Argentiniens Finanzelite ist den Rezepten internationaler Kreditgeber gefolgt - bis zum Ruin des Landes
Argentinien kann seine Schulden im Ausland kaum noch bedienen, und große Teile der Bevölkerung sind verarmt. Das ist das Ergebnis von mehreren Jahrzehnten neoliberaler Politik, die unter der Militärdiktatur begann. Die Reformen unter Präsident Menem - insbesondere die Bindung der Landeswährung an den US-Dollar - besiegten zwar zu Beginn der neunziger Jahre die Inflation. Der Preis dafür war aber das Anwachsen der Außenverschuldung und des Handelsdefizits; zugleich wurden staatliche Unternehmen weit unter Wert verkauft. Nun, da der Aufschwung vorbei und das Tafelsilber verschleudert ist, ist Argentinien praktisch pleite.
von Karl-Ludolf Hübener
Selbstgestrickte Pullover, Gemüse aus dem eigenen Garten, handgeschneiderte Hosen, Torte und Brot aus dem eigenen Ofen, Knöpfe, Spielsachen, Töpfe - die ganze Palette eines Supermarkts liegt aus, allerdings ohne Markennamen. Alles wird auf Tauschbasis "verkauft". Auch Dienstleistungen wie Haareschneiden und Zähneziehen werden bargeldlos bezahlt. Banken haben auf den Tauschmärkten in Buenos Aires ausgespielt.
1995 wurde der erste Tauschmarkt in der argentinischen Hauptstadt gegründet. Das Beispiel
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Die grassierende Misere ist das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Wohlstand vom Himmel herunter versprochen hat, die sich aber für die meisten Argentinier als betrügerisches Wortgeklingel entpuppt hat. "Wenn Argentinien ein Unternehmen wäre, wäre es schon längst pleite", urteilt der Wirtschaftswissenschaftler Fernando Porta. Gewiefte Anlageberater stufen das nach Brasilien zweitgrößte Land Südamerikas als das Land mit dem höchstem Risiko für Investitionen ein.
"Hausse in der Pampa" hatte ein Hamburger Nachrichtenmagazin noch vor Jahren gejubelt, denn mit "den wohl tiefgreifendsten Reformen, die je eine demokratisch gewählte Regierung in Lateinamerika durchsetzen konnte, werden die Weichen gestellt für bessere Zeiten." Die waren dem Land versprochen worden, wenn es nur brav die vom Ausland verschriebene neoliberale Medizin schlucken würde. Es schluckte, aber nun liegt es im Koma - und das, "nachdem es zehn Jahre seine Hausaufgaben erledigt hat", so der in Harvard lehrende Ökonom Jeffrey Sachs.
Früher galt das kaum bevölkerte Land am Rio de la Plata als eine der reichsten und attraktivsten Einwanderernationen auf der Welt, auch wenn am Wohlstand zunächst längst nicht alle teilhatten. Vor 1930 kamen aus der argentinischen Pampa zwei Drittel der Weltexporte an Rindfleisch und Mais und 20 Prozent an Weizen. Während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre brach der Absatz ein, und die Abhängigkeit von ausländischer Nachfrage wurde schmerzlich bewusst. Als Alternative bot sich eine importsubstituierende Industrialisierung an, die vor allem Juan Domingo Peron vorantrieb. Ihre Kernpunkte waren der Aufbau einer eigenen Industrie, vor allem für den Binnenmarkt, und eine aktive finanz- und wirtschaftspolitische Rolle des Staates.
Juan Domingo Peron, der 1943 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen war und 1946 zum Präsidenten gewählt wurde, schützte die neuen heimischen Industrien, vor allem die Leicht- und Konsumgüterindustrie, mit hohen Außenzöllen und Subventionen. Über einen längeren Zeitraum brachte das dem Land erhebliche Wachstumsraten und eine bessere Verteilung der Einkommen. Der linken Opposition und den alten, oft verfolgten Gewerkschaften nahm Peron den Wind aus den Segeln: Er sorgte für Gesetze und soziale Zugeständnisse, für die viele Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten jahrzehntelang vergeblich gekämpft hatten - Lohnerhöhungen, Arbeitsgerichtsbarkeit, Arbeitsschutz, Achtstundentag. In der neuen Verfassung von 1946 wurden erstmals in der Geschichte Argentiniens "Rechte der Arbeiter" verankert. Allerdings: Dazu gehörten wohl das Recht auf Arbeit, gerechten Lohn, gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit, aber kein Streikrecht. Dieses sei überflüssig, da die Regierung die Interessen der Arbeiter vertrete. Der peronistische Gewerkschaftsbund CGT war eine starke Stütze der Regierung, solange Peronisten - bis hin zum 1989 gewählten Präsidenten Menem in den achtziger Jahren - an der Macht waren.
Doch das binnenmarktorientierte Modell der peronistischen "Gerechtigkeitsbewegung" wurde von der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 in Argentinien wütete, grundsätzlich infrage gestellt. Ganz im Sinne des Internationalen Währungsfonds starteten die Gewaltherrscher eine "Politik der Öffnung". Zollsenkungen ebneten vor allem ausländischen Konsumgütern den Weg in die Geschäfte und verdrängten die argentinische Konkurrenz. Der Wegfall von Ausfuhrsubventionen setzte argentinischen Exporteuren zu. Fabriktore schlossen, der Industrialisierungsgrad sank. Die am stärksten betroffenen Branchen waren die Tex-til-, Bekleidungs- und Lederindustrie.
Gleichzeitig begann die Konzentration des Kapitals. So baute Amalia Fortabat, später Menems Sonderbotschafterin, ihr Zementunternehmen zu einem milliardenschweren Imperium aus. Die steinreiche Chefin des Konzerns war schon damals Großabnehmerin von staatlich produzierter Energie. "Erst wenn diese Dame die Gasrechnung für ihre Unternehmen bezahlt, wie es sich gehört, werde ich dieses Land ernst nehmen", meinte später ein US-Unterstaatssekretär.
Die neoliberale Öffnung ging einher mit schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einer Ausplünderung des Staates, Lohnverfall, Korruption, riesigen Defiziten im Staatshaushalt und in der Handelsbilanz sowie Spekulation. Die Zeit der Militärdiktatur war auch die Zeit des sogenannten "süßen Geldes": Internationale Banken boten Kredite wie Sauerbier an. Denn auf den internationalen Finanzmärkten waren die Zinsen auf Niedrigstniveau gefallen (die Zentralbanken der führenden Industrieländer versuchten in den siebziger Jahren, mit niedrigen Zinsen die Konjunktur anzuregen, bis sie seit 1980 auf eine Hochzinspolitik umschwenkten; Anm. d. Red.). Eine Finanzreform der Militärs öffnete den argentinischen Geld-, Kredit- und Kapitalmarkt. Geschäftsleute, Banker und Finanziers nahmen Dollarkredite jenseits der Grenzen auf und verliehen das Geld auf dem argentinischen Finanzmarkt zu höheren Zinsen. Eine neue soziale Schicht entstand, die patria financiera, die Finanzoligarchie. Wahre Vermögen wurden angehäuft - und außer Landes verschoben. Auf weit über 100 Milliarden Dollar wird heute das argentinische Fluchtkapital geschätzt.
Gleichzeitig klagten zahlreiche Firmen über unbezahlbare Schulden. Da sprang der Staat ein und sozialisierte die Schulden. In diese Zeit fällt der erste Auftritt des heutigen Wirtschaftsministers Domingo Cavallo: Er war gegen Ende der Militärdiktatur drei Monate lang Präsident der Zentralbank Argentiniens. Eine seiner wichtigsten Taten: Er verstaatlichte private Schulden in Milliardenhöhe und trug damit seinen Teil zum gewaltigen Berg an Staatsschulden bei. Dieser wuchs während der Militärherrschaft von rund 9,7 Milliarden US-Dollar auf 45,1 Milliarden.
Präsident Raúl Alfonsín, das erste zivile Staatsoberhaupt nach der Diktatur, setzte diese Praxis fort. Auch er übernahm die privaten Schulden. Den Defiziten im Staatshaushalt versuchte Alfonsín mit der Notenpresse beizukommen. Das Ergebnis war eine Hyperinflation; 1989 übersprang sie die 1000-Prozent-Marke. In Supermärkten mussten Kunden mit ansehen, wie die Butter, Fleisch oder Hemden noch am selben Tag mit neuen Preisetiketten versehen wurden. Verzweifelte Familienväter plünderten Regale. Supermärkte schlossen, Besitzer kleiner Geschäfte griffen zum Gewehr.
Im selben Jahr, sechs Monate vor dem offiziellen Ende seiner Amtszeit, warf ein entnervter Alfonsín das Handtuch. Sein Nachfolger wurde Carlos Saul Menem. Eine "produktive Revolution", kräftige Lohnzuschläge und mehr Arbeitsplätze hatte der Kandidat der Peronistischen Partei den gebeutelten Argentiniern im Wahlkampf versprochen. Aber er schlug dann - wie heute offensichtlich allgemein üblich - einen diametral entgegengesetzten Kurs ein. Gnadenlos demontierte der Peronist das Erbe Perons mit IWF-konformen Strukturanpassungsprogrammen. Damit versprach er, die Argentinier in die Erste Welt zu katapultieren. Mit von der Partie über sechs Jahre (1991-1996) hinweg: Superminister Domingo Cavallo, der "Architekt des argentinischen Modells" (Süddeutsche Zeitung). Er war ein gefeierter Redner auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos und umschmeichelter Star der internationalen Kreditgeber, die mit Glückwünschen für die Anpassungspolitik nicht geizten.
Zunächst verschaffte sich das neoliberale Gespann einen Sympathiebonus: Per Gesetz wurde im März 1991 der Wechselkurs zwischen dem argentinischen Peso und dem US-Dollar auf Eins zu Eins festgelegt. Die Inflation, die den Argentiniern schwer zugesetzt hatte, verschwand damit. Als sich dann auch noch Wirtschaftswachstum einstellte, schien auch der letzte Kritiker zu verstummen. Carlos Menem habe nicht nur - so eine deutsche Tageszeitung - "sein Äußeres auf Nadelstreifenformat gebracht, sondern vor allem in seinem Land aufgeräumt. Statt auf den Staat setzte der Präsident auf die private Initiative; er verordnete seiner Nation eine beispiellose Rosskur, die nach mehreren Versuchen endlich anschlug."
Gute Noten erhielt die Regierung auch, weil Menem und Cavallo ihre neoliberalen "Hausaufgaben" folgsam erledigten. Nicht zuletzt, weil rund 50 begehrte Staatsunternehmen privatisiert wurden: vom Telefon bis zum Erdöl, vom Gas bis zum Licht, von den Eisenbahnen bis zu den Straßen. Den Argentiniern wurde eingeredet, dass der Schuldenberg, der inzwischen auf über 60 Milliarden Dollar angewachsen war, aus dem Verkaufserlös abgetragen werden könne.
Doch kaum ein Dutzend argentinischer Firmen, im Verein mit multinationalen Konzernen, rissen fast alles an sich. Mehrere hatten mit kräftigen Spenden in den Wahlkampf Menems investiert. Die Familie Pérez Companc setzte mehr als 600.000 Dollar auf Menem. Der Lohn: Beteiligungen bei Gas, Licht, Telekommunikation und Eisenbahnen. Wie das Eigentum aller Argentinier verschleudert wurde, das brachte selbst den neoliberalen Übervater Milton Friedman auf die Palme. Er nannte die Privatisierung "einen Betrug an den Argentiniern" und spielte damit auf eine Korruption beim Verkauf der Unternehmen an, die alles bis dahin Erlebte in den Schatten stellte. Kein dicker Fisch unter den Korruptionsverdächtigen ist allerdings bislang verurteilt worden.
Zu Spottpreisen wurden einige Unternehmen verscherbelt - so die staatliche Telefongesellschaft. Sie wurde auf 10 Milliarden Dollar geschätzt, der Kaufpreis wurde jedoch auf nur fünf Milliarden Dollar festgelegt. Auf etwa 60 Milliarden werden die Einnahmeverluste beim Privatisierungsgeschäft taxiert. Verlierer war auch die Staatskasse, denn die einstigen Gewinne, die Rentenkasse, Pensionsfonds, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser gefüttert haben, verschwinden nun in den Taschen weniger. Vor der Privatisierung füllte allein der Erdölkonzern YPF (Yacimientos Petrolíferos Fiscales) alljährlich das Budget mit Milliarden auf.
Eine Katastrophe war der Ausverkauf auch für die meisten Beschäftigten. Der neue YPF-Besitzer, der spanische REPSOL-Konzern, schrumpfte die Belegschaft von 52.500 auf 5800 Mitarbeiter. Ganze Familien verloren nicht nur den Lohn des Ernährers, sondern auch noch die kostenlose ärztliche Versorgung und die Schule für die Kinder. Siedlungen verwandelten sich in Geisterdörfer.
Die Gehälter hoher Regierungsbeamter wurden dagegen um 200 Prozent erhöht. Wie sich das denn mit der Politik der Regierung vertrüge, den Rentnern, die zwischen 150 und 300 Dollar ausgezahlt bekämen, jegliche Erhöhung ihre Altersbezüge zu verweigern, wollten Journalisten wissen. Schließlich würden ihm, Cavallo, jeden Monat 10.000 Dollar überwiesen. Cavallo erwiderte, 10.000 Dollar seien für seine Ansprüche ein absolutes Minimum, allein 1000 Dollar müsse er für die Privatschule seiner Kinder aufbringen: "Ich verdiene eigentlich nur 2800 Dollar, das restliche Geld bekomme ich von der Mediterranea-Stiftung". Dieses Zubrot kommt von einer Stiftung, die Cavallo mitbegründet hat und in der multinationale Banken wie die Citibank und Chase Manhattan, Unternehmen wie Esso und Ford, aber auch privatisierte Firmen wie YPF und die Wasserwerke Aguas Argentinas vertreten sind, außerdem die neue Oligarchie Argentiniens.
Rentner und Pensionäre waren die ersten, die sich lautstark gegen den neoliberalen Kurs wehrten. Wenig später folgten Demonstrationen und Streiks unzufriedener Arbeiter, die gemerkt hatten, dass ihre Löhne zwischen den Jahren 1985 und 1993 um 33 Prozent gefallen waren. Noch schrieb ein Hamburger Nachrichtenmagazin: "in den Restaurants und Geschäften drängen sich die Kunden", da sammelten sich schon nach Mitternacht ganze Familien - Kleinkinder auf dem Arm, mit Plastiktüten ausgerüstet - vor den Türen von Restaurants und Fast-Food-Ketten im Zentrum der Hauptstadt. Geduldig warteten Alte und Junge darauf, dass die schwarzen Plastiksäcke voller Abfall auf den Bürgersteig gestellt würden - Essensreste aus der Küche.
Zum sozialen Abstieg wurden in den neunziger Jahren nicht nur entlassene Arbeiter und joblose Jugendliche gezwungen. Die Mittelschichten traf es ebenso hart. Immer weiter klaffte die Einkommensschere auseinander: Während 1991 die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 15-mal so viel verdienten wie die ärmsten 10 Prozent, so waren es an der Jahrtausendwende 26-mal so viel.
Der soziale Ausverkauf stieß auf immer mehr Gegenwehr. Selbst Straßenkinder, auch "Kinder des Volkes" genannt, marschierten für das "Recht auf Leben". Eine neue Form des sozialen Protests bürgerte sich ein - vor allem in den Provinzen, vom nördlichen Jujuy bis ins südliche Feuerland: Streikende und Protestierende errichteten Straßenblockaden aus brennenden Autoreifen. Piqueteros werden sie genannt.
Da sperrten Entlassene einer Transportgesellschaft stundenlang eine wichtige Nationalstraße. Eine alleinstehende Frau eilte mit ihrem kleinen Kind zu einer Sperre, weil es dort "wenigstens etwas zu essen gibt". Indianer blockierten eine Straße und forderten Land, Sozialhilfe und Essen, denn sie seien "doch auch Argentinier, oder etwa nicht?" Vor einem Stapel lodernder Reifen klagte ein 50jähriger ehemaliger Arbeiter der Erdölgesellschaft YPF: "Hier gab es früher alles, es gab Arbeit, aber nach der Privatisierung ist nichts übrig geblieben. Sie schleppen alles weg, ob Erdöl oder Gas, hier bleibt nichts mehr."
Brennende Blockaden seien mehr als nur Protest gegen Entlassungen und gegen Mangel an Arbeitsplätzen, meint der Soziologe Juan Villareal: Mit den piqueteros verbinde sich ein verzweifelter Schrei nach all den Rechten, "für die sich der Staat nicht mehr verantwortlich fühlt". Er übernehme keine Verantwortung mehr, weil er "aus Bürgern Konsumenten" gemacht habe. Unter den piqueteros sind nicht nur Arbeitslose, sondern auch Mütter, die ihre Kinder nicht mehr zur kommunitären Küche schicken können, weil das Geld ausgegangen ist, alte Menschen, die ohne ärztliche Versorgung bleiben, und Schüler, deren Unterrichtsstunden zusammengestrichen werden.
Offen gegenüber allen Menschen, die Härte und Brutalität neoliberaler Rezepte zu spüren bekommen, ist die Central de los Trabajadores (CTA, Zentrale der Arbeiter). Sie hat den wohl radikalsten Schritt vollzogen, den Bruch mit alten gewerkschaftlichen Traditionen. Die 1992 gegründete CTA hat inzwischen fast 800.000 Mitglieder (die peronistische, hierarchisch organisierte CGT rund 4 Millionen) und macht sich für gewerkschaftliche Autonomie und Demokratie stark. Sie ist wohl vor allem deshalb eine alternative Kraft, weil sie sich gegenüber anderen sozialen Organisationen geöffnet hat. Mehr als 200 Organisationen haben sich in die CTA eingeschrieben: Neben Gewerkschaften der Staatsangestellten und aus der Industrie beispielsweise auch die Union der beschäftigungslosen Arbeiter, Vereinigungen der Prostituierten und Straßenkinder, Land- und Hausbesetzer und die Indianerbewegung des Chaco.
Doch der Staat, dessen soziales Füllhorn zusehends versiegt, beginnt gegen die Proteste aufzurüsten. Armut wird kriminalisiert. Inzwischen gibt es "2000 Verhaftete, Angeklagte und Verurteilte im ganzen Land, die an verschiedenen Formen des Widerstands gegen gesellschaftliche Marginalisierung" teilgenommen haben, erklärt die CTA. Der Finger am Abzugshahn sitzt bei der Polizei locker. Das Zentrum für juristische und soziale Studien (CELS) hat bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte Klage eingereicht wegen der "systematischen Kriminalisierung von sozialen Protesten und Demonstrationen ... durch die Sicherheitskräfte".
Zehn Jahre Menemismus haben deutliche Spuren in Argentinien hinterlassen: eine Rezession, die Schattenwirtschaft und eine Arbeitslosigkeit, die Menem - der jetzt wegen illegaler Waffengeschäfte unter Hausarrest steht - noch versprochen hatte zu "pulverisieren", die sich derzeit aber der 20-Prozent-Marke nähert. Von den 9,2 Millionen Beschäftigten muss die Hälfte mit weniger als 400 Pesos über die Runden kommen.
Die Jubelarien sind verstummt, die Kritik ist harsch geworden. Argentinien werde, so urteilte der bekannte US-amerikanische Ökonom Lester Thurow, "mindestens 100 Jahre brauchen, um in die Erste Welt aufgenommen zu werden". Wer "neoliberale Rezepte pur" studieren möchte, müsse an den Rio de la Plata reisen, meint Claudio Lozano, der Direktor des Studien- und Bildungsinstituts der CTA. Argentinien sei das Land, das "die schlimmsten Reformen in der schlimmsten Weise" durchgeführt habe, ergänzt der renommierte Wirtschaftsexperte Aldo Ferrer: Es habe sich zutiefst verschuldet; es habe seine gesamten Naturschätze verkauft und große ausländische Investitionen angezogen. Doch die Investoren hätten ihre Produkte auf dem Binnenmarkt verkauft, "während sie im Ausland eingekauft und so Defizite angehäuft haben". Ein beredtes Beispiel ist die Autoindustrie: Früher wurden 92 Prozent der Teile für ein in Argentinien gefertigtes Auto von nationalen Zulieferern hergestellt, heute sind es weniger als 30 Prozent. Die Importe belasten die Handelsbilanz.
Als Fernando de la Rua, der Kandidat der Radikalen Partei, im Bündnis mit der links angehauchten FREPASO 1999 zum neuen Präsidenten Argentiniens gewählt wurde, keimte noch einmal Hoffnung auf. Aber schon nach kurzer Zeit waren fast alle Illusionen über eine Wende zerstoben. Nicht einmal die Korruption, die das Bündnis entschieden bekämpfen wollte, ist gestoppt. Stattdessen hat das Land einen neuen dicken Korruptionsskandal: Mehrere Senatoren wurden mit jeweils 50.000 Dollar bestochen, damit eine Reform des Arbeitsrechts, die von den internationalen Finanzinstitutionen immer wieder gefordert worden war, endlich den Senat passieren konnte. Die Reform schwächt die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu Gunsten von Tarifverträgen auf regionaler und betrieblicher Ebene. Sie verlängert die Probezeit für neu eingestellte Arbeitnehmer und entlastet die Unternehmen von Sozialbeiträgen.
Nun ist das Land ausgeblutet. Es gibt fast nichts mehr zu privatisieren. Argentinien ist keine Industriemacht und für Investoren keine attraktive Adresse mehr - nicht einmal mehr für die Kreditgeber, trotz immer neuer Anpassungsprogramme.
Als Retter ist nun erneut Domingo Cavallo gerufen worden, der fremde Diktate und Wünsche als eigenen Willen verkauft und seinem Ruf als Freund des Finanzsektors erneut gerecht werden sollte. Dreh- und Angelpunkt seiner Politik ist eine Null-Defizit-Politik für den Staatshaushalt nach der Maxime: Zuerst müssen die Schulden bedient werden; Renten und Erziehung laufen unter ferner liefen. Alljährlich muss Argentinien ein Viertel seines Staatshaushaltes für den Schuldendienst reservieren, allein die Zinsen belaufen sich auf jährlich mehr als 10 Milliarden Dollar. Das Land schleppt eine Last von 132 Milliarden Dollar Auslandsschulden mit sich herum. 1976, zu Beginn der Militärdiktatur und des wirtschaftlichen Kurswechsels waren es noch 10 Milliarden. Seitdem hat das Land am Rio de la Plata mehr Dollar für den Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) überwiesen, als der gesamte Schuldenberg ausmacht.
Eisern hält Cavallo an der Dollar-Peso-Parität fest, auch wenn der Peso mindestens 20 Prozent überbewertet ist und die Exporte darunter leiden. Zwar hat der Wirtschaftsminister inzwischen eine Doppelbindung des Peso eingeführt - neben dem Dollar dient der Euro als zweites Standbein -, allerdings tritt die Doppelbindung erst in Kraft, wenn Dollar und neue europäische Währung Parität erreicht haben.
Vor einer Dollarisierung (der Abschaffung der Landeswährung und Übernahme des US-Dollar), mit der Menem immer wieder liebäugelte, und der Bindung des Peso an den Dollar hatte Joseph Stiglitz gewarnt, der jüngst gemeinsam mit George Akerlof und A. Michael Spence den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hat. Die Möglichkeiten, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren, seien dann "mehr als ungewiss". Ungewiss sind längst die Absatzchancen für argentinische Produkte in Brasilien, dem größten Handelspartner Argentiniens. Brasilien ist wie Argentinien Mitglied des Mercosur - des gemeinsamen Marktes der Länder des Cono Sur -, hat sein Währung, den Real, aber abgewertet.
Neoliberale Fundamentalisten behaupten nun, dass die Reformen noch vertieft werden müssten. Die Weltbank verspricht wirtschaftliches Wachstum und sozialen Aufstieg infolge des Exports von Rohstoffen; das müsse aber mit einer noch größeren Handelsöffnung verbunden werden. Als hätten sich Länder wie Argentinien nicht schon weit genug geöffnet. Umgekehrt aber haben sie wenig erhalten: Buenos Aires wie Brasilia klagen über Protektionismus und Zollmauern auf den europäischen und nordamerikanischen Agrarmärkten. Argentinische Steaks werden mit über 30 Prozent Einfuhrzöllen belegt. Außerdem sind die Preise von Agrarprodukten seit Mitte der neunziger Jahre stark abgesackt.
Gerade weil Argentinien seine Exporte nicht diversifiziert habe, sei das Land in Krisen äußerst verwundbar, urteilt Jeffrey Sachs: "Sein Handel konzentriert sich auf Getreide, Fleisch, Nahrungsmittel und andere Landwirtschaftsprodukte. Der Export von Maschinen und Transportgeräten, die eine fortgeschrittenere Technologie erfordern, machen dagegen nur zehn Prozent aller Ausfuhren aus." Was Sachs beklagt, ist aber genau das Ergebnis von zehn Jahren perfekt erledigter Hausausgaben.
Bei der CEPAL, der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik in Santiago de Chile, hat jedenfalls das Nachdenken begonnen. In Lateinamerika seien die Reformen am weitesten vorangetrieben worden, konstatiert José Antonio Ocampo, der Exekutivsekretär der CEPAL. Dennoch "belief sich das jährliche Wachstum in den neunziger Jahren im Schnitt nur auf 3,2 Prozent". Das sei erheblich "niedriger als in drei Jahrzehnten der Industrialisierung": Zwischen den fünfziger und siebziger Jahren waren es 5,5 Prozent. Und das waren keine Jahre der bedingungslosen Marktöffnung.
Im Jahre 2003 dürften wohl wieder die Peronisten das Ruder übernehmen. Doch die Chancen für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg Argentiniens sind sehr gering. Es sei denn, man würde das Modell wechseln und die heimischen Speisen nicht nur nach ausländischen Rezepten würzen.
aus: der überblick 04/2001, Seite 87
AUTOR(EN):
Karl-Ludolf Hübener :
Karl-Ludolf Hübener ist freier Lateinamerika-Korrespondent für Funk- und Printmedien. Er lebt in Montevideo, Uruguay.