Der Musiker Fela Kuti bestritt, dass es Aids gibt, bis er daran starb - sein Bruder versucht, Felas Fans in Nigeria von der Gefahr zu überzeugen.
Lagos, Nigeria. Dies ist ein Land, in dem sich nirgends leicht leben lässt, doch in Lagos, Nigerias überbordender Megastadt, haben die Probleme geradezu groteske Ausmaße.
von Mark Schoofs
Selten vergehen 24 Stunden ohne Stromausfall, auch wochenlange Ausfälle sind keine Seltenheit. Das Kürzel der staatlichen Stromgesellschaft, NEPA (National Electric Power Authority), wird im Volksmund mit Never Expect Power Anytime übersetzt, was soviel heißt wie "Rechnen Sie nie damit, dass es Strom gibt". Wer es sich leisten kann, besitzt einen Dieselgenerator. Aber auch das ist keine Garantie für Elektrizität, denn obwohl Nigeria eines der größten Ölförderländer der Welt ist, führt das Missmanagement häufig zu Treibstoffmangel. Einem Aids-Forscher sind kürzlich 3000 Blutproben verdorben, weil ein Stromausfall mit einer akuten Treibstoffknappheit zusammenfiel.
Und fließendes Wasser? Nicht einmal wohlhabende Bewohner der Stadt verfügen über diesen Luxus. Sie lassen Lastwagen kommen, die ihren privaten Tank auffüllen. Die Polizei anzurufen, ist praktisch unmöglich, denn selbst wenn das eigene Telefon in Ordnung ist, stehen die Chancen schlecht, dass der Apparat auf dem Polizeirevier funktioniert. Während der 39 Jahre, seit sich das Land die Unabhängigkeit von Großbritannien erkämpft hatte, wurde Nigeria die meiste Zeit von Militärdiktaturen ausgeplündert (die jüngste ging mit der Wahl des neuen Staatspräsidenten Obasanjo im Februar 1999 zu Ende; vgl. "der überblick" 4/99 ). Eine der Lieblingsschiebereien der military boys, wie man die Militärregierungen nannte, bestand darin, staatliches Geld für Investitionen auf private Konten in der Schweiz zu verschieben und Kumpane in den Verwaltungen zu schmieren, damit sie amtlich bestätigten, die entsprechenden Arbeiten seien ausgeführt worden. Dabei konnte jeder mit bloßem Auge sehen, dass überhaupt nichts getan worden war. Die Chefs privater Unternehmen vergeben Aufträge oft an den, der das größte Bestechungsgeld bietet. Und an vielen Gebäuden in Lagos sind Schilder mit der Warnung "Haus nicht zu verkaufen" angebracht, weil Betrüger Häuser verkaufen, die ihnen nicht gehören.
Worauf kann man sich in Lagos verlassen? Auf die Hitze. Auf den Dreck. Auf die endlosen Staus, die hier "go-slows" heißen und Millionen von Pendlern stundenlang in meist überfüllten und unerträglich heißen Minibus-Taxen festhalten. Und auf Fela.
Fela Anikulapo-Kuti – ein international bekannter Musikstar, der an einem Tag 27 Frauen heiratete und in der Regel mit nicht mehr auf die Bühne trat als seinem Saxofon, einem superknappen Höschen sowie einem Joint von den Ausmaßen einer kleinen afrikanischen Nation, wie ein Schriftsteller es ausdrückte. Fela verteidigte die afrikanische Kultur gegen alles, was von Weißen kam, und äußerte furchtlos vernichtende Kritik an den Militärregierungen, die das Land ruinierten. Der Staat war so dumm, Felas Ansehen noch zu fördern, indem er ihn eine Zeit lang inhaftierte und ihm damit das ultimative Siegel für die Glaubwürdigkeit von Dissidenten verschaffte. Während der demokratischen Wahlen im Jahr 1999, die den früheren Militärdiktator Olusegun Obasanjo erneut an die Macht brachten, war Felas Lied "Soldier Go, Soldier Come" ("Soldaten gehen, Soldaten kommen") überall zu hören. Der Song beschuldigt Obasanjo und die anderen military boys, sich an der Macht immer gegenseitig abzuwechseln.
Das Lied war allerdings während der Wahlen nie live zu hören. Denn Fela war 1997 an einer Krankheit gestorben, von der er behauptete, dass es sie nicht gäbe, und schon gar nicht in Afrika: Aids. Auch wenn Felas älterer Bruder, Professor Olikoye Ransome-Kuti, zuvor Gesundheitsminister des Landes gewesen war und das vielgelobte, frühzeitige Aids-Präventionsprogramm Nigerias initiiert hatte. So ziemlich das einzige Zugeständnis, das Fela der weißen Medizin machte, war, dass er sich von Olikoye eine Kopfwunde zunähen ließ, die ihm die Polizei zugefügt hatte. Fast alle Krankheiten ließen sich mit afrikanischen Kräutern heilen, behauptete Fela. Kondome lehnte er als unnatürlich und lustfeindlich ab; sie waren für ihn eine Finte, mit der die Weißen die Geburtenrate der Schwarzen senken wollten. Fela glaubte, dass "sämtliche Ärzte, ich eingeschlossen, die Lüge Aids erfunden hätten", sagt Felas Bruder Olikoye.
Als Fela sich endlich in ein Krankenhaus bringen ließ, war sein Zustand bereits so schlimm, dass er das Testergebnis, welches seine HIV-Infektion bestätigte, nie zu hören bekam. Wenige Tage später erstickte er, im Koma liegend, an seinem eigenen Erbrochenen.
Danach begann der Kampf um Felas Tod – und, so könnte man sagen, um das Leben Nigerias. Angesichts der enormen Popularität, die er genoss, hätte Fela die Möglichkeiten gehabt, in Nigeria für die Aids-Aufklärung ungefähr das zu tun, was Rock Hudson, Magic Johnson und Arthur Ashe in den USA erreicht haben.
Felas größte Fans – darunter die zahllosen area boys, jene dem Schulalter entwachsenen, arbeitslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die stehlen, dealen und gelegentlich randalieren, um an etwas Geld zu kommen – stammen meist aus Bevölkerungsgruppen, die für eine HIV-Infektion besonders anfällig sind. Und sie gehören zu denen, bei denen die Entfremdung von der Gesellschaft und von jeder Autorität, auch von der der Ärzte, am stärksten ist. Viele area boys wollen nicht glauben, dass Fela an Aids gestorben ist. Ihre Reaktion auf den Tod des Idols ist bezeichnend für die vielschichtigen Formen, die die Verleugnung von Aids in den städtischen Räumen Afrikas annimmt.
Das Beispiel Fela wirft zudem Licht auf ein bevorstehendes Massensterben. Nach den jüngsten nationalen Statistiken, die 1996 veröffentlicht worden sind, ist schätzungsweise jeder zwanzigste Erwachsene HIV-infiziert. Das ist äußerst besorgniserregend, vor allem angesichts der Tatsache, dass Nigeria der bevölkerungsreichste Staat Afrikas ist. Jeder siebte Afrikaner lebt in diesem Land. Was geschieht, wenn Nigerias Infektionsrate das Niveau einiger ost- und südafrikanischer Länder erreicht, wo mehr als ein Viertel aller Erwachsenen HIV-positiv sind? In diesem Fall, warnt die langjährige nigerianische Aids-Aktivistin Pearl Nwashili, "ist das, was wir bisher im Rest Afrikas gesehen haben, ein Kinderspiel."
Trotzdem sind Nigerias Anstrengungen, der Aids-Epidemie entgegenzutreten, bisher in "Apathie und Verleugnung" stecken geblieben, wie Nwashili sich ausdrückt. Nicht einmal die medizinische Blutversorgung ist HIV-sicher, denn viele der zahlreichen Privatkliniken des Landes greifen bei Blutübertragungen auf ungeprüfte Konserven zurück. Eine Kontrolle der Kliniken ist praktisch unmöglich; das liegt zum guten Teil daran, dass die einst mächtige Nationale Behörde zur Kontrolle von Aids und Geschlechtskrankheiten mit einem jährlichen Budget von 40 Millionen Naira vor sich hin dümpelt – das entspricht weniger als einer Million Mark. Die offizielle HIV-Infektionsrate Nigerias gilt allgemein als Unterschätzung – zum Teil weil sie völlig ohne Daten aus Lagos berechnet worden ist. Als größte Stadt Afrikas südlich der Sahara ist Lagos ein brodelnder Moloch von mindestens acht Millionen Menschen, der täglich um fast tausend Neuankömmlinge wächst.
Wie viele Megastädte Afrikas ist Lagos mit den übrigen Teilen des Landes über die weit verzweigten Großfamilien der Zuwanderer verknüpft. Außerdem ist die Stadt der wichtigste Knotenpunkt des Straßennetzes und der Eisenbahnlinien sowie der Schiffs- und Flugrouten. Die Bekämpfung von Aids in Lagos hat eine Schlüsselfunktion für die Aids-Kontrolle im ganzen Land. Doch obwohl sich die Epidemie in Nigeria nur durch eine vereinte große Kraftanstrengung in Schach halten ließe, bleibt das Land weiterhin in einer schizophrenen Haltung gegenüber Aids befangen. Die Brüder Olikoye und Fela verkörpern gewissermaßen diese Bewusstseinsspaltung: auf der einen Seite Pragmatismus, der sich der Wirklichkeit stellt; auf der anderen Verleugnung, die in anti-weißer, panafrikanischer Ideologie wurzelt.
Kaum dass Felas Leichnam erkaltet war, erhob sich Widerspruch gegen die medizinischen Fakten dieses Todesfalles. "Felas Ärztin kam zu mir und fragte: ‘Was soll ich als Todesursache angeben?’" erinnert sich Olikoye. "Und ich habe gefragt: ‘Woran ist er Ihrer Einschätzung nach gestorben?’ Sie antwortete, dass sei zu schrecklich, um es zu schreiben – Aids sei eine solche Schande. Daraufhin fragte ich sie: ‘Sie werden also eine Todesurkunde fälschen?’" Die Ärztin gab nach.
Am folgenden Tag veranstaltete Olikoye, von der Mehrheit der Familie flankiert, eine Pressekonferenz. Er gab bekannt, dass sein Bruder an Aids gestorben sei, und verband diese Nachricht mit einer "Standpauke", wie Felas Tochter Yeni es nennt. Darin verwies Olikoye auf die über zwei Millionen Nigerianer, die den Virus bereits in sich trugen, und rief dazu auf, sich endlich dem Problem zu stellen.
Diese öffentliche Erklärung hat sicherlich einige Leute aufgeschreckt. Prostituierte erzählen, dass seit Olikoyes Aufruf mehr Freier Kondome benutzten. Dem stehen jedoch Millionen gegenüber – darunter Felas jüngster Sohn, der sechzehnjährige Seun -, die nicht glauben wollen, dass tatsächlich das HIV ihren Held dahingerafft hat. Bob "Marlboro" Kuforiji, ein area boy und getreuer Fela-Fan, gibt in der belebten Gasse, in der er herumhängt, dazu einen typischen Kommentar ab: "Das ist doch nur Propaganda, dass Fela an Aids gestorben ist." Seine Logik lautet: "Fela ist ein großartiger Mann, er kann gar nicht an Aids gestorben sein." Kondome? Die benutzt Marlboro nicht.
In fast jeder größeren Stadt in Nigeria gibt es Banden von Straßengangstern. Doch das Phänomen der area boys findet man einzig in Lagos. Dort haben sie als städtisches Ärgernis und kriminelle Bedrohung geradezu den Status eines Mythos erreicht. Sie randalieren, um ganze Stadtviertel einzuschüchtern und so Geld zu erpressen oder einfach, um zu plündern. Politiker spannen manchmal area boys ein, um ihren Gegnern einzuheizen oder weil sie ein Ablenkungsmanöver brauchen; doch letztlich nehmen die area boys von niemandem Befehle an. Im Sommer 1999 gab es Straßenkämpfe – die Presse sprach von jungle justice -, in denen area boys ihr Revier gegen rivalisierende Banden und gegen Angriffe von bewaffneten Bürgerwehren verteidigten, die von den ständigen Überfällen und der Ohnmacht der Polizei genug hatten. Mehr als 50 Menschen kamen bei diesen Kämpfen um, viele der Opfer wurden bei lebendigem Leibe verbrannt.
Victor Inem, ein Arzt am Lehrkrankenhaus der Universität von Lagos, hat 113 area boys und area girls (dieser Ausdruck ist unter Einheimischen allerdings wenig gebräuchlich) untersucht. 28 Prozent waren HIV-positiv – eine Infektionsrate, die nur noch von Prostituierten übertroffen wird. Die Erhebung ist sechs Jahre alt. Seitdem hat es praktisch keine weiteren Studien über die Verbreitung des HIV unter area boys gegeben. Aber es ist fast sicher, dass die Ansteckungsrate mittlerweile höher liegt – nicht zuletzt weil die area boys durch ihre Verhaltensweisen sich selbst und andere besonders gefährden. Mehr als die Hälfte der Frauen, die im Rahmen von Inems Studie untersucht wurden, hatten als Prostituierte gearbeitet. Vertreter beider Geschlechter hatten an sogenannten sessions teilgenommen; das sind Drogenparties, die oft mit Orgien einhergehen. Und einer der Wege, wie sie zu Geld für Drogen und Nahrung kamen, war, ihr Blut an private Kliniken zu verkaufen – eine Praxis, die nach Auskunft sowohl von Aids-Aktivisten als auch von area boys selbst noch immer fortgeführt wird.
"Wir haben Millionen von Kindern gerettet, indem wir sie geimpft und ihnen Medikamente gegen Durchfall gegeben haben", sagt Olikoye, "aber wir haben uns nie viel um ihre Zukunft gekümmert. Diese Kinder haben keine Arbeit und wachsen ohne Bildung auf. Sie verkaufen irgendwelchen Schrott auf der Straße und sind jeglicher Kontrolle entzogen."
Fela war eine Ausnahme: Er holte Dutzende von Prostituierten und area boys von der Straße und gab ihnen in seiner Kommune, der Kalakuta Republic, ein Zuhause. Dadurch verschaffte er sich auf der Straße eine Anerkennung, mit der niemand konkurrieren konnte. Mehr noch, er verwandelte den aufgestauten Frust der area boys und girls und ihr Gefühl, betrogen zu sein, in Kunst – ihre Kunst. Felas Cousin, der Schriftsteller Wole Soyinka, mag zwar den Nobelpreis gewonnen haben; doch Fela, der in Pidgin-Englisch sang, gewann die Verehrung derjenigen, die in der tragischen Geschichte Nigerias ganz unten stehen.
Felas Musik brachte die Korruption in den Etagen der Reichen und Mächtigen in Zusammenhang mit den Qualen, die der Alltag in Lagos ständig bereithält – angefangen vom Leben in den Slums, wo, wie er sang, "zehn-zehn in einem Zimmer wohnen" und "im Mülleimer schlafen", bis hin zu den sprichwörtlichen Torturen in den molue, den zum Ersticken heißen, ewig überfüllten Stadtbussen. "Jeden Tag sind meine Leute drinnen im Bus, 49 sitzen, 99 stehen, erst drücken sie sich wie Sardinen zusammen, dann kippen sie um." Solche Texte wecken "Bilder, die an den Sklavenhandel erinnern", beobachtet Babatope Babalobi, der ein Mitglied von Journalists Against AIDS ist und seine Diplomarbeit über Fela geschrieben hat. Area boys sagen einfach: "Fela hat die Wahrheit gesagt."
Es liegt eine grausame Ironie darin, dass Fela einer Selbsttäuschung zum Opfer gefallen ist. Der Humor, mit dem er sich über Kondome lustig machte – "Wenn ich die Hose ausgezogen habe", pflegte er zu sagen, "warum soll ich dann meinen Schwanz in eine Hose packen?" -, wirkt nur noch grotesk angesichts der Tatsache, dass die Aids-Epidemie sich gegenwärtig zu einer der größten Tragödien in der Geschichte Afrikas ausweitet. Fela riskierte das eigene Leben, aber auch das seiner Partnerinnen, von denen viele zu den Straßenmädchen gehörten, die er bei sich aufgenommen hatte. Fela ist oft wegen seiner Ansichten über Frauen kritisiert worden – "Die einzige Aufgabe der Frau ist, den Mann glücklich zu machen", sagte er einmal. Seit es das HIV gibt, kann diese Haltung anderen den Tod bringen.
Die Zustände in Felas Kalakuta Republic müssen für jeden Aufklärer in Sachen safer Sex ein Albtraum gewesen sein. Die Räume waren vom Rauch der Marihuana-Joints eingenebelt; außerdem gab es jede Menge hot – nigerianischen Gin, der auf der Straße gebrannt wird. Felas ältester Sohn Femi erinnert sich, dass "das ganze Quartier ein Dreckloch war" und dass nicht ein einziger der area boys, die dort eine Bleibe gefunden hatten, "irgendetwas Konstruktives tat."
Femi spielt wie sein Vater Saxofon und hat selbst eine erfolgreiche Band, Positive Force. Er hat dem Marihuana-Rauchen abgeschworen, weil, so sagt er, "ich nicht auf die Weise leben kann, wie mein Vater gelebt hat. Ich will mehr arbeiten als herumspielen." Diese Arbeitsmoral, ganz zu schweigen vom Verzicht auf Marihuana, hat ihn bei den Jugendlichen auf der Straße unbeliebt gemacht. Und dann kommen Femis Worte der Anschuldigung, sein Vater habe zu der kollektiven Tragödie der area boys beigetragen, so nahe, wie das einem Sohn möglich ist: "Man erwartet von mir, dass ich mich wie mein Vater aufführe und die Art und Weise unterstütze, wie sie ihr Leben ruinieren."
In der Tat hat Fela seine Umgebung in Verhaltensweisen bestärkt, die zur Ausbreitung von Aids-Infektionen beitragen. Vielleicht noch schlimmer ist, dass er eine Lebenshaltung guthieß, die es äußerst schwer macht, diese Verhaltensweisen zu ändern.
Ein großer Betonbunker mit Mietwohnungen beherrscht die Ojuelegba-Straße im Surulele-Distrikt von Lagos. Von den Balkonen hängt Wäsche; ein paar Fenster sind kaputt. Um den Wohnblock herum drängen sich kleine, aus Steinen und Zement errichtete Hütten mit Dächern aus Wellblech. In den offenen Abwasserkanälen steht die Brühe. Hühner picken im Müll herum und laufen laut gackernd und flügelschlagend vor fast nackten Kindern weg, die hier herumrennen. Thomas "Boy-O-Boy" Edem, ein area boy, der früher in Felas Kommune gelebt hat, sitzt untätig und mit freiem Oberkörper in einer Gasse herum. Er betont, dass er nicht stiehlt. "Deswegen verkaufe ich ja das hier", sagt er und hält eine Plastiktüte prallvoll mit Marihuana hoch. Seine andere Einkommensquelle ist die nahe gelegene Bushaltestelle. Während des abendlichen Berufsverkehrs zwängt sich Boy-O-Boy durch das Gewühl und holt sein dash ab – so heißt erpresstes Geld im Slang. Ähnlich wie beim Schutzgeld der Mafia sorgen diese Zahlungen dafür, dass die area boys die Busse nicht überfallen.
Niemand ist vor dieser Art der Erpressung sicher und ganz gewiss nicht die Mitarbeiter der Aids-Hilfe, die man für reich hält, weil sie von internationalen Geberorganisationen bezahlt werden. Onemtein Amadi vom Aids-Programm der nigerianischen Jugend (Nigerian Youth AIDS Programme, NYAP) erinnert sich an eine Fußball-Liga, die NYAP organisiert hat. Voraussetzung für die Teilnahme war, dass man einen Kurs über Aids belegte und sein Wissen in mehreren halbtägigen Quizspielen über Aids unter Beweis stellte. Sechzehn Mannschaften mit zusammen mehr als 400 Spielern meldeten sich an. Aber NYAP hatte die Rechnung ohne die area boys gemacht. "Sie gingen einfach immer wieder auf das Spielfeld und störten die laufende Partie", erzählt sie. "Sie sagten, ›Wenn ihr uns nicht Geld und Gin gebt, gibt es auch kein Spiel.<" NYAP stellte die area boys schließlich als Sicherheitskräfte ein, eine Aufgabe, von der sie begeistert waren.
Dieser Vorfall ist nur ein einfaches Beispiel für das, was Amadi das Geldsyndrom nennt: eine zerstörerische Mischung aus Zynismus und Argwohn, die allgegenwärtig ist in einer Kultur, in der die Korruption regiert und die Armut die Menschen zu harten Geschäften zwingt. Elvira Obike, die als Projektleiterin für die Sektion Lagos der Gesellschaft von Frauen gegen Aids in Afrika (Society of Women Against AIDS in Africa) arbeitet, schätzt, dass "mehr als 70 Prozent aller weiblichen Studierenden sich, um die Studiengebühren bezahlen zu können, mit Sex Geld verdienen". Fast immer handelt es sich um Sex mit einem älteren Mann, der die Studentin aushält. In einer Kultur, in der so viele von der Prostitution leben und in der die politische und wirtschaftliche Elite Millionen, manchmal sogar Milliarden Dollar verschwinden lässt, hat jeder seine Tricks.
Und Fela schürte diesen Zynismus. Während stets klar war, was er ablehnte, konnte kaum jemand genau sagen, was er befürwortete. Fela war purer Dissident. Seinem Bruder Olikoye, der den Armen des Landes eine medizinische Grundversorgung verschaffte, warf Fela vor, für eine Militärregierung zu arbeiten. Seine Abneigung gegenüber so gut wie allem, was als weiß galt – einschließlich der westlichen Medizin –, hatte etwas ausgesprochen Reaktionäres; es war eine einzige Retourkutsche auf die weiße Herrschaft
. Die Konsequenzen dieser Einstellung mögen tödlich gewesen sein; dennoch handelt es sich um ein im städtischen Afrika weit verbreitetes Phänomen. Auch das gehört zum Erbe des Kolonialismus.
Es ist wahr, dass Fela sich zu Freiheit und Gerechtigkeit bekannte und sich für die Einheit Afrikas aussprach; aber das waren nur vage Vorstellungen, kaum mehr als Slogans. Inzwischen herrschte er in seiner Kommune wie ein König, bestrafte aufbegehrende area boys mit harter Prügel und frönte seinem legendären Verlangen nach Marihuana und Sex. Fela erweckte den Eindruck, es reiche aus, sich dem eigenen Vergnügen hinzugeben und den Mächtigen die Schuld in die Schuhe zu schieben, um ein Revolutionär zu sein.
Diese Art von Zynismus macht Aids-Aufklärung schwierig. Edem Effion vom NYAP erläutert: "Die Leute schenken korrekten Informationen über Aids keinen Glauben, weil sie der Informationsquelle nicht trauen." Man kann sich kaum jemanden vorstellen, der glaubwürdiger ist als Olikoye, einer der wenigen Minister, die einen guten Ruf bewahrt haben. Aber auch das macht keinen Unterschied. Marlboro ist nur einer von vielen, die glauben, dass Olikoye Lügenmärchen über die Ursache von Felas Tod erzählt. Auf die Frage, warum Olikoye denn fälschlich behaupten sollte, sein eigener Bruder sei an Aids gestorben, antwortet Marlboro: "Nigerianer tun alles für Geld, sogar Mutter und Vater verkaufen." Olikoye, sagen die Leute, war von der Weltbank oder von den Amerikanern gekauft.
Auch eine pauschale Ablehnung der westlichen Medizin bekommt man oft zu hören. Ein Busfahrer, der für Felas Musik schwärmte und auch auf dessen Beerdigung war, ist sich sicher, dass Fela nicht an Aids gestorben ist, "denn dieser Mann passte gut auf sich auf. Er vertraute auf die traditionelle Stammesmedizin." Glaubt er, dass es Aids gibt? "Ich habe davon gehört, aber ich glaube das nicht." Ein Teenager in Schuluniform mischt sich in das Gespräch und erzählt, dass er ein Flugblatt gelesen habe, auf dem stand, die Amerikaner hätten Aids erfunden, um die Welt zu beherrschen.
Manche Nigerianer, darunter Felas Tochter, sind der Meinung, die Regierung hätte Felas Tod als Anschub für ein Aids-Präventionsprogramm nutzen sollen. Doch andere denken, dass dies nach hinten losgegangen wäre. "Wenn die Regierung versucht hätte, Fela zu benutzen, hätte es Ärger gegeben", sagt Effiong vom NYAP. Nach ihrer Ansicht hätte das nur die bestärkt, die sich weigern zu glauben, dass es Aids gibt.
Aids erreichte Nigeria sehr spät. Der erste Fall wurde 1986 registriert, vier Jahre nachdem man in Afrika den ersten Fall der Immunschwäche festgestellt hatte. Und selbst danach belegte eine Studie nach der nächsten, dass das Virus sich in Nigeria nicht sehr verbreitete. Dies gab zwar einerseits Nigeria eine Schonfrist, schien aber andererseits denen Recht zu geben, die die Existenz oder die Schwere der Seuche bestritten, denn es starb fast niemand daran.
Das ist in gewisser Weise auch jetzt noch der Fall, denn wer zur Zeit das Endstadium der Krankheit erreicht, ist vor sechs oder zehn Jahren infiziert worden. Deshalb sterben bisher noch relativ wenige Nigerianer an Aids, während die Malaria für alle sichtbar sehr viele das Leben kostet. Aids-Aktivisten wie Nwashili von STOPAIDS rackern sich daher ab, "die Leute davon zu überzeugen, dass Aids existiert, obwohl es nicht zu sehen ist".
Es gibt jedoch Anzeichen für Hoffnung. Nigerias neuer Präsident mag zwar keine astreine Vergangenheit vorweisen können, aber er hat die Mittel für das Aids-Präventionsprogramm nahezu verdreifacht, seine Regierung darauf verpflichtet, die Epidemie zu bekämpfen – was seine korrupten Vorgänger versäumt hatten -, und um internationale Hilfe gebeten. Olikoye hat die Wahl Obasanjos zum neuen Präsidenten unterstützt, obwohl dessen Polizei 1977 Felas Haus gestürmt und seine Mutter dabei so schwer verletzt hatte, dass sie später an den Folgen starb. Denn, so kommentiert Olikoye, Obasanjo " kann auch verschlagen sein, und das brauchen wir hier in Nigeria." Olikoye steht außerdem an der Spitze einer Lobbykampagne. Robert Eselojor von der Initiative STOPAIDS, der auf dem Iddo Motor Park, einem riesigen, überfüllten Rastplatz für Lastwagen, vor allem Leute seines Alters über Aids aufklärt, ist optimistisch: "Die LKW-Fahrer verzichten jetzt auf eine Frau, oder sie benutzen Kondome."
Die jüngeren Kerle, die auf dem Rastplatz herumhängen, berichten allerdings etwas anderes. Unter großem Gelächter aller Herumstehenden erzählt ein stämmiger Fahrer, dass er keine Kondome benutze, weil "ich keinen hoch bekomme, wenn ich einen Gummi überziehe". Ein anderer Mann aus der Gruppe gibt "unverantwortlichen Mädchen" die Schuld an Aids und schwenkt seinen Arm in Richtung der Bordelle. "Nur bei denen geht man ein Risiko ein", behauptet er mit Nachdruck. "Eine vernünftige Frau kann kein Aids bekommen."
Am Fuße der Carter-Brücke in Idumota, einem überbevölkerten Stadtviertel mit einer hohen Verbrechensrate, verhökert eine Gruppe von Frauen verschiedene Waren – Zigaretten, Seife, Obst. Benutzen ihre Ehemänner Kondome? Sie lachen nur. "Mein Mann", sagt eine, "kann kein Kondom benutzen, weil er kein Eunuch ist." Und haben die Ehemänner nebenher Freundinnen? "Ich weiß von zweien", sagt die Erste. "Mein Mann ist sehr gläubig, bei ihm gibt es das nicht", sagt eine dritte Frau, die ein Kopftuch trägt. "Aber", fügt sie hinzu, "mein vorheriger Freund hatte bis zu 30 andere Mädchen."
Vor dem rosa bemalten Royal Crown Hotel erzählt eine Prostituierte, die sich Tina nennt, dass viele Freier für Sex ohne Gummi mehr Geld bieten. Tina ist von der nigerianischen Sektion der Society of Women Against AIDS in Africa dafür ausgebildet worden, andere Frauen in ihrem Berufszweig über Aids aufzuklären, und sie beteuert, dass sie auf solche Angebote von Freiern nicht eingehe. Sie fügt jedoch hinzu: "Aber ich will nicht lügen. Einige Mädchen, besonders die jüngeren, wenn die 1000 Naira sehen, können sie meist nicht Nein sagen." Wie viele der Prostituierten benutzen denn grundsätzlich immer ein Kondom? Unter den älteren, schätzt Tina, sechs von zehn. Aber bei den Jüngeren machen das nur zwei oder drei von zehn.
Fela hätte Nigerias Aids-Problem nicht lösen können. Aber er hätte das tun können, was Franco Luambo, der überaus populäre Sänger aus dem Kongo, oder Philly Lutaya aus Uganda getan haben: Kurz bevor sie an der Immunschwäche starben, spielten beide Lieder ein, die vor Aids warnen. So hätte Fela jedem in Nigeria das Gefühl geben können, jemanden zu kennen, der das Virus hat, und dazu beigetragen, dass man nicht erst warten muss, bis viele Todesfälle den Menschen Angst einjagen und sie Vorsichtsmaßnahmen treffen lassen. Doch wie die Dinge stehen, denkt Olikoye, dass sein Bruder Nigerias Realitätsverlust symbolisiere. Er sagt: "Ich weiß nicht, wie wir es schaffen sollen, die Menschen davon zu überzeugen, dass es das HIV wirklich gibt."
Drüben in Makoko, einem Slum aus Blechhütten, die Fischer im Flussdelta von Lagos auf Stelzen errichtet haben, erzählt der einundzwanzigjährige Frank Ogbonnaya, dass er im vergangenen Jahr mit vier Frauen geschlafen habe. Er behauptet, dass er mit Gelegenheitspartnerinnen normalerweise Kondome benutze, jedoch nie mit seiner festen Freundin. Aids, sagt er, ist keine große Sorge für ihn. Kennt er irgend jemanden, der die Krankheit hat? "Ich kenne niemanden", antwortet er, "es sei denn, man zählt Fela dazu. Und ich glaube nicht, dass Fela an Aids gestorben ist."
aus: der überblick 03/2000, Seite 13
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.