im Eigeninteresse jeder Seite liegen. Als Beitrag zur Gewaltdämpfung wird vom Dialogverfahren jedoch zu viel erwartet. Das Manipulieren und Umfunktionieren religiöser Vorstellungen und nicht die Grundwerte sind das Problem. Wie man funktionalisiert und umwertet, können wir gut an historisch abgeschlossenen Fällen sehen: zum Beispiel an der Ideologie des totalen Krieges. Nicht ein arabischer Muslim, sondern der christliche Berliner Theologe Reinhold Seeberg entwickelte sie. Kurz darauf, am 7. Mai 1915, wurde sie erstmals praktiziert. Ein Passagierdampfer, die Lusitania, mit 1200 Passagieren, darunter Frauen und Kinder aus den damals noch neutralen USA, wurde versenkt. Später mobilisierte Joseph Göbbels für den totalen Krieg. Das Ende dieser Ideologie kam nicht durch Dialog, sondern durch die gewaltsam durchgesetzte Veränderung der politischen Verfassung.
Wie rasch Ideologien in und über Religion nicht nur zerbrechen, sondern auch wachsen können, lässt sich im Nahen Osten studieren. Die erste Welle der palästinensischen Gewalt in den siebziger Jahren wurde von nicht-religiösen und antireligiösen Kräften getragen. Sie stammten zu einem entscheidenden Teil aus christlich-palästinensischen Familien und/oder waren von atheistischen Lehrern erzogen worden. Gegen diese von al-Fatah, Democratic Front for the Liberation of Palestine (DFLP) und ähnlichen Organisationen repräsentierten laizistischen Kräfte stärkte Israel aktiv die streng religiösen islamischen Organisationen. Die Führer der islamistischen Hamas sind dem israelischen Geheimdienst noch von der damaligen Kooperation her bekannt.
Es gibt durchaus Optionen gegen diese Gewalt, die auch dem skeptischen Blick der empirischen Sozialwissenschaften standhalten: Weitaus weniger naiv als das Vorherige ist der unscheinbare Vorschlag, die Finanzierung der illegalen Gewalt zu untergraben. Dass dieser Weg nicht schon früher gesucht wurde, überrascht auf den ersten Blick. Nachdem in Somalia US-amerikanische Friedenskräfte von dortigen Kriegsherren ermordet wurden, hätte man erwartet, dass zumindest deren Konten in westlichen Ländern blockiert würden. Auch nach Bin Ladens Attentaten in Kenia und Tansania blieben seine Investitionen unbehelligt. Das Problem war bisher offensichtlich, dass die zum finanziellen Austrocknen der Gewaltmärkte notwendigen Maßnahmen auch manchen friedlichen und wohlangesehenen Waffenlieferanten, Diamanten-Händler und genauso den harmlosen Steuerhinterzieher und Umwege suchenden Parteispender getroffen hätten.
Kostspieliger ist eine Option, die an die Finanzblockade anschließen könnte: im Bündnis mit den Opfern der Gewalt durch äußere Intervention ein Gewaltmonopol errichten. Das historische Modell der Bekämpfung des Sklavenhandels war nicht nur ein "imperialistischer Akt". Wir werden diskutieren müssen, ob der Schutz fremder Menschen vor Gewalt und die Durchsetzung von Menschenrechten nicht auch in unserem Eigeninteresse liegen. Diese Ziele brauchen einen langen Atem und eine Selektivität bei der Wahl der Partner. Die Intervention gegen die Kriegsherren in Somalia wurde den westlichen Mächten zu teuer. Bin Laden, der dort einige kämpfende Beobachter hingeschickt hatte, schilderte dem britischen Journalisten Robert Fisk, wie motivierend für ihn die Erfahrung des amerikanischen Rückzugs war. Soll sich das wiederholen?
Ob das Gewaltmonopol von einem Rechtsstaat ausgeübt wird oder von einer privilegiengierigen Organisation ist von entscheidender Bedeutung. Die westlichen Staaten und die nicht minder bedrohten der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) könnten sich zur Bekämpfung des Terrorismus auch im aktuellen Konflikt wieder auf durch Ideologie und/oder Erwerbssinn motivierte preiswerte ausländische Hilfstruppen oder technisch effiziente und zugleich arrogante Prätorianergarden stützen. Die Erfahrungen des Westens mit den Taliban in Afghanistan waren kein Einzelfall. Die Russen trafen in Tschetschenien auf von ihnen noch kurz zuvor in Abchasien gegen den georgischen Staat geförderte Streitkräfte; nun als Feinde. Auch wenn sich das spätrömische Reich mit solchen Lösungen lange halten konnte, die Erfahrungen der jüngsten Zeit sollten uns warnen. Jede Kooperation zwischen Partnern braucht klare Konditionen; dies gilt gerade dann, wenn wie in Pakistan ein solcher Partner die Hand über eigene Atomwaffen hält. Aus den russischen Erfahrungen in Tschetschenien könnten wir lernen: der Verzicht auf rechtsstaatliche Institutionen, die sich auch gegen Übergriffe der verbündeten Milizen und der eigenen Truppen hätten wenden müssen, kostete den russischen Staat die Sympathien der Kräfte, die ihn ursprünglich gegen die Rebellen unterstützt hatten.
Wir müssen erkennen, dass die moralische Indifferenz, in der wir mit unsern autoritären Partnerländern kooperieren, uns selbst gefährdet. Dies gilt nicht nur für den arabischen Raum. Das freundlich diplomatische Lächeln, das wir den Autokraten zuwerfen, die Entwicklungshilfe, mit der wir korrupte Apparate schmieren, erscheinen aus der Sicht der Oppositionellen als zynisches Grinsen und willentliche Unterstützung. Diplomatische Zurückhaltung als Prinzip, wohlmeinende Motive der Entwicklungshilfe und mangelnde Kohärenz bei deren Umsetzung können sie nicht wahrnehmen; in Staaten ohne Rede- und Pressefreiheit erscheinen die Probleme der großen Welt nur als einfache Schemata. Wenn wir die Gewaltmärkte austrocknen wollen, müssen wir dazu beitragen, das Personalreservoir in den autoritären Staaten aufzulösen. Die repressive Option der dortigen Eliten hat versagt. Die dortigen Demokraten sollten unsere Partner sein.
Die präventive Festsetzung und (gewaltsame) Entwaffnung von Leuten, die einen Massenmord vorbereiten, gilt in jeder Gesellschaft als legitim. Da man auch einen Einzel-Mörder aufhalten dürfte, ist die ethische Seite banal. Sie ist so selbstverständlich, dass das Etikett des Präventivschlags auch für Anderes in Anspruch genommen wird. Glücksritter und glücklose Behörden werden jetzt viel Geld hierfür einsammeln können. Auch der spektakuläre aber langfristig wirkungsarme Schlag wird so genannt werden.
Vergessen wir nicht, dass genaue und zuverlässige Informationen die wichtigste Voraussetzung erfolgreicher Terrorbekämpfung sind. Nachrichtendienste, die die Welt durch ein ideologisches Raster wahrnehmen, haben die gleiche Schwäche wie Terrororganisationen, die aus selbstgeschaffenen Isolaten heraus wirken. Ohne die Überwindung der Nachrichtenschwäche wird es kaum Erfolge geben.
Wer die Terroristen überwinden will, muss sie nicht nur verurteilen, er muss sie auch so merkwürdig das klingt verstehen. Ein guter Kriminalist vollzieht die Rationalitätslinien ihres Handelns von innen nach. Dabei müssen wir uns von der Perspektive der großen Nationalstaaten lösen. Nicht das, was hier diskutiert wird, ist relevant, sondern wie man die Welt erfährt, wenn man in einem der von Gewalt zerfurchten Randgebiete lebt. Diese "schwarzen Löcher" sind Territorien, wo kein staatliches Gewaltmonopol greift. Es sind die Zonen der sogenannten Bürgerkriege bzw. "Gewaltmärkte" wie in Afghanistan, Tschetschenien, Kolumbien, Somalia, dem Kongo mit Ruanda, dem Sudan oder Teilen des Balkan , auf denen hinter ideologischen Nebelwänden mit Raub, Schutzgelderpressung, Geiselnahme und Schmuggel Geld gemacht wird. Von dort sandte uns jetzt al-Qaeda Terroristen. Aus diesen Räumen können noch mehr Angriffe kommen.
Mit dem 11. September 2001 beginnt eine neue politische Epoche. Aber was für eine Epoche? Etwas wurde entscheidend verändert: das Sicherheitsgefühl, die Einstellung zur Welt. Es könnte eine Epoche stärkerer Fluktuationen und Ausschläge werden. Die Lernfähigkeit der Terroristen macht die Auseinandersetzung schwierig. Es könnte aber auch zu einer Verknüpfung der Sicherheitsinstitutionen kommen, die der tatsächlichen wechselseitigen Abhängigkeit der Länder der Welt entspricht. Die Ausschläge würden gedämpft. Grund zu Hoffnung gibt es: Lernfähigkeit ist auch die Stärke der Demokratien.
Weitere Hintergrundinformationen enthalten die "überblick"-Hefte über Warlords (2/95), religiösen Fundamentalismus (4/96 und 1/97) und Extremismus in der Diaspora (2/2001)
aus: der überblick 03/2001, Seite 5
AUTOR(EN):
Georg Elwert:
Dr. Georg Elwert ist Professor für Ethnologie und Soziologie an der Freien Universität Berlin. Er ist Mitherausgeber aund Autor des 1999 erschienenen Buches "Dynamics of Violence" (Duncker & Humblot).