In Konkurrenz zu den Muslimbrüdern
Wer heutzutage in Ägypten seine Arbeit verliert, arbeitsunfähig oder krank wird, muss sich auf einen sozialen Absturz oder ein drastisches Sinken seines Lebensstandards einstellen. Zwar gibt es seit einigen Jahren Kranken-, Arbeits- und Sozialversicherungen, doch sind die ausgezahlten Leistungen so gering, dass niemand davon leben kann. Eine Reihe informeller Sicherungssysteme füllt die Lücken zum Teil. Eine wichtige Rolle spielen religiöse Vereinigungen, die das soziale Engagement mit religiösen und politischen Zielsetzungen verbinden.
von Monika El Shorbagi
Umm Karim lebt in einem Viertel, das illegal auf Land gebaut wurde, das dem Gouvernorat (Stadtbezirk) von Kairo gehört. Die Wohnungen hier sind billig und die Leute helfen sich gegenseitig. Vorher wohnte Umm Karim in Waily, einem anderen, etwas besseren Kairoer Stadtviertel. Ihr Mann arbeitete als Angestellter in der Stadtverwaltung von Kairo. Nach der Arbeit fuhr er Taxi. Doch dann hatte er einen Unfall und verlor dabei ein Bein. Seitdem ist er arbeitslos – eine Katastrophe für die Familie. Neben dem ältesten Sohn, der schon in die neunte Klasse geht, müssen noch zwei kleine Kinder versorgt werden. Alles lastet nun auf den Schultern von Umm Karim. "Mein Mann konnte sich etwa ein Jahr lang nicht bewegen, sodass ich die Kinder nicht bei ihm lassen konnte. Unsere Familien leben beide in Oberägypten. Ein Kollege vermittelte uns einen kleinen Laden und eine billige Wohnung hier in Manshiet Nasser. Wir verkauften das Taxi und richteten einen kleinen Lebensmittelladen ein. Karim setzte ein Jahr in der Schule aus und half mir im Laden, bis mein Mann endlich seine Pension bekam." Vom Staat bekommt ihr Mann lediglich 124 ägyptische Pfund im Monat. Ein ägyptisches Pfund sind etwas weniger als 50 Pfennig. Mit drei Kindern reicht diese geringe staatliche Rente unmöglich zum Überleben. "Gott sei Dank", sagt Umm Karim, "haben wir noch die Einnahmen aus dem Laden."
Krisen wie der Verlust des Arbeitsplatzes, Krankheit, Tod oder Invalidität haben schnell den sozialen Absturz oder zumindest eine empfindliche Senkung des Lebensstandard zur Folge. Das ist in Ägypten nicht anders als in Europa. In Ägypten gibt es zwar ein Sozialversicherungssystem, das in seinen Kernelementen ähnlich wie das deutsche aufgebaut ist. Anders als in europäischen Staaten ist die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme jedoch gering. Sie gewährleisten den Versicherten keinen angemessenen Lebensstandard im Alter, bei Krankheit oder Invalidität. Dies hängt vor allem mit dem allgemeinen Einkommensniveau zusammen. Weil die Löhne in Ägypten sehr niedrig sind, sind auch die Beiträge, die in die Versicherung eingezahlt werden, niedrig. Entsprechend gering sind auch die zu erwartenden Auszahlungen.
Zwischen Anfang der achtziger und Ende der neunziger Jahre ist der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Bevölkerung in Ägypten von knapp 30 auf 48 Prozent gestiegen. Gründe dafür sind zum Beispiel die Auswirkungen der Strukturanpassung, der Abbau staatlicher Subventionen, die gestiegene Arbeitslosigkeit und die immer geringer werdenden Möglichkeiten, in den reichen Golfstaaten Arbeit zu finden.
Arme Familien sind dem sozialem Absturz weitgehend ungeschützt ausgesetzt. Denn wer ein niedriges Einkommen hat, verfügt meist auch kaum über Besitz, auf den er im Krisenfall zurückgreifen könnte. Durch den Verkauf der wenigen Besitztümer wie Haushaltsgeräte, kleine Maschinen oder Fahrzeuge können manche die Folgekosten von Unfällen oder langer Krankheit kurzfristig auffangen. Der Verkauf des Taxis oder der Werkzeuge führt jedoch gleichzeitig zum Verlust der Existenzgrundlage. Ein Teufelskreis, den nur eine ausreichende, staatlich organisierte Absicherung durchbrechen könnte. Aber bei rund 30 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist die Einrichtung umfassender staatlicher Sozialhilfeprogramme, die einen minimalen Lebensstandard garantieren, nicht finanzierbar.
In diese Lücke stoßen immer mehr private Initiativen, nichtstaatliche Organisationen (NGOs) und Wohlfahrtsvereine. Sie bieten dort Unterstützung an, wo formale Sicherungssysteme versagen und traditionelle Solidaritätsformen nicht mehr greifen. Die meisten von ihnen sind religiös motiviert und orientieren sich an traditionellen Wohlfahrtsmodellen. Viele an Kirchen und Moscheen angeschlossene Vereine bieten Unterstützung für die Ärmsten der Armen und helfen in Notsituationen. Manchmal verstecken sich hinter sozialen Angeboten jedoch auch politische Ziele. Man versucht, die Empfänger sozialer Unterstützung für die Politik islamistischer Gruppen zu gewinnen. Andere Organisationen, die nach dem Vorbild internationaler NGOs gegründet wurden, werden oft von ausländischen Gebern wie zum Beispiel der staatlichen amerikanischen Entwicklungsagentur US Agency for International Development (USAID) oder auch der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert. Sie verbinden Armutsbekämpfung zumeist mit weitergehenden Entwicklungszielen. Doch auch hier gibt es Probleme. Die Ausrichtung der Programme ist manchmal stärker an den Modethemen und Methoden der internationalen Entwicklungsdiskussion orientiert als an den Prioritäten der Zielgruppe. Diejenigen, die sie konzipieren, gehören meist der ägyptischen Elite an und sind oft selbst nicht vertraut mit der Lebens- und Denkweise derjenigen, für die die Unterstützung gedacht ist. Daher werden diese Angebote nicht immer dankbar angenommen.
Dass die zunehmende Armut noch nicht das erschreckende Ausmaß von Ausweglosigkeit angenommen hat, wie sie in anderen Entwicklungsländern etwa in Lateinamerika zu beobachten ist, liegt an der in Ägypten vorzufindenden Kombination formaler Sicherungssysteme, traditioneller Solidarität, informeller gegenseitiger Unterstützung und Angeboten von NGOs. Hinzu kommt, dass in Ägypten immerhin überhaupt ein Sozialversicherungssystem existiert, auch wenn dieses unzureichend ist.
Ansätze einer gesetzlichen Sozialversicherung gehen in Ägypten bis ins 19. Jahrhundert zurück. Schon 1854 wurde Beamten per Gesetz eine Pension zugesichert. In den 1930er Jahren wurde eine Unfallversicherung für Arbeiter in größeren Fabriken eingeführt. In den fünfziger und sechziger Jahren weitete man das Versicherungssystem schrittweise aus. Seit 1964 gibt es eine gesetzlich vorgeschriebene Krankenversicherung für alle Beschäftigten in Betrieben und Institutionen mit mehr als 100 Angestellten. 1975 wurde dann die allgemeine Sozialversicherung für alle Beschäftigten eingeführt. In ihr sind Beamte, Angestellte und Arbeiter im staatlichen wie im Privatsektor versichert. Für Selbstständige und im Ausland arbeitende Ägypter gibt es eine freiwillige Sozialversicherung, die weitgehend nach denselben Prinzipien organisiert ist.
Die Kernelemente der Sozialversicherung orientieren sich an der bismarckschen Sozialgesetzgebung. Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich die Beitragszahlungen, die prozentual auf der Grundlage der Löhne berechnet werden. Die Anteile sind jedoch niedriger als in Deutschland. Der Arbeitgeber zahlt 17 Prozent des Grundlohns und 15 Prozent der variablen Zusatzprämien, die in Ägypten oft genauso hoch sind wie die Grundlöhne selbst. Der Arbeitnehmer zahlt 13 beziehungsweise 10 Prozent. Der Staat trägt jeweils 1 Prozent bei. Nach mindestens zehn Jahren Beitragszahlung hat der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Altersrente erworben, die auf der Grundlage der eingezahlten Beiträge errechnet wird. Außerdem ist er gegen Unfälle, Invalidität und die Kosten des Todesfalls für die Angehörigen versichert. Im Fall seines Todes wird die Rente auch an Witwen, unmündige Söhne, unverheiratete Töchter und in bestimmten Fällen auch an Eltern oder Geschwister weitergezahlt.
Daneben besteht die Möglichkeit, die gesetzliche Sozialversicherung durch private Versicherungsfonds zu ersetzen. Deren Beiträge und Leistungen sind in der Regel höher als die der allgemeinen Sozialversicherung. Viele Berufsverbände bieten außerdem private Zusatzversicherungen an. Davon profitieren jedoch vorwiegend höher qualifizierte Arbeitnehmer. Ergänzt wird die Sozialversicherung von der gesetzlichen Krankenversicherung, in der alle Arbeiter und Angestellten, nicht jedoch ihre Familien, versichert sind. Daneben gibt es eine Reihe von Sozialhilfeprogrammen für Witwen, Waisen, Geschiedene, Invalide, Behinderte und Familien von Gefangenen.
Für diejenigen, die aus der allgemeinen Sozialversicherung herausfallen, wurde 1980 die sogenannte umfassende Sozialversicherung eingeführt. Sie richtet sich in erster Linie an Zeitarbeiter, Kleinstbauern und Beschäftigte mit geringfügigen Einkommen und wird vorwiegend aus staatlichen Zuschüssen finanziert. Die Versicherten zahlen eine Pauschale von einem ägyptischen Pfund, das sind umgerechnet rund 50 Pfennige pro Monat.
Im Haushaltsjahr 1996/97 bezogen jedoch weniger als eine viertel Million Antragsteller Sozialunterstützung. Dies legt die Vermutung nahe, dass viele, die Anspruch hätten, sich aufgrund der niedrigen Zahlungen erst gar nicht der zeitraubenden Prozedur der Antragstellung unterziehen. Bei der Sozialversicherung führen die geringen Leistungen dazu, dass viele Arbeiter wenig Wert darauf legen, sich überhaupt zu versichern. Einvernehmlich versuchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Beiträge so niedrig wie möglich zu halten. Oft wird nur ein Bruchteil der tatsächlichen Löhne im Arbeitsvertrag festgeschrieben. Vor allem in kleineren Betrieben werden Arbeitsverträge häufig nur mündlich vereinbart und überhaupt nicht gemeldet. Dadurch gehen der Sozialversicherung jährlich Millionen ägyptische Pfund verloren. Dasselbe gilt für die Krankenversicherung. Obwohl im Prinzip alle Behandlungskosten übernommen werden, ist die Qualität der Leistungen in vielen Fällen unzureichend. Die Kassenärzte sind überlastet, Untersuchungen werden nur oberflächlich durchführt. In den staatlichen Krankenhäusern müssen Verwandte Verbandsmittel, Medikamente und Mahlzeiten selbst besorgen.
Eine Arbeitslosenversicherung fehlt ganz. Arbeitslosigkeit trifft vor allem junge Ägypter, die neu auf den Arbeitsmarkt drängen. Von den 1,4 Millionen Arbeitslosen, die in der letzten offiziellen Studie zur Arbeitslosigkeit genannt werden, sind über 90 Prozent unter 30 Jahre alt. Pro Jahr müssten in Ägypten alleine 500.000 bis 600.000 Arbeitsplätze geschaffen werden, damit die jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Arbeit hätten. Das Problem wird durch die Privatisierungspolitik der Regierung verschärft, die zu zusätzlichen Entlassungen aus unrentablen Staatsbetrieben führt. Für entlassene Arbeiter und Angestellten werden zwar in der Regel Sozialfonds eingerichtet. Die Arbeitslosen sollen durch Abfindungen und Kredite dazu ermutigt werden, sich selbstständig zu machen. Doch wird nicht jeder Arbeiter zum erfolgreichen Kleinunternehmer, wenn er nur genügend Startkapital hat. Was machen die Ägypter also, wenn die staatliche Versicherung keine ausreichende Absicherung in Krisen bietet?
Umm Karim erzählt von ihrer gamaiya, ihrem Sparverein: "Jeden Monat zahle ich 50 Pfund in eine gamaiya. Dieses Geld ist für Krisen oder für besondere Anlässe. Wenn etwas übrig ist, kaufe ich Gold, das ich in Krisen notfalls verkaufen kann." Die meisten Ägypter sind Mitglied in einer gamaiya. In diesen Sparvereinen schließen sich Freunde, Nachbarn oder Kollegen zusammen, um besondere Anschaffungen oder die Ausrichtung einer Hochzeit zu finanzieren. Jedes Mitglied zahlt monatlich einen bestimmten Betrag. Die gesamte Summe wird reihum nach einer vorher festgelegten Reihenfolge ausgezahlt. Wenn ein Mitglied jedoch unerwartet in eine Krisensituation gerät, springen die Mitglieder der gamaiya ein.
Umm Karim hat gute Erfahrungen mit ihrem Sparverein gemacht: "Als Karim (ihr Ehemann) für eine Operation ins Krankenhaus musste, habe ich einen Teil meines Goldes verkauft. Als ich wieder einen größeren Betrag aus der gamaiya bekam, habe ich davon wieder Gold gekauft. Für alles Geld aus der gamayia, das übrig ist, kaufe ich Dinge für die Aussteuer meiner Töchter. Ich habe damit schon angefangen, als sie noch ganz klein waren. Obwohl eigentlich die Söhne im Alter für ihre Eltern sorgen müssten, weiß man heute nie, was das Leben so bringt. Töchter sind manchmal viel großzügiger. Ich möchte daher, dass sie gut versorgt sind."
Die allgemeine Konsumorientierung und die zunehmende Anonymität in den Städten führen zur langsamen, aber doch fortschreitenden Auflösung der traditionellen Solidarstrukturen. Längst prägt die städtische Kleinfamilie die Gesellschaft, die generationenübergreifende Wirtschaftsweise gibt es nur noch selten. Traditionelle Formen familiärer und religiös motivierter Unterstützung spielen in Ägypten dennoch nach wie vor eine wichtige Rolle. Die Aufgabe, sich um die Armen und sozial Schwachen in der Familie, aber auch der näheren Umgebung zu kümmern, ist traditionell in erster Linie die Verantwortung der Familie. Von Söhnen wird erwartet, dass sie für die finanzielle Versorgung ihrer Eltern im Alter und für den Unterhalt geschiedener oder unverheirateter Schwestern sorgen. Unverheiratete Töchter und Schwiegertöchter sind für die Pflege von Alten und Kranken zuständig, und von älteren Geschwistern wird erwartet, dass sie sich an den Ausbildungskosten der jüngeren Geschwister beteiligen, wenn die Eltern dazu allein nicht in der Lage sind. Wohlhabendere Verwandte und Nachbarn sind dazu aufgerufen, finanzielle Hilfe zu leisten, wenn eine Familie von Schicksalsschlägen wie Krankheit, Invalidität oder Tod betroffen ist. Unterstützung wird oft direkt in Form von Bargeld, Lebensmitteln oder Kleidung gegeben. Allerdings wird von den Unterstützungsempfängern erwartet, dass sie bei ähnlichen Gelegenheiten die geleisteten Beträge mindestens in gleicher Höhe zurückerstatten. Oft wird über die Beiträge sogar Buch geführt.
Vor allem für die einfachen Menschen ist es daher wichtig, in Dörfern oder Stadtvierteln zu wohnen, in denen sie gewachsene soziale Beziehungen haben. Nur das Vertrauen dort ermöglicht vielfältige Formen von Krediten und sozialer Unterstützung in Krisensituationen.
Neben diesen Formen direkter Solidarität gibt es auch kollektive Formen von Unterstützung. Im Islam ist zakat, das Almosengeben, eine der fünf Säulen der Religion. Von frommen Muslimen wird erwartet, etwa zehn Prozent ihres Einkommens als zakat an Arme und Bedürftige zu spenden. Erst nach Abführen dieses Betrages gilt das neu erworbene Vermögen als halal, das heißt gottgefällig und damit legitim. Zakat sind daher eigentlich keine Almosen, sondern ein religiös verbrieftes Recht der Armen auf eine Art Sozialhilfe von der Gemeinschaft der Gläubigen. In vielen ägyptischen Moscheen gibt es Zakat-Komitees, , die diese Spenden verwalten. Fast alle unterhalten Fonds, aus denen während des Ramadan und zu religiösen Festen Zucker, Tee, Reis und Kleidung an Witwen, Waisen, geschiedene Frauen und Bedürftige ausgegeben werden, damit diese an den religiösen Festlichkeiten teilhaben können. Manche Moscheen, die über größere Zakat-Fonds verfügen, bieten monatliche Unterstützungsrenten für Witwen und Waisen an. Manchmal werden auch die Kosten für Medikamente oder Schulbildung übernommen.
Seit Ende der siebziger Jahre haben die Muslimbrüder und andere islamische Gruppen Kliniken und Praxen eingerichtet. Ärzte bieten dort kostenlose oder verbilligte Gesundheitsversorgung an. In manchen Moscheen werden sogar Ausweise an Bedürftige ausgegeben, mit denen diese in bestimmten Apotheken kostenlose oder ermäßigte Medikamente erhalten können. Damit haben die über Spenden finanzierten sogenannten Ahli-Moscheen einen Bereich besetzt, aus dem sich der ägyptische Staat schrittweise zurückzieht.
Dies hat seinen Preis. Denn viele dieser sozialen Tätigkeiten werden von islamischen Wohltätigkeitsvereinen organisiert. Diese kann man sich eher als kleinere, dezentral vernetzte Vereine als große Organisationen vorstellen. Sie haben enge Verbindungen zu islamischen Oppositionsgruppen. Ein Beispiel ist der "Verein zum Schutz des Koran" in Manial, einem Kairoer Stadtviertel, in dem viele Menschen unter der Armutsgrenze leben. Besonders attraktive Angebote des Vereins sind das Dialysezentrum, der Kindergarten für Kinder arbeitender Mütter und die Schulstipendien für Kinder aus armen Familien. Wie in vielen ähnlichen Initiativen verbinden die Mitglieder des Trägervereins mit den sozialen auch religiöse Aktivitäten, wobei oft ein politisierter Begriff von Religion vertreten wird. Denn mit dem Slogan "Der Islam ist die Lösung" propagieren nicht nur islamische Vereine wie der in Manial, sondern auch Muslimbrüder und islamistische Gruppen die Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Als Folge der Anschläge militanter islamistischer Gruppen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre stellte der ägyptische Staat 1995 rund 5 Millionen Pfund zur Verfügung, um etwa 300 staatliche Moscheen in islamische Wohltätigkeitsvereine nach dem Vorbild der privaten Ahli-Moscheen zu verwandeln und damit ein Gegenwicht zu den Fundamentalisten zu schaffen.
Soziale Unterstützung wird jedoch nicht nur von Moscheen angeboten. Die etwa zehn Prozent ägyptischen Christen finden ähnliche Angebote in ihren Kirchen. Viele ehemals christliche Organisationen sind heute als NGOs organisiert, die nicht nur karitativ arbeiten, sondern sich mit vielfältigen Entwicklungsprojekten im sozialen Bereich an Christen wie Muslime wenden. Allein die koptisch-evangelische Organisation Coptic Evangelical Organization for Social Services (CEOSS) verfügt über ein Budget von jährlich etwa 100 Millionen US-Dollar. Sie wird von zahlreichen ausländischen Gebern sowie Kopten im Ausland finanziert. Die meisten NGOs bieten Dienstleistungen im Bildungs-und Gesundheitsbereich an.
NGOs wie CEOSS wollen statt karitativer Unterstützung Hilfe zur Selbsthilfe bieten. Viele konzentrieren ihre Anstrengungen auf die besonders benachteiligten ländlichen Gebiete. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Armut in den Städten sehr viel
stärker zunimmt als auf dem Land. Von den insgesamt über 14.000 registrierten NGOs befinden sich 39 Prozent allein im Großraum Kairo. Die meisten sind sogenannte rawabit, Vereine, deren Mitglieder alle aus derselben Gegend stammen. Sie helfen bei Beerdigungen, Hochzeiten und Krisen. Die Mitglieder des Vorstands sind Notable der jeweiligen regionalen Gemeinschaft. In vielen Fällen ist der Vorstand mit Lokalpolitikern oder der lokalen Verwaltung verflochten. Die Vereine sind Mittelpunkt ausgedehnter Netzwerke, über die den Mitgliedern unter anderem der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erleichtert wird. Natürlich wird dafür Loyalität den Führern gegenüber erwartet. Arme, Jugendliche und vor allem Frauen haben wenig Chancen, in diesen Vereinen Einfluss auszuüben oder von ihren Netzwerken zu profitieren.
Frauen sind aber überproportional von Krisen und Verarmung betroffen. Der Anteil von Familien mit Frauen als Haushaltsvorstand wird auf etwa 12 bis 15 Prozent geschätzt. Oft schlechter ausgebildet als Männer, haben sie neben ihren häuslichen Aufgaben wesentlich weniger Einkommensmöglichkeiten als diese. Es gibt zwar eine Reihe von Klein- und Kleinstkreditprogrammen speziell für Frauen. Nicht immer gelingt es ihnen jedoch, mit dieser Unterstützung ein nennenswertes Einkommen zu erwirtschaften.
Das Problem der sozialen Sicherung ist in Ägypten eng mit dem Problem der Armut verbunden. Armut hat viele Gesichter. Sie bedeutet nicht nur niedrige Einkommen, sondern auch hohe Analphabetenraten, höhere Kindersterblichkeit und weit verbreitete Kinderarbeit. Dadurch werden soziale Aufstiegschancen für die Kinder aus armen Familien von vornherein beschränkt. Arme und Ungebildete haben zudem weniger Zugang zu Informationen über soziale Dienste und können sie deshalb auch nicht in Anspruch nehmen. Sie finden sich in Behörden schlecht zurecht. Die Sachbearbeiter sind oft ungeduldig mit den Antragstellern, die ihre Anforderungen nicht verstehen oder ihnen fleckige Dokumente vorlegen. Außerdem sind die Gehälter der Beamten vielfach so niedrig, dass sie jede Möglichkeit wahrnehmen, Extragebühren zu verlangen, mit denen sie ihren Verdienst aufbessern. Auch von Antragstellern auf Sozialhilfe werden manchmal Stempel und Unterschriften von Beamten verlangt, die eigentlich gar nicht nötig wären.
Andererseits können im Zweifelsfall mit den entsprechenden ikramyat, den "Gefälligkeiten", zahlreiche Probleme wie zum Beispiel das Fehlen von Dokumenten gelöst werden. Die eingeschüchterten Antragsteller verstehen schnell, dass sie endlos von Behörde zu Behörde geschickt werden können, wenn sie sich mit den zuständigen Sachbearbeitern nicht gut stellen. Können sie das nicht, dann geben sie entweder auf oder versuchen über Familienmitglieder oder Bekannte einen wasta, einen Vermittler, zu mobilisieren. Oft ist dies ein Beamter in derselben Behörde, der dem entsprechenden Sachbearbeiter gegenüber weisungsbefugt ist oder dem dieser einen Gefallen schuldet. Doch auch die Möglichkeit, wasta zu organisieren, verlangt soziale Kompetenz: einerseits ein bestimmtes Selbstvertrauen im Umgang mit anderen und andererseits die Möglichkeit, die geleistete "Hilfestellung" durch eine andere wieder auszugleichen.
Auch unter den Ungebildeten und Armen gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die genau über diese soziale Kompetenz verfügen. Manche Frauen zum Beispiel, die Freunde und Nachbarn oft bei Antragstellungen begleiteten, haben sich einen Ruf als Informationsquelle erworben und tauschen mit den Sachbearbeitern Informationen gegen Hilfestellungen im Dschungel der Bürokratie. Jugendliche und gebildete Frauen aus armen Vierteln engagieren sich oft bereitwillig im sozialen Bereich. Ihre eigenen Erfahrungen in der Bewältigung von Krisensituationen, die oft eine bemerkenswerte Fantasie und Improvisationsfähigkeit erfordert, müssten bei der Entwicklung staatlicher wie nichtstaatlicher Programme noch viel mehr einbezogen werden. Mehr Partizipation bedeutet einen stärkeren Bruch mit der strengen Struktur der männlichen Erbfolge der ägyptischen Gesellschaft.
Doch selbst wenn alle kreativen Potenziale der Selbsthilfe genutzt würden, kann der mühsam erkämpfte Aufstieg für viele immer wieder durch Krisen zunichte gemacht werden. Eine ausreichende soziale Absicherung kann letztlich nur durch eine stärkere Umverteilung der Ressourcen und einen längerfristigen wirtschaftlichen Aufschwung erreicht werden.
ÄgyptenAngestellte bekommen weit bessere Renten1995-96 waren etwa 16,5 Millionen Ägypter oder 27 Prozent der Bevölkerung sozialversichert. Etwa 10 Prozent, inklusive Familienangehöriger, bezogen Leistungen aus dem staatlichen Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystem. Die Höhe der Renten und Pensionen deckt jedoch oft nicht einmal die minimalen Lebenshaltungskosten. Zwar liegen die durchschnittlichen monatlichen Rentenzahlungen der allgemeinen Sozialversicherung mit 137,9 Ägyptischen Pfund über der Armutsgrenze, die pro Kopf auf monatlich etwa 100 Pfund geschätzt wird. Das sind ungefähr 50 Mark. In der Regel leben von der Rente jedoch mehrere Personen, sodass die Familie eines Rentners trotzdem unter die Armutsgrenze fällt, wenn sie nicht über Zusatzeinkommen verfügt. Dazu kommt ein großes Ungleichgewicht in der Verteilung der Renten. Tatsächlich beziehen knapp ein Viertel der ehemaligen Arbeiter und Angestellten im öffentlichen und privaten Sektor und über 90 Prozent der Selbstständigen Pensionen von unter 100 Pfund monatlich, 10,3 Prozent der Renten betrugen 1994 weniger als 40 Pfund. Die Sozialhilfezahlungen sind noch niedriger. Die Höhe der regelmäßigen Zahlungen überschreiten nur selten 30 Pfund im Monat. Sie können daher höchstens als minimale Hilfe zum Lebensunterhalt bezeichnet werden. Monika El Shorbagi |
aus: der überblick 01/2001, Seite 6
AUTOR(EN):
Monika El Shorbagi:
Monika El Shorbagi hat in Berlin Politologie und Islamwissenschaften studiert. Sie lebt seit mehreren Jahren in Kairo und arbeitet vorwiegend in Stadtentwicklungsprojekten.