Nach der Unabhängigkeit haben die Kirchen ihre neue Rolle noch nicht gefunden
Vor der Unabhängigkeit Namibias sprachen die Kirchen des Landes stellvertretend für diejenigen, die wegen der politischen Unterdrückung ihre eigene Stimme nicht erheben konnten. Mit den ersten demokratischen Wahlen entfiel die Legitimation für dieses gesellschaftspolitische Engagement. Seither haben die namibischen Kirchen Schwierigkeiten, ihre Rolle in der neuen Gesellschaft zu finden. Viele Gemeindemitglieder reagieren auf die zunehmende Komplexität des Lebens mit einem Rückzug auf sogenannte traditionelle Werte, nur wenige versuchen eine Neubestimmung des gesellschaftlichen Auftrages der Kirchen.
von Hanns Lessing
Die zehn Jahre seit der Unabhängigkeit waren für die Kirchen in Namibia eine Zeit der Identitätssuche. Kaum ein Gemeindemitglied war und ist mit dem Erscheinungsbild seiner Kirche wirklich glücklich. Auf besondere Kritik stößt das Engagement in der Gesellschaft, das als "prophetisches Amt" verstanden das Selbstverständnis der namibischen Kirche in der Zeit des Befreiungskampfes so entscheidend bestimmt hat. Auf die Frage, was sie als das wichtigste Ereignis in den Kirchen in der Zeit nach der Unabhängigkeit ansehe, antwortet die Generalsekretärin des namibischen Kirchenrates (CCN), Nangula Kathindi, spontan: "Ich mag diese Zeit nach der Unabhängigkeit nicht!" Sie verweist zur Begründung auf das Erlahmen des ökumenischen Bewusstseins und des gesellschaftlichen Engagements und urteilt: "Mit dem Selbstverständnis und der Sprache des Befreiungskampfes waren die Kirchen nur schlecht auf die Mitwirkungsmöglichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft vorbereitet. Nach der Unabhängigkeit haben sie sich deshalb auf innere Themen beschränkt und die gesellschaftliche Auseinandersetzung vernachlässigt."
In ihrer Suche nach einem neuen Selbstverständnis waren die Kirchen auch Gefangene ihrer eigenen Sprache. Vor der Unabhängigkeit definierten sie sich vor allem als "Stimme der Stimmlosen". Sie sprachen stellvertretend für diejenigen, die wegen der politischen Unterdrückung ihre eigene Stimme nicht erheben konnten. Mit den ers-ten demokratischen Wahlen wurde diese Legitimation gesellschaftlich-politischen Engagements gegenstandslos. Viele Menschen fragten, ob sich die Kirche überhaupt noch gesellschaftspolitisch äußern müsse. Andere gingen so weit, gesellschaftspolitische Einflussnahme der Kirche grundsätzlich abzulehnen. Eingeladen, bei der Ordination eines jungen Pfarrers in Windhoek ein Grußwort zu sprechen, öffnete Premierminister Hage Geingob die Bibel und las Römer 13: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet."
In der Nacht der Unabhängigkeit am 21. März 1990 hatte Präsident Sam Nujoma die Politik der nationalen Versöhnung ausgerufen. Westliche Medien berichteten damals voller Anerkennung, denn die Politik der nationalen Versöhnung bedeutete den Verzicht auf Vergeltung für das in der Zeit der Apartheid erlittene Unrecht. Das wurde in prominenter Weise auch in der namibischen Verfassung durch die Garantie des Eigentums auch der weißen Namibier symbolisiert. Aber während die westliche Welt den Großmut der neuen Führung feierte, wurde der Begriff der Versöhnung außerhalb der weißen Kreise kontrovers diskutiert. Die Kirchen Namibias haben lange gezögert, sich an der Debatte zur Versöhnung überhaupt öffentlich zu beteiligen. Bis heute liegt von ihnen kein allseits anerkanntes Papier zur Versöhnung vor. Als der Theologe Paul Isaak 1990 in einem vielbeachteten Vortrag die Idee der nationalen Versöhnung in die kirchliche Debatte einführen wollte, schlug ihm starker Widerstand entgegen: "Lass die Politik aus der Kirche!", mahnten viele Gemeinden.
Diese Auseinandersetzung spiegelt die unterschiedlichen Positionen wider, die in der Debatte um die Entwicklung der namibischen Gesellschaft miteinander ringen. Die neue Elite unter Führung von Präsident Nujoma hat nach 1990 wohl wirklich geglaubt, dass "Vergeben und Vergessen" den Schlüssel zu einer neuen Gesellschaft bedeutet, deren Ideale "Ruhe und Frieden" sein sollten. Die Mitglieder der neuen Führung waren überzeugt, dass sie selbst mit dem Verzicht auf Vergeltung für das erlittene Unrecht den größten Beitrag zur Erneuerung der Gesellschaft erbracht hätten; groß genug jedenfalls, um auch von anderen erwarten zu dürfen, dass sie zu Gunsten der gemeinsamen Sache auf Genugtuung für erlittene Verletzungen und auf Kritik an vergangenem Verhalten von Swapo-Führern verzichten. Diese Grundeinstellung erklärt auch das missverständliche Nebeneinander in den offiziellen Erklärungen der Regierung, die einerseits feierlich die nationale Versöhnung beschwört, andererseits Andersdenkende aggressiv ausgrenzt und oft als "Elemente" diffamiert, die "eliminiert" werden müssen.
Für die Führer der ehemaligen Befreiungsorganisation und jetzigen Regierungspartei SWAPO liegt darin kein Widerspruch. Nach ihrem Selbstverständnis sind sie es, die darauf verzichten, ihre Toten zu betrauern, die Grausamkeit des Apartheidsregimes öffentlich zum Thema zu machen und sich die gestohlenen Ressourcen – wie das von den Kolonisatoren geraubte Land – wieder anzueignen. Wer die neue Führung kritisiere, so die häufig vorgebrachte Ermahnung, stelle diesen Beitrag zur nationalen Versöhnung in Frage und müsse deshalb auch mit den Konsequenzen rechnen. Wer die SWAPO kritisiert, so lautet die einfache Logik, ist ein Gegner der nationalen Versöhnung und deshalb verantwortlich für eine neue Welle von Gewalt und Vergeltung. Der Wahlkampf zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, in denen die SWAPO eine haushohe Zweidrittelmehrheit gewonnen hat, hat gezeigt, dass diese Einstellung – bei aller hinter vorgehaltener Hand vorgebrachten Kritik – von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt wird. Die Bereitschaft zur Tolerierung abweichender Positionen ist deshalb in vielen Bereichen außerordentlich gering.
Trotz aller öffentlichen Zurückhaltung haben die Kirchen das Projekt der nationalen Versöhnung von Anfang an anders verstanden. Bis weit in die Gemeinden hinein wurde die von der Regierung verordnete Parole vom "Vergeben und Vergessen" als unangemessen verworfen. Alle Beiträge der Kirchen zur Versöhnungsdebatte zielen darauf, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und nicht zuzudecken. Der zentrale Begriff kirchlicher Verlautbarungen ist deshalb der der Restitution: Alle, die unter der Ausgrenzungspolitik der Apartheidszeit gelitten haben, sollen den ihnen angemessenen Ort in der Gesellschaft zurückerhalten – materiell, kulturell, geistlich und politisch. Nach Ansicht der Kirchen muss aus der Aparteidsgeschichte die Lehre gezogen werden, dass im neuen Namibia nach der Unabhängigkeit niemand mehr ausgegrenzt werden darf. Diese Grundüberzeugung brachte die Kirchen immer wieder in direkte Konfrontation mit der Regierung – mehr unwillkürlich als geplant.
Erstmals wurde dieser Unterschied der Grundüberzeugungen in der Debatte um die sogenannten Ex-Detainees (Häftlinge) öffentlich. Während der letzten Jahre des Befreiungskampfes hatte die SWAPO-Führung in großem Maßstab eigene Mitglieder unter teilweise absurden Anschuldigungen der Spionage bezichtigt, brutal gefoltert und in vielen Fällen sogar umgebracht. Vom KGB und der Stasi inspirierte Repressionstechniken und die Methoden der südafrikanischen psychologischen Kriegsführung spielten dabei Hand in Hand. Die Wiedereingliederung der Überlebenden dieser Gruppe hat sich zu einem Drama entwickelt, und bis heute ist diese Vergangenheit nicht bewältigt.
Die gesamte Debatte war von Anbeginn hoffnungslos politisiert: Die Angehörigen der Folteropfer und Verschwundenen hatten sich schon zur Apartheidszeit organisiert. Aber während der Polarisierung des Kalten Krieges hatten sie nur in der südafrikanischen Propaganda einen Ort gefunden, wo sie ihren Fragen und Anklagen Öffentlichkeit verschaffen konnten. Die Veröffentlichung der Foltervorwürfe durch Siegfried Groth, damals Menschenrechtsreferent der Vereinigten Evangelischen Mission, ausgerechnet in der Hochphase des Wahlkampfes für die verfassunggebende Versammlung fixierte das Schicksal der früheren Detainees endgültig im politischen Koordinatensystem der Apartheidszeit. Für die vom Geheimdienst gesteuerte südafrikanische Propagandamaschinerie war der Beitrag Groths ein Geschenk des Himmels, gab er doch ihrem Versuch, die SWAPO als eine Gruppe kommunistischer Unholde darzustellen, eine unabhängige Legitimation. Für die SWAPO auf der anderen Seite war es leicht, die Anschuldigungen als bösartige Verleumdung der südafrikanischen Propaganda abzustempeln.
Das Schicksal der Folteropfer und ihr Interesse an einer Heimkehr in Würde blieben in dieser Debatte auf der Strecke. Zwar versuchte die SWAPO-Regierung, viele der ehemaligen Detainees im Rahmen der Politik der nationalen Versöhnung materiell zu entschädigen, durch die Politisierung der Debatte wurde aber ihr Stigma als Verräter und Spione bekräftigt. Viele der heimkehrenden Folteropfer wurden von ihren eigenen Familien zurückgewiesen und die ganze Gruppe fühlt sich bis heute ausgegrenzt aus der namibischen Gesellschaft.
Auf der Strecke blieben in dieser Debatte auch die moralische Glaubwürdigkeit der neuen Regierungsinstitutionen und die Unabhängigkeit der Kirchen. Über viele Jahre hinweg war das Schicksal der Detainees das einzige prominente namibische Thema in den internationalen Medien. Entsetzt und empört sah sich die neue Regierung in den Augen der internationalen Öffentlichkeit nicht als Opfer, sondern als Verursacher von Menschenrechtsverletzungen wahrgenommen. Und die Kirchen wurden wegen ihrer Mitverantwortung angeklagt. Wichtige Kirchenführer in Namibia und im Ausland hatten von den Folterungen gewusst, aus Opportunitätserwägungen aber in der Öffentlichkeit geschwiegen.
Die nächste Runde der gesellschaftlichen Diskussion um die Ex-Detainees begann dann wieder als innerkirchliche Debatte: Im Jahr 1996 veröffentlichte Siegfried Groth sein Buch "Namibische Passion" (englischer Titel: Breaking the Walls of Silence), in dem er die Kirchen noch einmal nachdrücklich der Mitschuld bezichtigte. Die Organisation der Ex-Detainees griff das Buch auf und wollte seine Veröffentlichung zum gesellschaftlichen Fanal machen. Sie forderte deshalb den namibischen Kirchenrat auf, sich, quasi als Zeichen der Wiedergutmachung, hinter das Buch zu stellen und es öffentlich vorzustellen.
Diese Herausforderung brachte den Kirchenrat in eine schwierige Lage. Auf der einen Seite waren sich die meisten Kirchenführer einig, dass ein Weg gefunden werden musste, um die Ex-Detainees wieder in Würde in die Gesellschaft zu integrieren. Auf der anderen Seite aber suchten sie nach Wegen, um das polarisierte politische Koordinatensystem der Apartheidszeit aufzubrechen. In einer Stellungnahme vom Februar 1996 lehnte es der Kirchenrat deshalb ab, sich mit der Gruppe der Folteropfer öffentlich zu identifizieren. Stattdessen nahm er das Buch zum Anlass, eine Wahrheits-und Versöhnungskomission nach südafrikanischem Vorbild anzuregen, um, wie der damalige Generalsekretär Ngeno Nakamhela formulierte, "die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen [aller Seiten] während des Unabhängigkeitskampfes festzustellen, soweit das menschenmöglich ist". Als konkreter Beitrag der Kirchen zu diesem Prozess sollten eine Reihe von Konferenzen durchgeführt werden, auf denen Ex-Detainees und SWAPO-Vertreter ihre Differenzen ausräumen sollten.
Leider blieb dieser Prozess in den Anfängen stecken. Die SWAPO war nicht bereit, sich in irgendeiner Weise auf einen solchen Versöhnungsprozess einzulassen. Hochrangige Parteivertreter bis hin zum Präsidenten diffamierten Ex-Detainees und Kirchenvertreter in unglaublicher Weise. Die Kirchen versuchten in den folgenden zwei Jahren, das Gespräch auf unterschiedlichen Ebenen wieder in Gang zu bringen, waren aber wenig erfolgreich. Es zeigte sich deutlich, dass es zehn Jahre nach der Unabhängigkeit in Namibia keine Institution gab, die das moralische Gewicht und die Unabhängigkeit hatte, einen wirklich tiefgreifenden Prozess zur Aufarbeitung der Vergangenheit einzuleiten. Im Rahmen der Diskussion um die Ex-Detainees gab es viele gut gemeinte Ansätze. Was aber als Versuch gemeint war, die Gesellschaft zu öffnen, führte letztlich zu einer Verengung und Radikalisierung des politischen Diskurses.
In den letzten Jahren verschärft sich der Widerspruch zwischen der praktischen Regierungsarbeit und der offiziellen Politik der nationalen Versöhnung, deren erklärtes Ziel ist, "Ruhe und Frieden" zu gewährleisten. Politiker reagieren auf Kritik immer dünnhäutiger. Alles, was als kritisch, herausfordernd oder schlicht anders empfunden wird, wird schärfer ausgegrenzt. Es zeigt sich immer klarer, dass das wahre Machtzentrum des Landes nicht bei den gewählten demokratischen Institutionen liegt, sondern bei den Sicherheitskräften. Beängstigend deutlich wurde dies während des Caprivikonfliktes. Im August 1999 versuchte eine kleine Gruppe, die Capriviprovinz im Nordosten Namibias gewaltsam in die Unabhängigkeit zu führen. Obwohl einige Schüsse fielen, hatte der Versuch militärisch nie die geringste Chance. Trotzdem setzte die Regierung nicht auf Verständigung, sondern auf Polizei- und Militärgewalt. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen und wochenlang haben Polizeikräfte systematisch gefoltert. Mehrere Tausend Caprivier flohen nach Botswana. Der Oberkommandierende der Armee trat fast jeden Abend im Fernsehen auf. Trotz öffentlicher Kritik an Übergriffen von Polizei und Armee (die nicht geahndet wurden) war die Botschaft dieser Auftritte überdeutlich: Die Regierung hat die "Kapazität", alle ihre "Feinde" militärisch zu "erledigen" (we have the capacity to deal with you).
Die offiziellen Verlautbarungen, die das militärische Engagement Namibias im Caprivikonflikt, aber auch in den Auseinandersetzungen in der Republik Kongo und in Angola begründen, zeigen ein stark verengtes politisches Weltbild und eine völlig unrealistische Überschätzung der eigenen militärischen Kraft. Präsident Nujoma hat in einer Rede vor SWAPO-Anhängern im September 1998 den Einsatz namibischer Truppen in der Demokratischen Republik Kongo damit begründet, dass Afrikaner gegen den westlichen Imperialismus zusammenstehen müssten. Im namibischen Freiheitskampf hätten die Länder Afrikas Namibia in selbstloser Weise geholfen; nun sei es an Namibia, diese Hilfsbereitschaft zu erwidern. Der Widersinn, die Probleme des Kongo einseitig als Akte westlichen Imperialismus zu verstehen, schien dabei weder der SWAPO-Führung noch den jubelnden Anhängern aufzugehen.
Die Kirchen haben sich von Anfang an dagegen gewandt, dass Politik in Namibia nach dem Konfrontationsmodell betrieben wird. Mit stiller Diplomatie und öffentlichen Verlautbarungen haben sie versucht, dazu beizutragen, Konflikte in der Region auf friedlichem Wege zu lösen. Im Caprivikonflikt hat der namibische Kirchenrat die Menschenrechtsverletzungen des Militärs scharf kritisiert und später hinter den Kulissen bei der Rückführung von Flüchtlingen aus Botswana mitgewirkt. In dem seit 1995 schwelenden Grenzkonflikt mit Botswana im Vierländereck in Caprivi hat der CCN das Gespräch mit botswanischen Kirchen und Regierungsstellen gesucht und der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Ishmael Noko, hat zwischen beiden Präsidenten wiederholt vermittelt. Die Kirchen rechnen es sich deshalb als Erfolg an, dass dieser Konflikt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Anfang 2000 friedlich beigelegt worden ist. Eine ähnliche Politik versucht der Kirchenrat auch hinsichtlich des Angolakonfliktes anzuregen. Nachdem offensichtlich geworden war, dass Militäraktionen der angolanischen Armee von namibischem Boden aus "nicht Frieden nach Angola, sondern den Krieg nach Namibia" bringen würde (CCN-Statement vom Februar 2000), erteilte Präsident Nujoma den Kirchen öffentlich das Mandat, sich an einer diplomatischen Lösung des Angolaproblems zu beteiligen.
Das Verhältnis zwischen den Kirchen und der Regierung ist durch eine unberechenbare Mischung aus Angriffen und Einschüchterungsversuchen, aber immer wieder auch von Anerkennung gekennzeichnet. In diesem schwierigen Umfeld versuchen die Kirchen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, nicht zu polarisieren und konstruktiv zu Lösungen beizutragen. Rhetorisch und gedanklich geraten sie damit immer wieder in Gegensatz zur Regierung.
Allerdings kommt trotz mancher Erfolge im gesellschaftlich-politischen Bereich in den Kirchen kaum Zufriedenheit mit der eigenen Rolle auf. Es ist zu offensichtlich, wie begrenzt der Einfluss der Kirchen in der öffentlichen Diskussion wirklich ist. Kritische Kirchenführer geben zu, dass es den Kirchen in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit noch nicht wirklich gelungen ist, sich auf die Herausforderungen einer demokratischen Gesellschaft einzustellen. Als den wichtigsten Beitrag der Kirchen in der Zeit seit der Unabhängigkeit betrachtet der ehemalige Generalsekretär des Kirchenrates, Ngeno Nakamhela, folglich nicht die Debatten um Frieden und Versöhnung, sondern das klare "Nein" der Kirchen zur Abtreibung, das in Namibia ein liberales Abtreibungsgesetz bislang verhindert hat. Die Gründe für diese Einschätzung liegen auf der Hand: Die Beiträge der Kirchen zu Versöhnung und Frieden wurden letztlich nur von wenigen Gemeindemitgliedern gestützt, die Kampagne gegen Abtreibung hingegen konnte überall im Land Menschen mobilisieren und war für namibische Verhältnisse fast eine Massenbewegung.
Hier scheint sich der Eindruck zu bestätigen, den viele Europäer nach einem Besuch in Namibia formuliert haben: Verglichen mit der Zeit vor der Unabhängigkeit haben sich die namibischen Kirchen aus der Gesellschaft zurückgezogen und predigen eine pietistische innerliche Moral, das Patriarchat feiert fröhlich Auferstehung und die Bekenntnisse zu einer offenen Gesellschaft spielen im innerkirchlichen Raum kaum eine Rolle. In der Tat haben in den Jahren seit der Unabhängigkeit viele Menschen auf die zunehmende Komplexität der Gesellschaft mit einem Rückzug auf sogenannte traditionelle Werte reagiert, auch wenn die so propagierten Normen und Lebensweisen mit Tradition oft kaum etwas zu tun haben.
Trotzdem wehren sich Theologen und Kirchenführer wie Ngeno Nakamhela oder Nangula Kathindi gegen die Ansicht, dass die Botschaft der Kirche in gesellschaftspolitischen Fragen im Widerspruch zu ihrem prophetischen Auftrag und der Überzeugung stünde, dass das neue Namibia für alle Menschen offen sein müsse. Wenn man genauer hinsieht, kann man in der innerkirchlichen Diskussion wichtige Verschiebungen und Lernprozesse beobachten. Haben in der Zeit nach der Unabhängigkeit vor allem evangelikale Vertreter aus dem Spektrum der weißen reformierten Apartheidskirchen (wie der Niederdeutschen Reformierten Kirche) die moralische Diskussion bestimmt, so tritt in letzter Zeit die Frage nach einer afrikanischen Ethik immer deutlicher in den Vordergrund der kirchlichen Diskussion. Im Zentrum der Debatte steht dabei der Begriff Ubuntu, der in der südafrikanischen Xhosa-Sprache so viel wie "zusammen leben und füreinander da sein" bedeutet. Der Kerngedanke ist die Idee der Familie – nicht der europäischen, sondern der traditionell afrikanischen, in der es keine absoluten Hierarchien gibt, sondern in der jedes Familienmitglied besondere und klar definierte Rechte und Pflichten hat. Der wohl bekannteste Ausdruck dieses Denkens ist Bischof Tutus Beschreibung der südafrikanischen Gesellschaft als "Regenbogennation", wobei die Vielfarbigkeit des Regenbogens Menschen nicht zu Uniformität zwingt, sondern Unterschiede zulässt und begrüßt.
Eine solche Grundüberzeugung hat Konsequenzen für das kirchliche Verständnis von Ethik und Moral. In den letzten Jahren haben die Kirchen begonnen, sich selbst in Fragen der Sexualmoral zu öffnen. Sexualität wird nicht mehr tabuisiert, es gibt sogar Stimmen, die die Geburt von unehelichen Kindern ebenfalls als Geschenk Gottes gewürdigt wissen wollen. In Fragen der AIDS-Moral geben die Kirchen langsam ihre Zurückhaltung auf und propagieren mehr oder weniger offen den Gebrauch von Kondomen. Selbst im Umgang mit Homosexualität gibt es Bewegung. Während die offizielle Regierungspolitik Schwule und Lesben immer schärfer diskriminiert, hat die Vereinigte Kongregationalistische Kirche einen Diskussionsprozess in Gang gesetzt, an dessen Ende die Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Sexualität und sogar die Zulassung von Schwulen und Lesben zum Pfarramt stehen sollen. Der namibische Kirchenrat ist dabei, eine ähnliche Diskussionsreihe vorzubereiten.
Dies sind vorsichtige Prozesse und der Widerstand in den Kirchenhierarchien und den Gemeinden ist noch groß. Es lässt sich aber beobachten, dass die moralische Debatte zwischen Konservativen und Liberalen in den letzten Jahren an Schärfe verloren hat. Es gibt Anzeichen, dass eine "Theologie des Lebens" zum neuen Fundament für den kirchlichen Diskurs in der Öffentlichkeit werden könnte. Angesichts von Gewalt, Kriminalität, sexueller Ausbeutung, Armut und Unterdrückung, die noch immer das Leben einer Mehrzahl der Menschen Namibias bestimmen, vertreten mehr und mehr Christen in der Öffentlichkeit die Meinung, das Leben sei heilig. Nangula Kathindi ist optimistisch, dass aus der Aufgabe, das Leben zu beschützen, nach Jahren der Orientierungslosigkeit in Namibia wieder ein neues ökumenisches Bewusstsein wachsen kann: "Wenn es um das Leben geht, stehen wir alle zusammen."
aus: der überblick 01/2001, Seite 87
AUTOR(EN):
Hanns Lessing :
Hanns Lessing ist Dozent für Systematische Theologie am College der lutherischen Kirchen in Windhoek. Er lebt seit 1995 in Namibia.