Der Umbruch in den Jahren seit 1910 hat das Land bis heute entscheidend geprägt
Bis Ende der sechziger Jahre galt Mexiko als Entwicklungsmodell für ganz Lateinamerika. Das ist nicht zuletzt eine Folge der mexikanischen Revolution. Denn die hatte ein politisches System hervorgebracht, das zwar autoritär war, zugleich aber breite Schichten der Bevölkerung einband und dem Land eine ungewöhnliche politische Stabilität bescherte. Nach 1968 begann das Fundament der institutionalisierten Revolution zu zerbröckeln; doch die Revolutionspartei ist noch immer an der Macht.
von Hans Werner Tobler
Wohl kein Ereignis hat die Geschichte eines lateinamerikanischen Landes im 20. Jahrhundert so nachhaltig geprägt wie die mexikanische Revolution der Jahre seit 1910 die Entwicklung Mexikos. Sie gehört in die Reihe der "großen" Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts, die wie in Russland und China tiefgreifende Umwälzungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auslösten. In Russland beziehungsweise in der Sowjetunion hat das mit dem bolschewistischen Umsturz von Oktober 1917 begründete kommunistische Staats- und Gesellschaftssystem erst Anfang der neunziger Jahre ein Ende gefunden, und in China besteht auch mehr als fünfzig Jahre nach Begründung der Volksrepublik das Herrschaftsmonopol der Kommunistischen Partei weiter; genauso dauerten auch in Mexiko die Auswirkungen der Revolution lange an.
Erst seit den achtziger Jahren begann sich das revolutionäre Erbe, das die Staatspartei Mexikos zumindest rhetorisch sorgsam pflegte, sukzessive aufzulösen. Bis heute ist die Partei der Institutionalisierten Revolution (Partido Revolucionario Institucional, PRI) auf der nationalen Ebene tonangebend, die nächsten Präsidentschafts- und Kongresswahlen stehen allerdings unmittelbar bevor. Natürlich hat sich auch Mexiko den grundlegenden Entwicklungstrends in ganz Lateinamerika im 20. Jahrhundert nicht entziehen können. Dennoch werden zahlreiche Besonderheiten des Landes bis in die jüngste Vergangenheit erst vor dem Hintergrund der Revolutionsentwicklung verständlich.
Wie andere Revolutionen des 20. Jahrhunderts ist auch die mexikanische ein überaus komplexes historisches Phänomen. Bis heute wird die Frage nach ihrem Grundcharakter kontrovers diskutiert. Handelt es sich – wie früher und auch neuerdings wieder betont wurde – primär um eine Bauernerhebung und eine Agrarrevolution? War sie eine politische Protestbewegung unzufriedener Mittelschichten, wie "revisionistische" Historiker in den siebziger und frühen achtziger Jahren argumentiert haben? Oder war sie gar die erste "nationale Befreiungsrevolution" der "Dritten Welt"?
Die wichtigsten Ursachen der mexikanischen Revolution, die 1910 ausbrach, lagen in zwei Krisenherden des autoritären Regimes unter dem General Porfirio Díaz: in den Veränderungen des politischen Systems einerseits, im Wandel der Agrarwirtschaft und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen andererseits. Das politische System Mexikos wurde im Laufe der Herrschaftszeit von Porfirio Díaz immer mehr von einer kleinen, exklusiven Elite beherrscht, die alle wichtigen politischen Ämter monopolisierte und ambitionierten Angehörigen der Mittelschicht eine Beteiligung an der Macht und damit die sicherste Route zum sozialen Aufstieg verwehrte. Hinzu kam, dass der Zentralstaat seine Befugnisse auf Kosten lokaler und regionaler Autonomiespielräume immer mehr ausdehnte. Das rief insbesondere im Norden Mexikos – quer durch alle sozialen Schichten – eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem wachsenden Herrschaftsanspruch der fernen Hauptstadt hervor.
Der zweite zentrale Krisenherd ergab sich aus der Entwicklung des Agrarsektors. Im Gleichschritt mit dem wirtschaftlichen Wachstum und der Modernisierung der Infrastruktur Mexikos ab dem späten 19. Jahrhundert wurden auch Teile der Landwirtschaft verstärkt kommerzialisiert und mechanisiert. Die politisch und gesellschaftlich mächtigen Großgrundbesitzer dehnten ihre Güter angesichts verbesserter Marktchancen aus, wodurch viele Kleinbauern ihren angestammten Grund und Boden verloren. Pächter wurden auf den Status von Halbpächtern herabgedrückt. Es setzte ein allgemeiner Marginalisierungs- und Proletarisierungsprozess auf dem Lande ein. Er zeitigte überall dort brisante gesellschaftliche Konsequenzen, wo die Modernisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft auf eine dichte, traditionsbewusste und in selbstständigen Dörfern lebende Kleinbauernschaft traf. Dies war zum Beispiel im Zuckeranbaugebiet von Morelos, unweit der Hauptstadt, besonders ausgeprägt der Fall; dieses Gebiet sollte nach 1910 zur Wiege der wichtigsten bauernrevolutionären Bewegung unter der Führung von Emiliano Zapata werden.
Politischer Veränderungswille und bäuerlich-agrarische Reformziele waren denn auch die wichtigsten Motive jener Bevölkerungsgruppen, die sich Ende 1910 gegen die Herrschaft des inzwischen greisen Díaz erhoben und während der folgenden zehn Jahre die verschiedenen Revolutionsbewegungen prägten. Im Einzelnen war der Verlauf der Revolution sehr kompliziert – nicht nur weil diese bis 1920 in rascher Abfolge ihren Charakter veränderte, sondern auch wegen ihrer ausgeprägten regionalen, sozialen und politischen Heterogenität. Das ließ die Ausbildung eines einheitlichen, verbindlichen Revolutionsprogramms nicht zu und führte zu rasch wechselnden Frontstellungen und politischen Koalitionen.
Grob gesagt kann man zwei Hauptflügel in der mexikanischen Revolution unterscheiden: Einerseits eine vom Norden des Landes aus operierende Bewegung, die sozial sehr heterogen zusammengesetzt war und hauptsächlich von militärischen Führern aus der Mittelschicht dominiert wurde; sie strebte vorrangig politische Reformen an und setzte sie schließlich auch durch. Andererseits ging es der vornehmlich im Süden verwurzelten Bauernbewegung in erster Linie um die Wiedererlangung des unter Porfirio Díaz an die Großgrundbesitzer verlorenen Landes. Während der revolutionären Bürgerkriege von 1910 bis 1920 verbündeten sich diese Bewegungen zunächst gegen Díaz und dessen Nachfolger Huerta, entzweiten sich aber nach dem endgültigen Sturz des Ancien Regime 1914 und bekämpften sich ihrerseits 1915-16 in einem blutigen Bürgerkrieg.
Im Zuge dieser Entwicklung wurde zwar die politische Herrschaft der alten, vorrevolutionären Elite dauerhaft beseitigt und die alte Armee aufgelöst. Aber die gesellschaftlichen Reformpostulate, namentlich die bäuerlichen Forderungen nach einer breiten Landverteilung, wurden zunächst, obwohl sie in die Verfassung von 1917 aufgenommen wurden, nur ansatzweise realisiert. Der sozialradikale Flügel der Revolution unter Emiliano Zapata im Süden und Pancho Villa im Norden war nämlich infolge seiner militärischen Niederlage im Bürgerkrieg von 1915-16 als national mitbestimmende Kraft weitgehend ausgeschaltet worden. Als Sieger aus den Revolutionskriegen ging eine neue Führungsschicht hervor, die sozial überwiegend der Mittelschicht angehörte, urban-laizistisch orientiert war, aus dem Norden Mexikos stammte, in den dortigen Revolutionsbewegungen eine militärische Karriere durchlaufen hatte und ideologisch vor allem durch den gemeinsamen Antiklerikalismus und Nationalismus zusammengehalten wurde.
Diese neue Revolutionselite prägte unter ihren wichtigsten Exponenten Obregón, Calles und Cárdenas entscheidend den Verlauf der spätrevolutionären Konsolidierungs- und Reformphase zwischen 1920 und 1940. In dieser Periode wurde das Fundament für das postrevolutionäre Mexiko gelegt, das sich zwischen etwa 1940 und 1970 durch eine bemerkenswerte politische Stabilität und zugleich ein hohes Wirtschaftswachstum auszeichnete – das damals viel beschworene milagro mexicano, das mexikanische Wunder.
Unter den Präsidenten Obregón (1920-1924) und Calles (1924-1928) stand die Konsolidierung des spätrevolutionären Staates im Vordergrund. Die aus den Revolutionskriegen resultierenden gesellschaftlichen und politischen Mobilisierungseffekte wurden mit Hilfe eines politischen Systems aufgefangen, das Bauern und Arbeitern erstmals eine gewisse Mitwirkung ermöglichte – auch wenn Parteien und Verbände weitgehend "von oben" gegründet und gelenkt wurden. Halbkorporatistische Formen der Einbindung breiter Bevölkerungsschichten treten in Mexiko als Folge der Revolution deshalb bereits deutlich früher in Erscheinung als im übrigen Lateinamerika.
Während sich so die Formen politischer Herrschaft gegenüber der Ära Díaz deutlich veränderten, wurden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformforderungen, die ebenfalls Eingang in die Revolutionsverfassung von 1917 gefunden hatten, weitgehend vernachlässigt. Auch die nationalistischen Verfassungsbestimmungen, die auf eine stärkere mexikanische Kontrolle über ausländische Ölunternehmen abzielten, konnten angesichts des starken politischen und wirtschaftlichen Drucks der USA nur ansatzweise umgesetzt werden. In der ersten Hälfte der dreißiger Jahre schien die mexikanische Revolution so ihren Thermidor erreicht zu haben – das Ende der Umbruchphase und den Beginn der Restauration - , ohne dass bis dahin die zentralen gesellschaftlichen Revolutionspostulate zu Gunsten der breiten Bevölkerungsschichten auch nur annähernd verwirklicht worden wären.
Dass die mexikanische Revolution dennoch auch als erste soziale Revolution Lateinamerikas in die Geschichte eingegangen ist, lässt sich hauptsächlich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) zuschreiben. Unter ihm wurde in wenigen Jahren die lange verschleppte Agrarreform verwirklicht: Die traditionelle Hacienda, eine Art großer Gutsbetrieb, wurde weitgehend aufgelöst und annähernd die Hälfte des gesamten Ackerlandes bis 1940 an die Bauern verteilt. Cárdenas erneuerte auch das seit den späten zwanziger Jahren immer loser gewordene Bündnis zwischen Staat und Gewerkschaften. Hiervon profitierten die Arbeiter in ihrem Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Schließlich verstaatlichte die Regierung Cárdenas im März 1938 die ausländischen Ölgesellschaften und verwirklichte damit in radikaler Form das Verfassungsmandat zur nationalen Kontrolle der Bodenschätze.
Auch an die politische Tradition der zwanziger Jahre mit ihrer Tendenz, politische Parteien und gesellschaftliche Verbände "von oben" zu schaffen und zu lenken, knüpfte Cárdenas an. 1938 begann er, die 1929 gegründete Revolutionspartei, die von Anfang an eine Staatspartei war, auf ein korporatistisches Fundament zu stellen. Bei der neuen Partei handelte es sich deshalb nicht um eine Massenpartei mit überwiegend freiwilliger, individueller Mitgliedschaft. Vielmehr wurden die bereits bestehenden, loyal zum Regime stehenden gesellschaftlichen Verbände wie Gewerkschaften, Bauernorganisationen und Beamtenverbände in die Partei eingegliedert.
Um 1940 waren so – durch die gesellschaftlichen Reformen wie die Landverteilung einerseits, durch die wirksame Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in die Revolutionspartei andererseits – die wichtigsten Grundlagen für die politisch-gesellschaftliche Stabilität Mexikos in den folgenden Jahrzehnten geschaffen. Und diese Stabilität war im lateinamerikanischen Kontext außergewöhnlich. Dieser neue institutionelle Rahmen prägte die mexikanische Entwicklung insbesondere in der Zeit bis Ende der sechziger Jahre, die ganz im Zeichen des milagro mexicano stand. Das war eine Periode hohen wirtschaftlichen Wachstums im Rahmen einer beschleunigten Industrialisierung, eines raschen sozialen Wandels und dennoch einer ausgeprägten politisch-gesellschaftlichen Stabilität.
Mexiko erschien damals vielen in- und ausländischen Beobachtern als ein nachahmenswertes Entwicklungsmodell für den lateinamerikanischen Subkontinent, der zu dieser Zeit von der kubanischen Revolution, von Guerillabewegungen und vom Aufkommen südamerikanischer Militärregime erschüttert wurde. Auch das Regime der "Institutionalisierten Revolution" wies zwar einen unverkennbar autoritären Charakter auf. Dennoch unterschied es sich deutlich von jenen repressiven Militärregimes, wie sie zwischen den sechziger und den achtziger Jahren in Zentral- und Südamerika vorherrschten. Im Gegensatz zu diesen blieb das mexikanische System auf politisch-gesellschaftliche Integration, nicht auf Ausschluss der breiten Bevölkerungsschichten ausgerichtet und hielt zugleich durch die periodische Rotation der hohen Partei- und Regierungsämter namentlich für die Mittelschicht beträchtliche Mobilitätskanäle offen.
Doch nach 1968-70 begann das Fundament der "institutionalisierten Revolution" brüchig zu werden. Die zunehmend sozialkonservative Politik der postrevolutionären Regierungen bewirkte nicht nur eine erneute Verschärfung der Agrarkrise und eine entsprechende Landflucht, sondern eine generelle gesellschaftliche Polarisierung. Die Einkommens- und Vermögensverteilung begünstigte einseitig die Ober- und die obere Mittelschicht. Hinzu kam, dass der ausgeprägte Modernisierungsschub der Nachkriegszeit, die wachsende gesellschaftliche Differenzierung und insbesondere das Anwachsen der städtischen Mittelschichten zunehmend das Fundament des autoritären Korporatismus untergruben. Davon war zunächst das politische System betroffen, das mit der blutigen Niederschlagung einer Studentendemonstration im Massaker von Tlatelolco 1968 in eine Legitimationskrise stürzte.
In den achtziger Jahren fiel Mexiko, wie das übrige Lateinamerika, aufgrund der internationalen Schuldenkrise in eine tiefe wirtschaftliche Depression, von der sich das Land erst Ende des Jahrzehnts langsam erholte. Unter dem Einfluss der Schulden- und Wirtschaftskrise und neoliberaler Ordnungsvorstellungen auch in Mexiko begann sich das postrevolutionäre System immer mehr aufzulösen. Mit der Abkehr von der bisherigen Agrarpolitik und dem Beitritt zur Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA in den neunziger Jahren wurden zentrale gesellschaftliche und wirtschaftliche Revolutionsinhalte, nämlich die Agrarreform und der Wirtschaftsnationalismus, über Bord geworfen.
Die grundlegende Umgestaltung des politischen Systems, der Übergang zu einem pluralistischen System mit freier Parteienkonkurrenz, verlief dagegen wesentlich schleppender. Schließlich profitierte die Regierungspartei nach wie vor von ihrem privilegierten Zugang zu den Ressourcen des Staates. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts lassen sich somit noch gewisse Folgewirkungen der fernen Revolution im frühen 20. Jahrhundert ausmachen.
Porfirio Díaz ist 1876 durch einen Putsch an die Macht gekommen. Seine erste konstitutionelle Präsidentschaft dauerte von 1877-1881. Dann herrschte er verdeckt durch einen Strohmann (den Präsidenten General Manuel González, 1881-1884) weiter. Schließlich hatte er keine Skrupel mehr, das Verbot der Wiederwahl zu missachten, sodass er von 1884 bis 1911 ununterbrochen die Präsidentschaft innehatte.
zurück
aus: der überblick 02/2000, Seite 11
AUTOR(EN):
Hans Werner Tobler:
Hans Werner Tobler ist Professor für Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Er ist unter anderem Autor von "Die mexikanische Revolution: Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch, 1876-1940", Frankfurt am Main 1984.