Greisenherrschaft auf Reformkurs?
Seit Kronprinz Abdallah in Saudi-Arabien faktisch die Regierungsgeschäfte vom siechen König Fahd übernommen hat, reagiert das Herrscherhaus Al-Saud endlich auf die größten Probleme des Landes: die Massenarbeitslosigkeit und die wuchernde Staatsverschuldung. Aber die Öffnungspolitik bleibt bislang auf die Wirtschaft beschränkt. Und laut der Nachfolgeregelung im Herrscherhaus wird die Krone zunächst an jeweils einen Sohn des Staatsgründers Ibn Saud vererbt. Im schlimmsten Fall würde Saudi-Arabien also auf Jahre hinaus von kurz vor dem Tod stehenden Greisen regiert.
von Steffen Hertog
Der Sommer ist in Riad brütend heiß. Das eigene Thermometer zeigt manchmal 52, 55 oder gar 60 Grad Celsius an. Da wundert sich manch ein Neuling in Saudi-Arabien, warum im staatlichen Fernsehen oder in Saudi-Zeitungen nie von Temperaturen über 50 Grad berichtet wird. Wer sich ein wenig umhört, dem flüstern Landeskenner eine Erklärung zu, die so simpel wie unglaublich ist: Ein Gesetz besagt, dass ab 50 Grad auf Baustellen unter freiem Himmel die Schaufeln ruhen müssen. Wenn der Betrieb nicht zusammenbrechen soll, muss also die Temperatur staatlicherseits ein wenig geschönt werden. Weil der Staat die Medien vollständig kontrolliert und das Proletariat ausländischer Arbeitskräfte fast rechtlos ist, ist diese Erklärung nachvollziehbar.
Man muss schon zweimal hinschauen: Vor den Gittertüren des gemächlich dahinzuckelnden Pritschenwagens baumelt tatsächlich ein Vorhängeschloss. Und die ebenso mit einem Gitter überspannte Ladefläche ist nicht etwa mit Kamelen oder Schafen vollgestopft - nein, dort kauern Bauarbeiter, eng nebeneinander gepackt: Inder, Bangladeschis oder Pakistanis, wie ihre dunkle Haut und schwarzen Schöpfe vermuten lassen. Nach einem wahrscheinlich 14-stündigen Arbeitstag starren sie apathisch auf die Wüstenlandschaft, die an dem rostigen Gefährt vorbeizieht.
Dass die abgekämpften Malocher eingesperrt sind, ist für sie und den Vorarbeiter am Steuer nur normal. Verriegelte Mannschaftstransporter bahnen sich häufig ihren Weg durch die Straßen von Riad. Frei sind die wenigsten Gastarbeiter in Saudi-Arabien, ob sie nun buchstäblich hinter verschlossenen Türen gehalten oder per Polizeikontrolle ihrer Bewegungsfreiheit beraubt werden. Normalerweise sammelt der neue Brotgeber direkt nach der Ankunft der importierten Arbeitskräfte deren Pässe ein. Durch die engmaschigen Polizeikontrollen an allen Stadtgrenzen kommt man auch als Westler nur mit schriftlicher Genehmigung seines saudischen "Sponsors".
Nach einer amerikanischen Schätzung leben und arbeiten im saudischen Königreich 1,2 Millionen Ägypter und 1,2 Millionen Inder. Das Regime hat sie größtenteils nach dem zweiten Golfkrieg ins Land geholt, ebenso wie hunderttausende Pakistanis, Bangladeschis und Filipinos. Die weitgehende Verfügungsgewalt über die ausländischen Arbeitskräfte hat bei manchen saudischen Arbeitgebern eine erschreckende Herrenmenschen-Attitüde erzeugt, die sich oft in einer verzweifelten Unterwürfigkeit der Untergebenen widerspiegelt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen gerade der asiatischen Migranten sind oft erbärmlich. Sie müssen 12 bis 14 Stunden in der Hitze schuften und schlafen in notdürftigen Behausungen. Man kann derartige Behandlung durchaus Lohnsklaverei nennen sogar Sklaverei wäre manchmal angemessen, denn Lohn wird gelegentlich nur verspätet oder gar nicht ausgezahlt.
Auch bei einer regelmäßigen Besoldung von umgerechnet vielleicht 500 Mark im Monat kann sich etwa ein Teaboy - ein im Grunde überflüssiger Bürodiener - kaum seinen Anzug leisten. Und Teaboy ist nicht die unterste Stufe. Einfache Arbeiter können nur durchhalten, weil sie von den engen sozialen Netzen ihrer Migrantengruppen aufgefangen und in kritischen Phasen unterstützt werden.
Schwer vorstellbar, dass die wirtschaftliche Rolle der ausländischen Arbeitskräfte irgendwann einmal von saudischen Staatsbürgern übernommen wird. Die "Saudisierung", die Erschließung des Arbeitsmarktes für Einheimische, ist jedoch ein Kernpunkt des jüngsten königlichen Reformprogramms. Es ist die erste wirklich ernst zu nehmenden Wirtschaftsreform seit den sechziger Jahren. Von der Saudisierung des privaten Arbeitsmarkts ist jedoch bis jetzt wenig zu spüren. Es gibt immer noch eine Menge Arbeiten, die ein Durchschnittssaudi niemals tun würde. Diese Haltung zeugt nicht unbedingt von Faulheit; meistens ist es einfach ein anerzogener Dünkel. Im Hotelgewerbe von ganz Riad, so meint ein deutscher Manager, gibt es heute drei saudische Köche. Damit kommt ein saudischer Koch auf eine Million Einwohner.
Kein mittelmäßig gebildeter Saudi darf aber heute mehr einen der hochdotierten Posten im öffentlichen Dienst erwarten. Das war noch in den Siebzigern üblich und hatte zu einer ungeheuren Aufblähung des Staatsapparates geführt. Die Arbeitslosigkeit unter Saudi-Männern wird inzwischen auf bis zu 35 Prozent geschätzt. Angesichts eines jährlichen Bevölkerungswachstums von 3,5 Prozent wird sie wohl weiter steigen. So sind nur zwei künftige Szenarios denkbar: eine neue Bescheidenheit oder neue Aufmüpfigkeit gegenüber der Regierung.
Ein Parlament, Wahlen oder gar Parteien gibt es in Saudi-Arabien nicht, für friedliche Systemkritik ist wenig Platz. Angesichts der drakonischen Strafen, die im Königreich üblich sind, mag sich mancher jedoch überlegen, ob er es wagt, gewaltsam zu opponieren. Öffentliche Köpfungen und Amputationsstrafen haben Saudi-Arabiens Vollzugsorganen seit Jahrzehnten traurige Berühmtheit verschafft. Jahr für Jahr werden um die 100 Hinrichtungen von der gelenkten Presse in dürren Worten bekannt gegeben. Zum Strafkanon gehören unverändert auch Auspeitschungen, beispielsweise für Alkoholgenuss, wobei Auspeitschung auch heißen kann: mehrere tausend Hiebe, über Monate verteilt.
Im Jahr 1999 sind in Saudi-Arabien 103 .Menschen hingerichtet worden, davon 64 Ausländer, die zumeist wegen Drogendelikten verurteilt waren. Natürlich waren keine Europäer oder US-Amerikaner darunter - diese Elite-Lohnarbeiter fristen ein meist langweiliges Dasein in abgeschotteten, durchaus luxuriösen Compounds, von den Saudis sozial genauso getrennt wie von anderen nicht westlichen Expatriates (Ausländern). Westler können durchaus westlich leben - zu entsprechenden Preisen allerdings. Gelegentlich wird einer von ihnen für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt, weil er angeblich eine rote Ampel überfahren hat. Aber wie Staatsbürger der "Dienervölkern" aus Asien werden westliche Ingenieure und Manager nie behandelt. Einem berühmten ausländischen Gast des Königreichs geht es besonders gut. Der ugandische Schlächter Idi Amin wohnt seit gut 20 Jahren in der Stadt Jiddha im Königreich - und er wohnt gut dort, schließlich hat ihn seinerzeit die Königsfamilie eingeladen. Er dürfte kaum fürchten, dass ihn eines Tages die gerechte Strafe ereilt.
Für die harte Bestrafung der Unterprivilegierten liefern staatsnahe islamische Rechtsgelehrte, die Ulama, die Rechtfertigungen. Im Königreich liegt das Lehrmonopol bei einer besonders konservativen Rechtsschule, dem Hanbalismus. Und innerhalb der hanbalitischen Interpretation werden nur die Lehren des äußerst rigiden Wahabismus anerkannt -einer bekennend fundamentalistischen Schule. Aber auch die radikalste Theologie kann nicht alle staatliche Willkür rechtfertigen. Selbst die vom Herrscherhaus alimentierten Ulama werden in Koran und Sunna keine Stelle finden, die erlaubt zu foltern und Oppositionelle jahrelang in Spezialgefängnisse des Innenministeriums zu stecken.
Ausländische Menschenrechtsorganisationen üben seit Jahren scharfe Kritik an der Diskriminierung und Rechtlosigkeit der Frauen in Saudi-Arabien. Die religiöse und die säkulare Opposition ist in dieser Frage jedoch gespalten. Das Königshaus hat sich bei Frauenfragen in den letzten Jahren auf die Seite der Islamisten geschlagen -wie bei den meisten gesellschaftlichen Fragen. Als einen der Versuchsballons, mit denen das Königshaus regeImäßig die Popularität umstrittener Maßnahmen auslotet, politische Dynamik vortäuscht und ein wenig (Schein-)Pluralismus erzeugt, eröffneten saudische Zeitungen eine Debatte, ob auch an Frauen Führerscheine ausgegeben werden sollten. Folgen hatte die Diskussion nicht. Auch der Plan, Frauen endlich eigene Ausweise auszustellen, liegt vorerst auf Eis. Frauen bleiben also weiterhin in ihrer Bewegungsfreiheit vom Familienoberhaupt abhängig. Ein Gespräch mit einem Mann, der nicht der Familie angehört, ist ihnen ohnehin praktisch unmöglich: Die öffentliche Trennung der Geschlechter ist beinahe lückenlos.
Für die öffentliche, teilweise auch private Sozialkontrolle sind rund 30.000 Religionspolizisten zuständig, die Mutawwaín. Diese Männer mit den meist henna-rot gefärbten Bärten patrouillieren regeImäßig durch jede belebtere Straße.
Das saudische Herrscherhaus kommt wegen seiner Menschenrechtspolitik jedoch zunehmend unter Druck. Die im März 2000 gestartete Saudi-Arabien-Kampagne von amnesty international geht offenbar nicht spurlos an der Regierung vorüber. Das Königshaus versucht ganz vorsichtig zu reagieren. Für die Periode von 2001 bis 2003 wurden Vertreter des Königreichs in die UN-Kommission für Menschenrechte gewählt, und Saudi-Arabien hat - unter Vorbehalten - die Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen unterschrieben. Im April 2000 wurde sogar die Gründung zweier nationaler Menschenrechtskommissionen bekannt gegeben.
Wie kann sich diese zu den letzten der Welt zählende monarchische Diktatur in Saudi-Arabien überhaupt noch halten? Die Instrumentalisierung der Religion trägt dazu bei. Seit Anfang der neunziger Jahre nimmt die königliche Familie wieder verstärkt den Islam zu ihrer Legitimation in Anspruch. Schon 1986 hatte sich König Fahd den Titel "Wächter der beiden heiligen Stätten" zugelegt, um den Islamisten den Wind aus den Segeln zu nehmen - Islamisten übrigens, die sich der Saud-Clan durch Bildungs- und Kulturpolitik teilweise selbst herangezüchtet hatte.
Ihr Durchhaltevermögen haben die Al-Saud aber vor allem dem Ölsegen zu verdanken. Seit Anfang der siebziger Jahre wurde eine milliardenschwere Ölrente eingefahren. Anfang der achtziger Jahre näherte sich das Pro-Kopf-Einkommen -wenn auch nicht unbedingt der Lebensstandard - dem westeuropäischen an. Die Öl-Dollars standen anfänglich dem Herrscherhaus zur freien Verfügung. Dieses nutzte den Geldsegen unter anderem zum starken Ausbau eines Patronagesystems, dessen Grundlagen in den Jahrzehnten zuvor geschaffen worden waren. Das Ergebnis war eine fortschreitende Machtkonzentration beim Herrscherhaus: Die traditionell als Partner betrachteten wahabitischen Ulama wurden zu großen Teilen vom Thron finanziell abhängig. Die Händlerschicht konnte mit Importlizenzen und Kommissionen weitgehend ruhig gestellt werden. Stammesführer, die zu großen regionalen Einfluss genossen, wurden mit Geld und Posten "kooptiert" oder einfach vom Staat verdrängt - denn seit den fünfziger Jahren wuchs der Staatsapparat, und seit den Siebzigern wucherte er geradezu. Natürlich wurde auch in den Geheimdienst gehörig investiert.
Bis in die achtziger Jahre war das saudische Volk noch klein genug, sodass jeder von der Wiege bis zur Bahre alimentiert werden konnte - Telefongespräche, Wasser, Strom, Inlandsflüge und viele andere öffentliche Dienstleistungen gab es ganz oder zumindest fast umsonst. Das Geld reichte allemal, auch wenn der Ölpreis gelegentlich ein bisschen fiel.
Bis heute ist an den Militärausgaben der Golfmonarchien zu sehen, wie frei einst über die neuen Mittel verfügt werden konnte: Immer noch haben Waffenkäufe einen unübertroffen hohen Anteil am Gesamthaushalt. Saudi-Arabien gehörte 1998 zu den zehn größten Importeuren von Rüstungsgütern weltweit. Allerdings weisen westliche Militärattachés ‚hinter vorgehaltener Hand auf die Unfähigkeit des saudischen Militärs hin, ihren wild zusammengekauften und überzüchteten Fuhrpark technisch in den, Griff zu bekommen. Unfreundliche Beobachter spekulieren, dass ein autonom handlungsfähiges Militär gar nicht gewünscht ist. Schließlich werden Umstürze auch in arabischen Staaten oft von Offizieren angeführt. Auch im Königreich sind in den sechziger und frühen siebziger Jahren Militärkomplotte aufgedeckt worden. Andererseits wächst das Königshaus exponentiell, nunmehr schon in der vierten Generation. Damit ergeben sich mehr Möglichkeiten, Schlüsselposten im Militär mit Familienmitgliedern zu besetzen. Angeblich wird den Al-Saud jeden Tag ein Prinz geboren.
Die anfangs gigantischen Budgetüberschüsse verführten die Al-Saud auch zu harmloseren Spielereien: Zeitweise war Saudi-Arabien der Welt sechstgrößter Weizenexporteur - der Weizen wurde in bewässerter Wüste mit ungeheuren Kosten und Schäden für die Umwelt angebaut. Verschwendungssucht und Irrationalität in der Planung waren zumindest bis in die neunziger Jahre hinein mehr als ein Klischee. Auch promovierte Technokraten konnten die Prinzen oft nicht bremsen.
Nicht zuletzt hatte der Ölreichtum eine radikale Verwestlichung des Konsumverhaltens zur Folge. In Riad gibt es pro Kopf wahrscheinlich mehr Fast- Food-Restaurants als in den USA, dasselbe gilt für Satellitenschüsseln und riesige Einkaufszentren. Manche jüngeren Ulama sehen darin eine Gefährdung des Islam.
Schon öfters hat sich im Volk Unmut ob der Verschwendungssucht der vielen tausend Prinzen geregt. Nach König Feisals Tod sind nämlich die Apanagen, die Abfindungszahlungen für die an der Regierung nicht beteiligten Mitglieder des Königshauses, für so manche Prinzen und Prinzessinnen ins Astronomische gestiegen, und das Insidergeschäft mit Kommissionen und Monopolen ist aufgeblüht. Inzwischen reichen die staatlichen Ölgelder nicht mehr aus, um jedem der schätzungsweise 12. Millionen Saudis ein Leben nach westlichen Standards zu ermöglichen. Erste Budgetdefizite hatte die Regierung bereits 1983 eingefahren; bis zum Jahr 2000 wuchs die Verschuldung ständig. Sogar der unerwartete Ölgeldsegen seit der zweiten Jahreshälfte 1999 wird von dem inzwischen gigantischen Defizit aufgefressen. Die geschätzte Staatsverschuldung liegt bei über 100 Prozent des Bruttosozialprodukts. In Saudi-Arabien gibt es inzwischen sogar zunehmend offene Armut, nicht nur unter Gastarbeitern. Die rundumversorgte Mittelklasse ist ein nicht mehr finanzierbares Auslaufmodell.
Den sich daraus ergebenden Reformdruck spüren die Al-Saud schon seit Mitte der achtziger Jahre. Angestoßen vom Wirbel des Golfkriegs hatten Anfang der neunziger Jahre mehrere hundert Ulama sowie Vertreter des wirtschaftlichen Establishments dem König verschiedene Petitionen vorgelegt. Allen gemeinsam waren Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Transparenz; eine umfassende Demokratisierung wagte niemand zu verlangen.
Im März 1992 erließ König Fahd daraufhin mehrere Dekrete. Das Dokument zum basic system of government legte in 83 Artikeln Grundsätze für die Regierungsführung fest. Außerdem räumte es einige Grundrechte ein wie das Briefgeheimnis und sogar den Schutz vor willkürlicher Verhaftung, meist allerdings unter einfachem Gesetzesvorbehalt. Eine Verfassung - so sieht das auch der König - ist das basic system nicht, erklärt doch der erste Artikel das Buch Gottes und die Sunna zur eigentlichen Verfassung. König Fahd bekannte freimütig, dass er im Wesentlichen nur das festgeschrieben habe, was vorher schon Usus gewesen sei. Ein klares Prozedere für das Einklagen von Grundrechten ist nicht erkennbar.
Mit einem zweiten Dekret schuf der König eine beratende Versammlung, eine Madjlis As-Shura, die schon seit 1962 mehrmals angekündigt worden war. Dieses Organ hat inzwischen 90 Mitglieder, vornehmlich Technokraten, ausnahmslos vom König bestellte Männer. Das alte Stammesinstitut der Shura dient eigentlich der persönliche Beratung zwischen Herrscher und Untertan. Provinzgouverneure und andere Prinzen bieten tatsächlich solche Shura regelfmäßig an. Bei einem Millionenvolk kann das aber kaum eine funktionierende Alternative zu Wahlen sein, schließlich ist die Shura für Stämme mit ein paar hundert oder tausend Mitgliedern gedacht. Die vorgetragenen Wünsche und Fürbitten betreffen meistens unpolitische, lokale Themen.
Nach dem zweiten Golfkrieg wurde wieder größere religiöse Strenge in der saudischen Öffentlichkeit durchgesetzt. Das liegt wohl auch daran, dass hinter den schärfer formulierten islamischen Petitionen Ulama standen, die auf einen organisierten Apparat zurückgreifen können. Obwohl Moscheen und islamische Universitäten am Tropf des Staatshaushalts hängen, kann sich das Herrscherhaus keine allzu offene Einmischung in religiöse Angelegenheiten leisten. Viele jüngere Rechtsgelehrte sind in einem halbwegs selbstständigen Mittelbau von theologischen Hochschulen und Moscheen groß geworden, einem Raum für islamische Öffentlichkeit und - begrenzt - für islamische Politik.
Das symbolische Zugeständnis in Form der Madjlis As-Shura genügte den entschlosseneren Oppositionellen allerdings nicht: 1993 gründete Mohammad Al-Massari, Physikprofessor an der Universität Riad, das Committee for the Defense of the Legitimate Rights (CDLR). Nach vorübergehender Verhaftung und Flucht über den Jemen ging Al-Massariins Exil nach London, wo er und seine wenigen Getreuen eine lautstarke Anti-Saud-Kampagne betrieben. Bald wurde eine verstärkte Islamisierung des CDLR spürbar. Tm September 1994 wurden zwei prominente Prediger verhaftet, Salman Al-Awda und Safar Al-HawaIi. Nach westlichen Begriffen sind beide Fundamentalisten, fordern sie doch ein absolutes Zinsverbot und lehnen den Friedensprozess im Nahen Osten ab. Aber gerade die islamische Opposition leitet aus der Scharia auch Menschenrechte ab, wie das Recht auf Privatsphäre oder die Freiheit von Unterdrückung und willkürlicher Festnahme. Genau bei diesen Fragen könnte die Autorität des Regimes eines Tages Risse zeigen, wenn sie die Unterstützung der Fundamentalisten verliert. 1996 kam es aber zu einer Spaltung des CDLR. Danach ließ die Aktivität der beiden Londoner Gruppen stark nach.
Ein kleiner Ruck ging 1995 durch das Land, als Kronprinz Abdallah, der in den Jahren zuvor eher abseits gestanden hatte, ins Rampenlicht trat, während König Fahd mehrmals für längere Zeit im Krankenhaus verschwand. Fahd, seit 1982 König und wohl der USA-treueste Herrscher seit Bestehen des Staates, sagte man Trägheit nach - schon bevor er hinfällig wurde. Die 1995 von Abdallah angestoßene und seit 1999 forcierte Reformpolitik der Regierung will nun vor allem das gewaltige Haushaltsdefizit abbauen und die saudische Wirtschaft für ausländische Investoren öffnen. Seit Kronprinz Abdallah faktisch die Regierungsgeschäfte vom siechen König Fahd übernommen hat, reagiert das Herrscherhaus Al-Saud endlich auf die Massenarbeitslosigkeit und wuchernde Staatsverschuldung. Doch so sehr er sich auch die Liberalisierung auf die grüne Flagge geschrieben hat, bislang ist die Öffnungspolitik auf die Wirtschaft beschränkt geblieben. In Politik und Gesellschaft halten Prinzen und König die Zügel straff wie eh und je.
Seit zwei Jahren werden dafür die wirtschaftlichen Reformschritte größer: Das Regime fährt die riesigen Subventionen zurück, verhandelt ernsthaft über eine WTO-Mitgliedschaft, ruft zu transparentem Wirtschaften auf, privatisiert endlich. Ausländer können nun Eigentum im Königreich erwerben und eigene Unternehmen ohne saudische Zwangspartnerschaft gründen. Diskriminierungen für Ausländer müssen vor dem WTO-Beitritt größtenteils verschwinden - die neuen Grenzen für die Klientelwirtschaft werden offensichtlich. Sogar in die Gasförderung sollen internationale Konzerne Milliarden investieren dürfen. Abdallah und eine Riege jüngerer Prinzen hoffen auf das Kapital von Ausländern, aber auch auf privates saudisches Auslandskapital. Die Exporte von anderen Produkten als Öl sollen endlich über 10 Prozent steigen, durch Investitionen in anderen Branchen soll sich das Königreich schrittweise vom Öl und den Achterbahnfahrten des Ölpreises unabhängiger machen.
Die Opfer dieser Strategie sind andere Prinzen und regimenahe Geschäftsleute, die ihre Privilegien und Monopolgeschäfte verlieren. Der Familienrat, den Abdallah im Frühjahr 2000 gegründet hat, könnte ein Instrument zur Disziplinierung der Prinzen werden. Die Reformen werden dagegen regimeunabhängige Geschäftsleute stärken, die nicht Nepotismus und Verschwendungssucht als Erwerbsgrundlage haben. Aber die Sparmaßnahmen treffen auch die zunehmend breite Schicht der Armen.
Wird das System durch Modernisierung und wirtschaftliche Öffnung kulturell unterspült werden? Die mühselige Internet-Zensur mag der Marktliberalisierung zum Opfer fallen. Aber schon heute stehen auf saudischen Dächern über eine Million Satellitenschüsseln. Die Versuche der Regierung, unliebsame Satellitenprogramme zu blockieren, sind nicht so effektiv wie die Schwarzstifte der Zensoren-Hundertschaften, die manche ausländischen Publikationen, wie das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", mehr oder weniger unlesbar machen (die saudische Sozialhygiene lässt den "Stern" erst gar nicht zu, für einen geschmuggelten "Playboy" zahlt man angeblich 100 Dollar). Das saudische Staatsfernsehen zeigt oft minutenlang Bilder von händeschüttelnden Prinzen und Diplomaten in edlen Palästen. Das Ganze wird mit klassischer Musik untermalt, ohne Originalton oder Kommentar - die Hinwendung zu amerikanischen Kanälen ist nur allzu verständlich.
Die Flut ausländischer Kulturerzeugnisse führt zu gegensätzlichen Reaktionen: Zum einen ist da der Wunsch hauptsächlich der jungen Generation nach zumindest einigen der westlichen Alltagsfreiheiten, die sie auf CNN oder MTV täglich präsentiert und vorgelebt bekommen, andererseits verlangen konservative Kräfte, das Land von den westlichen Einflüssen abzuriegeln. Diese Spaltung teilt das Land, setzt die Herrscher unter beidseitigen Rechtfertigungsdruck, verhindert aber auch das Entstehen einer geeinten Opposition. Im günstigsten Fall können die herrschenden Al-Saud diesen Gegensatz ausbalancieren und nach der Methode "teile und herrsche" die Kräfte gegeneinander ausspielen.
So geschlossen, wie sie nach außen erscheinen mag, ist die Herrscherfamilie selbst jedoch auch nicht. Es gibt Fraktionen und ideologische Unterschiede unter den Al-Saud. Die prominenteste Rolle haben in den letzten 18 Jahren die "Sudairi Seven" gespielt. Alle sieben sind Söhne derselben Frau des Staatsgründers Abdalaziz, und fast alle von ihnen sind über 70 Jahre alt, ihr Kopf König Fahd ist bald 80. Ihnen gehört Prinz Sultan, der Verteidigungs- und Luftfahrtminister, ebenso an wie Prinz Naif, der Innenminister, und Prinz Salman, der Gouverneur von Riad. Prinz Sultan ist als zweiter stellvertretender Premier (nach Kronprinz Abdallah) offiziell der dritte Mann im Staat und der zweite in der Erbfolge. Eine weitere exponierte Gruppe bilden die Söhne von König Feisal, der 1964 bei der Absetzung seines Vorgängers König Saud half und 1975 von einem Neffen ermordet wurde. Den noch einigermaßen jungen Feisal-Nachkommen wird Westorientierung und Reformwillen nachgesagt. Ihr bekanntester Vertreter ist Außenminister Prinz Saud. In ihrem Status ist diese Gruppe aber mit den Söhnen des Staatsgründers noch nicht vergleichbar. Das liegt vor allem an der "horizontalen Thronfolge", die sich Abdalaziz auf seinem Sterbebett gewünscht haben soll: Bis zum Tode des letzen seiner gut 40 Söhne bleibt theoretisch die Krone der ersten Nachfolgegeneration vorbehalten. Die Angst vor einer Gerontokratie schnell nacheinander dahinscheidendener Greisenmonarchen ist groß, saudische Geschäftsleute haben heimlich schon Vergleiche mit der Sowjetunion der frühen achtziger Jahre angestellt.
Nach Fahds seit langem vorhergesagtem Abtritt wird aller Wahrscheinlichkeit nach der quasi schon regierende Kronprinz Abdallah König werden. Er ist nur ein Jahr jünger als Fahd, aber körperlich fit und dank seines vergleichsweise asketischen Lebenswandels im einfachen Volk leidlich beliebt. Früher wurde er einer religiös-konservativen Ecke zugerechnet. Seine Mutter gehörte einem ehemaligen Feindstamm der Shammar an, Vollbrüder hat Abdallah nicht. Aber er stützt seine Macht auf eine breite Basis: Seit fast 40 Jahren führt er die Nationalgarde an, die sich vor allem aus den Reihen der Beduinen rekrutiert.
Seit den Glanztagen des arabischen Nationalismus in den Fünfzigern ist schon oft der Untergang der Al-Saud Dynastie und der benachbarten Golfscheichtümer prophezeit worden. Gewiss, der Umsturz steht dem Königreich auch jetzt nicht unmittelbar bevor, sicher aber eine bewegte Zeit, eine Zeit der Machtverschiebungen. Wenn Abdallah das Ruder nicht noch ein gehÖriges Stück weiter herumreißt, könnte die Abwärtsdynamik von Armut und Arbeitslosigkeit das Königshaus eines Tages hinwegfegen - die sozialen Probleme nehmen täglich zu. Aber Abdallah kann drastische Änderungen kaum durchsetzen. Die Könige seit 1953 waren nie klassische Alleinherrscher; das Konsensprinzip der Prinzenherrschaft lässt Reformen im Alleingang nicht zu.
Seit Mitte der neunziger Jahre scheint sich die innersaudische Kritik - vorerst jedenfalls -verausgabt zu haben. Das Königshaus konnte es sich leisten, im Juni 1999 die oppositionellen Geistlichen Al-Awda und Al-Hawali freizulassen; vielleicht gegen eine Versicherung der beiden, dass sie nicht mehr agitieren werden. Im August 1999 allerdings wurde ein Dozent der Imam- Universität in Riad verhaftet - wegen eines Fahd-kritischen Gedichts über die beiden Prediger. Gegenwärtig sitzen nach einer Schätzung von amnesty international immer noch zwischen 100 und 200 politische Gefangene in saudischen Zellen.
Friedhofsruhe ist in Saudi-Arabien noch nicht eingekehrt: Im April 2000 lieferten sich Sicherheitskräfte in Najran an der Grenze zum Jemen ein Scharmützel mit einer Gruppe Ismailiten, Angehörigen einer schiitischen Sekte. Offiziell wurde der Schlagabtausch auf einen bösen Zauberer geschoben, der in der Gegend sein Unwesen getrieben haben soll. Najran steht historisch dem Jemen näher, und Ismailiten sind im Königreich eine kleine Randgruppe. Eine beträchtliche schiitische Mehrheit gibt es hingegen in der ölreichen Ostprovinz, einem für die Al-Saud seit jeher schwierigen Gebiet. Im August 2000 mussten Sondereinheiten eingeflogen werden, als in Al-Jouf im Norden des Landes Gefängnisinsassen revoltierten. Es brodelt nicht, aber es gärt im Königreich. Gerade für Neo-Wahabiten bietet die königliche Familie nach wie vor breite Angriffsflächen. Und Ibn Taimiya, eine im saudischen Verständnis zentrale hanbalitische Figur, hat gelehrt: Ein Herrscher, der sich nicht an die Scharia hält, soll gestürzt werden!
aus: der überblick 01/2001, Seite 113
AUTOR(EN):
Steffen Hertog :
Steffen Hertog ist zurzeit Student am Trinity College in Oxford, Großbritannien. Er hat bis zum Herbst 2000 fünf Monate als Trainee bei der Deutsch-Saudi-Arabischen Handelskammer in Riad gearbeitet.