Die Mittelmacht und ihr stilles Südseeparadies
30 Jahre nach dem ersten Atombombentest auf dem französisch- polynesischen Atoll Moruroa und fast zehn Jahre nach der spektakulären Testserie unter dem französischen Präsidenten Jacques Chirac regen sich Stimmen ehemaliger polynesischer Testhelfer. Sie fordern eine umfassende Aufklärung und Wiedergutmachung.
von Ingrid Schilsky
Dora, Edith, Nicole, Brigitte, Yvonne, Françoise … - die Bohrlöcher auf dem Riff des Moruroa-Atolls tragen Frauennamen. Nach etwa 50 Namen, also Bohrungen und unterirdischen Atomexplosionen war auf dem Atollring kein Platz mehr, die Bohrlöcher wurden dann mit Hilfe in der Lagune schwimmender Bohrplattformen in den Sockel des Atolls getrieben. 154 Atombombentests haben zwischen 1975 und 1996 den Untergrund der Südsee-Atolle Moruroa und Fangataufa durchlöchert, davor verseuchten 41 oberirdische Explosionen die Inseln, radioaktive Niederschläge waren noch viele tausend Kilometer entfernt in Australien und den Andenstaaten messbar.
“Frankreich wird niemals Atombombenversuche im Pazifik durchführen”, hatte Louis Jacquinot, der französische Minister für die Sahara, die Überseeischen Départements und Überseeische Territorien, noch im Jahr 1961 erklärt. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt wurde auf Tahiti - unter Vorwänden und daher von der einheimischen Bevölkerung nicht richtig interpretiert - die Infrastruktur für die Aufnahme einer großen Zahl von Soldaten geschaffen. Denn man vermutete, dass das bisherige Testgelände in dem nach Unabhängigkeit strebenden Algerien, bald aufgegeben werden müsste. Eine Serie von 13 unterirdischen Nukleartests hatte im November 1961 in Reggane in der Sahara begonnen. Im Jahr davor war in der algerischen Sahara die erste von vier atmosphärischen Atomexplosionen gezündet worden - von Präsident Charles de Gaulle mit einem Glückwunschtelegramm begrüßt: “Hurra für Frankreich. Seit diesem Morgen ist es stolzer denn je.” Eine Untersuchung der Folgen dieser Sahara-Tests gibt es bis heute nicht, auch nicht der Auswirkungen auf vermutlich verseuchte Tuareg-Nomaden.
Die Atomstreitkraft war unter Präsident de Gaulle als eigenständige Abschreckungswaffe gegen die damalige Sowjetunion gerichtet und diente der Autonomie Frankreichs von den USA. Ein auf lange Sicht nutzbares Testgebiet für Frankreichs nukleares Arsenal war daher erforderlich. Spezialisten prüften Frankreichs Inseln in entfernten Weltgegenden auf ihre Eignung. Die meisten kamen aufgrund ihrer Formation, der geografischen Lage und Erreichbarkeit, der meteorologischen Verhältnisse oder der Bevölkerungsdichte als Explosionszentrum nicht in Frage. Im Februar 1962 traf dann General Jean Thiry, der von 1963 bis 1969 das “Zentrum von Moruroa” leitete, bei einer Inspektion des Tuamotu-Archipels die (zunächst geheim gehaltene) Entscheidung so schnell, dass statt des korrekten polynesischen Namens Moruroa - übersetzt “großes Geheimnis” - telegrafisch Mururoa durchgegeben wurde - die Bezeichnung, die die französische Verwaltung bis heute verwendet.
Das 1500 Kilometer von Tahiti entfernte Moruroa-Atoll galt den Franzosen als unbewohnt, war jedoch in den Rahui der Einheimischen mit einbezogen, das heißt, die Polynesier der umliegenden Inseln kamen etwa alle drei Monate zum Ernten von Kokosnüssen, zum Fischen und Jagen von Vögeln nach Moruroa. Tahiti und die 120 weiteren Inseln Französisch-Polynesiens lebten Anfang der sechziger Jahre größtenteils von Subsistenzwirtschaft, exportiert wurde lediglich Kopra, Vanille und Perlmutt. Und die Beschäftigung von über 2000 Staatsbediensteten verursachte ein enormes Haushaltsdefizit.
Die Territorialversammlung in Tahiti reagierte auf die Gerüchte über ein Atomtestzentrum mit einem Protestschreiben direkt an die französische Regierung, jedoch in einer sehr höflichen Form, mit der Freundlichkeit, für die die Polynesier von Europäern immer gerühmt worden waren. Dieser Brief war Paris nicht einmal eine Antwort wert. Eine polynesische Delegation, die sich Anfang 1963 wegen des großen Haushaltsdefizits nach Paris begab, wurde jedoch mit großem Pomp im Elyssee-Palast empfangen. Der Zusicherung, Frankreich werde alles für das materielle Wohl Polynesiens tun, folgte die offizielle Bekanntgabe, dass die südlichen Inseln des Tuamotu-Archipels zum zukünftigen Atomtestzentrum Frankreichs ausgebaut würden.
Über den eigens gebauten modernen Flughafen in Faa’a überschwemmten in den Folgejahren zwischen 15.000 und 20.000 französische Militärangehörige und Techniker die Hauptinsel Tahiti - mit damals 50.000 Einwohnern - und weitere Inseln des französischen Übersee-Territoriums. Kinos, Clubs und Bars wurden gebaut, später auch Videoshops. Um die Probleme mit dem neuentstandenen Männerüberschuss zu lösen, wurde sogar diskutiert, Bordelle mit Prostituierten aus Asien einzurichten.
Der Alltag der Maohi (Polynesier), die zuvor nicht einmal mit einem Flughafen an die Welt angeschlossen waren, änderte sich rapide. Die militärischen Einrichtungen auf Tahiti und im Testgebiet boten jetzt Möglichkeiten, Bargeld zu verdienen. Allein auf Moruroa, Fangataufa und der Militärbasis Hao fanden zwischen 1963 und 1997 ständig 10.000 bis 15.000 Polynesier Arbeit. Auf Tahiti wurde das Baguette zum Hauptnahrungsmittel, statt tropischer Früchte kamen französische Äpfel auf den Tisch, die Regale der Lebensmittelläden auch in kleinen Dörfern sahen bald genauso aus wie die Regale in der Normandie: mit französischem Wein und Käse, Erbsendosen, Maggi und Krabbenkonserven aus Dänemark. Im gleichen Maße verschwanden einheimische Kleidungsstücke, Sitten und Gebräuche - auch begünstigt durch das bis vor 25 Jahren in den Schulen herrschende Verbot, die Maohi-Sprache zu sprechen.
Im Jahr 1963 unterzeichneten die USA, Großbritannien und die Sowjetunion den partiellen Atomtestsperrvertrag, der Nuklearversuche in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum verbietet. Das öffentliche Entsetzen über radioaktives Strontium in den Milchzähnen US-amerikanischer Kinder hatte dazu beigetragen. Dies hinderte Frankreich nicht daran, am 2. Juli 1966 die erste atomare Sprengladung auf einem in der Lagune von Moruroa verankerten Schiff zur Explosion zu bringen. Die einheimischen Arbeiter wussten nichts über die Gefährlichkeit von Radioaktivität, Fotos der spektakulären Atompilze waren begehrt, in vielen Wohnhäusern hingen sie als Poster an der Wand.
Trotz verbreiteten Unwissens kam es zu vielfältigen Protesten auf Tahiti, die aber jahrelang genauso wenig Beachtung fanden wie die auf den tausende von Kilometern entfernten Inseln von Samoa und Fidschi, wo radioaktiver Niederschlag gemessen wurde. Engagierte Segler drangen ab 1972 in das von Frankreich gesperrte Meeresgebiet ein, Neuseeland schickte eine Fregatte mit einem Minister ins Testgebiet, die Regierungen von Japan, Chile und Ekuador protestierten. Peru brach nach radioaktivem Niederschlag seine diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ab. Australien - unterstützt von Neuseeland und Fidschi - erreichte 1973 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die oberirdischen Tests. Aber erst im September 1974, nach mindestens 41 oberirdischen Atomexplosionen, verkündete Frankreich, künftig nur noch unterirdische Versuche durchführen zu wollen.
Die Löcher für die atomaren Sprengladungen wurden durch den Korallenkalk hindurch in den Basalt des Vulkankegels gebohrt. Die Explosionshitze ließ einen Teil des Gesteins verdampfen, in die Hohlräume sackten abgesprengte Gesteinsmassen, und schon bald entstanden an der Atolloberfläche und den äußeren Atollwänden lange Risse im Gestein - die Jacques Cousteau später auch filmte. Durch die Risse entwichen schon unter normalen Umständen radioaktive Gase; hinzu kamen zahlreiche, auch mit Flutwellen verbundene Unfälle. Das flache Atoll sank um etwa zwei Meter. Zwei Meter Absinken sind nicht wieder gut zu machen. Denn ein Korallenatoll kann nur im Laufe von Jahrmillionen entstehen, wenn ein riesiger Vulkankegel etwa mit derselben Geschwindigkeit im Meer versinkt wie die ihn ringförmig umgebenden Korallen an der Meeresoberfläche nachwachsen.
In Tahiti formierte sich immer mehr Widerstand auch in der protestantischen Kirche, die unabhängigen pazifischen Staaten einigten sich auf einen Vertrag über einen atomtest- und atomwaffenfreien Pazifik. 1985 wurde das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior auf seiner Protestfahrt Richtung Moruroa-Atoll im neuseeländischen Hafen von Auckland von französischen Geheimdienstagenten versenkt, wobei ein Mensch ums Leben kam. 1992 verkündete Frankreichs Präsident Mitterrand schließlich ein Atomtestmoratorium, das aber 1995 von Jacques Chirac aufgehoben wurde. Trotz weltweiter Proteste und heftiger Unruhen in der tahitischen Inselhauptstadt Papeete wurden sechs atomare Explosionen gezündet, erst im Januar 1996 brach die französische Regierung die Testreihe ab.
Die militärischen Anlagen auf dem Moruroa-Atoll sind inzwischen abgebaut. Aber was geschieht, wenn der mit dem Klimawandel steigende Meeresspiegel, heftigere Stürme und größere Flutwellen an einem rissigen, durchlöcherten, mit radioaktiven Stoffen vollgebombten Atoll nagen, in dessen Lagunenschlamm noch kiloweise Plutonium verteilt ist?
Schon bald nach Beginn der Atomtests klagten die Bewohner einiger Inseln, so auf dem 400 Kilometer von Moruroa entfernten Hao-Atoll, darüber, dass sie nach dem Genuss selbstgefangener Fische immer häufiger erkrankten. Sie wurden jedoch nicht ernst genommen, zumal ein Auftreten stark radioaktiv verseuchter Fische in dieser Entfernung unwahrscheinlich war. Erst Jahre später deckten unabhängige Wissenschaftler die Zusammenhänge auf, die französische Forscher längst vermutet, aber nicht veröffentlicht hatten: An durch Atomexplosionen oder Bauarbeiten zerstörten Korallenriffen siedelt sich eine besondere Algenart an, auf der giftproduzierende Geißeltierchen gedeihen. Den Fischen, die mit den Algen das Gift aufnehmen, scheint es wenig auszumachen, im Gegensatz zu den Menschen am Ende der Nahrungskette. Bei ihnen führt die Fischvergiftung Ciguatera zu schweren neurologischen Störungen, mit Lähmungen und Magen-Darm-Beschwerden, die monatelang anhalten und sogar zum Tode führen können.
Auf der südöstlich von Moruroa gelegenen Insel Mangareva, die während der späteren oberirdischen Atomtests mit Fall-out-Schutzhütten ausgestattet war, wurde die weltweite höchste Konzentration der giftproduzierenden Organismen gemessen. Dort ist jeder Inselbewohner schon mehrmals an Ciguatera erkrankt. Auch auf dem Hao-Atoll - das für die Atomtests zu einer riesigen Militärbasis ausgebaut worden war - hatte 1968 fast die Hälfte der einheimischen Bevölkerung schon einmal an Ciguatera gelitten. Bei den von Fisch als Haupteiweißlieferant abhängigen Inselbewohner führen wiederholte Ciguatera-Vergiftungen zu zunehmend schweren Erkrankungen, und bei einem Teil der Genesenen können die Symptome auch durch das Essen von Hühnerfleisch oder nichtbelastetem Fisch neu ausgelöst werden.
Während bei diesen Fischvergiftungen die Kausalitätskette heute unbestritten ist, bleiben alle weiteren schweren Erkrankungen geheimnisvoll, an denen viele Polynesier litten und leiden, die auf Moruroa gearbeitet haben. Die möglichen Folgen radioaktiver Bestrahlung sind unter Wissenschaftlern wenig umstritten: bestimmte Krebserkrankungen, Fehlgeburten, Missbildungen bei Neugeborenen, Schädigungen des Immunsystems. Dass Krebs bei einer Einzelperson auf Radioaktivität zurückgeht und nicht auf andere Faktoren, kann jedoch nur sehr schwer nachgewiesen werden. Vermutungen lassen sich am ehesten bestätigen, wenn in einer Bevölkerungsgruppe ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz an bestimmten Krankheiten leidet. Seit Ende 1963 wurden jedoch keine polynesischen Krankheitsstatistiken mehr veröffentlicht. Wann immer ein Arbeiter erkrankte, wurde er gleich in ein französisches Militärhospital auf Tahiti gebracht und in schweren Fällen nach Paris ausgeflogen. Zugang zu ihren Krankenakten haben die Polynesier bis heute nicht.
Viele Leidensgeschichten gleichen jedoch den Krankheitsfällen in anderen radioaktiv verseuchten Gegenden der Erde. Die Beschreibung der unförmigen so genannten Quallenbabies von Frauen aus dem US-amerikanischen Atomtestgebiet des Bikini-Atolls der Marshall-Islands erinnert an das, was Tina K. schildert, die ein gesundes Kind zur Welt gebracht hatte, bevor ihr Mann zur Zeit der atmosphärischen Tests als Bauarbeiter auf Moruroa sein Geld verdiente: “Mein Mann wurde schwer krank, und ich habe sechs Kinder verloren. Das erste ist morgens zur Welt gekommen, und abends war es tot. Das zweite ist auch gleich nach der Geburt gestorben. Ein weiterer Junge hat zwei Monate gelebt, ein Mädchen drei Wochen und der letzte Junge acht Monate. Und ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, den ich zur Welt gebracht habe: Nach der Geburt wollte ich ihn in die Arme nehmen und an mich drücken, da hat sich seine Haut abgelöst.”
Fast alle auf Moruroa Beschäftigten hatten in ihren Arbeitsverträgen unterschrieben, dass sie nicht über ihre Arbeit reden werden - und hielten sich viele Jahre daran, auch aus Angst vor finanziellen Nachteilen. Die Auswirkungen der Atomtests waren jahrelang kein öffentliches Gesprächsthema in Französisch-Polynesien, obwohl in vielen Familien Angehörige erkrankten. Erst am 4. Juli 2001 schlossen sich polynesische Testveteranen zur Vereinigung Moruroa e tatou (Moruroa und wir) zusammen, kurz nachdem in Frankreich Soldaten und Zivilangestellte, die an den Atomtests in der Sahara und Polynesien teilgenommen hatten, die Association des Vétérans des Essais Nucléaires (AVEN) gegründet hatten. Die heute etwa 1600 Mitglieder von Moruroa e tatou fordern freie Einsicht in ihre Krankenakten, die Öffnung der Archive über die Atomtests und - wie in den USA - die gesetzliche Anerkennung von Strahlenkrankheiten bei Atomtest-Teilnehmern mit entsprechenden Entschädigungszahlungen. Ferner verlangen sie eine staatliche Finanzierung radiobiologischer Untersuchungen aller Testveteranen. Das ist das einzige (jedoch sehr teure) Verfahren, das Rückschlüsse auf die Strahlenbelastung eines einzelnen Individuums zulässt.
Bei einem kurzen Besuch der französischen Ärzteorganisation Médecins du Monde im Juni 2003 in Tahiti haben die Ärzte sehr seltene Krebsarten entdeckt und waren allgemein über die Art der medizischen Betreuung entsetzt. Deshalb beschlossen sie, eine größere Untersuchung zu starten, die nicht nur die ehemaligen Moruroa-Arbeiter und ihre Familien einschließen soll, sondern auch die Nachbarinseln der Atombombentests.
Die gesundheitlichen Folgen der Nuklearversuche lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Aber die Menschen könnten etwas von ihrer Würde zurückerhalten, wenn ihre Regierung sie ernst nähme - auch wenn sie weit weg von ihrem “Mutterland” leben, in einer dünn besiedelten Weltgegend, die gerade deshalb für die krankmachenden Atomtests auserkoren wurde.
aus: der überblick 01/2004, Seite 61
AUTOR(EN):
Ingrid Schilsky:
Ingrid Schilsky hat einige Jahre als freie Journalistin im Pazifik gelebt, dort viele Inseln bereist und Zeugen französischer, US-amerikanischer und britischer Atomwaffenversuche interviewt. Heute ist sie im Pazifik- Netzwerk e.V. (www.pazifik-infostelle.org) aktiv.