Amnestie durch die Hintertür für Apartheid-Täter
Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (TRC) betonte in ihrem am 21. März 2003 veröffentlichten Abschlussbericht, dass die von ihr angebotene Amnestie eine "verantwortliche Amnestie" sein sollte, die nicht zur Straflosigkeit ermutigen dürfe. Die TRC erklärte damals, dass "es immer Allgemeinverständnis war, dass dort, wo keine Amnestie beantragt wurde, der Staat eine mutige Politik der Strafverfahren verfolgen muss, um jeglichen Verdacht zu vermeiden, dass Verbrechen straflos bleiben oder gegen die Verpflichtungen nach internationalem Recht gehandelt wird."
von Howard Varney
Das südafrikanische Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Fall Wouter Basson 2005 festgehalten, dass die Generalstaatsanwaltschaft (National Prosecuting Authority - NPA) für die Bevölkerung handelt und unter der internationalen Verpflichtung steht, Verbrechen der Apartheid zu verfolgen. Insbesondere war das Verfassungsgericht der Auffassung, dass die Verpflichtung des Staates, Verbrechen zu verfolgen, sich nicht auf Straftaten beschränkt, die begangen wurden, nachdem die Verfassung in Kraft getreten war, sondern auch für alle Straftaten gilt, die vor ihrem Inkrafttreten begangen wurden. Das schließt eindeutig die während der Apartheid begangenen Verbrechen mit ein. Es gibt wohl kaum Zweifel darüber, dass viele der Verbrechen der Apartheid-Ära schwere Menschenrechtsverletzungen waren, und dass viele der Verbrechen von Staatsbeamten verübt wurden, die ihr Amt missbraucht hatten.
Ungeachtet der eindeutigen Empfehlungen der TRC, der Auffassung des höchsten Gerichts von Südafrika und der gesetzlichen Verpflichtung für die Staatsanwälte sind nur eine Handvoll Fälle aus der Vergangenheit verfolgt worden. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in Form der Sonderkommission für dringliche Fälle, der Priority Crimes Litigation Unit, ein Team von Sonderstaatsanwälten eingerichtet, um diese Fälle zu verfolgen. Angesprochen auf den fehlenden Fortschritt weisen diese Staatsanwälte darauf hin, dass ihrem Team nicht genügend Ermittlungsbeamte zugewiesen worden sind. Das zeigt, dass die südafrikanische Regierung ihre Verantwortung für Verbrechen aus der Vergangenheit nicht wirklich ernsthaft annimmt.
Am bedenklichsten ist vielleicht, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Politik der Strafverfolgung geändert hat, um eine rechtskräftige Wiedereinführung der Amnestiebestimmungen der TRC zu erlauben. Im Sinne dieser Änderung, die Ende 2005 erfolgte, können die Täter beim Generalstaatsanwalt, dem National Director of Public Prosecutions (NDPP), einen Antrag auf Nichtverfolgung der Straftat stellen. Die Täter müssen dieselben Bedingungen erfüllen, nach denen das alte Amnestiekomitee der Wahrheitskommission entschied. Zu diesen Kriterien gehört die vollständige Offenlegung der Straftat. Mit der Anwendung der Amnestiekriterien unterscheidet sich die Generalstaatsanwaltschaft kaum noch vom damaligen Amnestiekomitee. Anstatt eine Amnestie auszusprechen, sieht der Generalstaatsanwalt bei genau den gleichen Kriterien von einer Strafverfolgung ab. Das Ergebnis ist exakt das gleiche, nämlich Straflosigkeit.
Doch anders als bei der Wahrheitskommission, deren Vorgehen öffentlich und transparent war, wird dieser Prozess völlig hinter verschlossenen Türen stattfinden, diesmal nicht einmal zeitlich befristet. Kein Wunder, dass Kritiker diese Politik als eine "faktische Hintertür-Amnestie" bezeichnen. Die Generalstaatsanwaltschaft behauptet zwar, vor der Neufassung ihrer Strafverfolgungspolitik ausgiebig um Rat gefragt zu haben, doch sie hat sich nicht mit den Gruppen der Zivilgesellschaft beraten, welche die Interessen der Opfer vertreten. Deren schriftliche Anfragen wurden einfach ignoriert. Dieser Mangel an Konsultation zeigt sich in der Tatsache, dass die veränderte Politik wenig oder gar keine Sensibilität für die Bedürfnisse und Wünsche der Opfer zeigt, sie ist in fast jeder Hinsicht täterfreundlich.
Die Strafverfolgungspolitik fällt sogar noch hinter die Amnestievorkehrungen der TRC zurück: Sie liefert den Tätern mehr Gründe, einer gerechten Verurteilung zu entgehen. So ist beispielsweise der "Grad der Indoktrinierung, dem der Straftäter ausgesetzt war", eines der Kriterien, den Fall nicht weiter zu verfolgen. Weder Ideologie noch Indoktrinierung dürfen aber als Rechtfertigung für das Verüben von Menschenrechtsverletzungen dienen. Ein solches Kriterium verletzt eindeutig Südafrikas Verpflichtungen hinsichtlich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts.
Abgesehen davon, dass sie sich über Südafrikas internationale Rechtsverpflichtungen hinwegsetzt, ist die geänderte Politik der Strafverfolgung eine schamlose Missachtung der eigenen Verfassung. Das Nachwort zur südafrikanischen Übergangsverfassung von 1993 reflektiert das Ergebnis einer verhandelten Übereinkunft zwischen den früheren Konfliktparteien. Um die Ziele der nationalen Einheit und Versöhnung zu erreichen, sollte keine Siegerjustiz geübt werden, doch ebenso wenig sollte es eine pauschale Amnestie für Täter geben. Entsprechend wurde in dem Nachwort eine bedingte Amnestie erwogen, die von den Komitees der Wahrheitskommission verwaltet werden sollte.
Ein so weit reichendes Programm erforderte eine weitgehende Einschränkung der fundamentalen Rechte der Opfer auf Gerechtigkeit und rechtliche Wiedergutmachung. Gerechtfertigt wurde dies in dem Nachwort mit der dringlichen Notwendigkeit, nationale Einheit und Versöhnung zu fördern und eine historische Brücke zwischen der Vergangenheit einer zutiefst getrennten Gesellschaft zu einer Zukunft zu schlagen, die auf Demokratie und friedliche Koexistenz gründet. Das Ergebnis war ein Tausch von Wahrheit (oder vollständiger Offenlegung) gegen Amnestie. Täter, denen Amnestie verweigert wurde oder die sich nicht an die TRC wenden wollten, unterlagen sowohl der Strafverfolgung durch den Staat als auch den von den Opfern eingereichten Zivilrechtsklagen. Der südafrikanische Staat trat also in einen Pakt mit den Opfern. Dieser erforderte vom Staat, jegliche angemessene Schritte zu unternehmen, um nicht amnestierte Täter, die es verdienen, auch tatsächlich strafrechtlich zu verfolgen.
Die meisten Opfer hatten das Modell für Wahrheit und Versöhnung auf der Grundlage begrüßt, dass die Täter, die sich dem Prozess verweigerten oder die keinen Anspruch auf Amnestie hatten, auch tatsächlich weiterhin rechtlich belangt würden. Dieser Teil des historischen Versprechens an die Opfer wurde nicht eingehalten. Die demokratische Zukunft", auf die sich die Interimsverfassung bezog, ist das gegenwärtige Südafrika. Die historische Brücke" ist überschritten worden. Heute erfreut sich Südafrika einer der respektabelsten und stabilsten Demokratien in der Welt. Man kann nicht davon ausgehen, dass unsere Demokratie bedroht wäre, würden jene verfolgt, die sich auf den TRC-Prozess nicht einlassen wollten. Die Maßnahmen, die das heutige Recht beschneiden, wurden nicht getroffen, um das Überleben von Südafrikas konstitutioneller Demokratie zu sichern. Die Rechtsstaatlichkeit gegen Berechnung einzutauschen ist unannehmbar. Solch ein Tausch ist in der Tat ein Angriff auch die Werte, auf die sich der neue südafrikanische Staat gründet, nämlich die Würde des Menschen, Gleichheit, die Förderung der Menschenrechte, den Vorrang von Verfassung und Rechtsstaatlichkeit.
Südafrika hat sich zwar auf dem Papier zu seinen internationalen Verpflichtungen bekannt, doch dieses Bekenntnis ist nicht in die Praxis umgesetzt worden. Der Staat hat es versäumt, die schlimmsten Verbrechen, die unter Apartheid begangen wurden, zu verfolgen. Südafrikas neue Strafverfolgungspolitik ist ein Verrat an all denjenigen, die im guten Glauben am TRC-Prozess teilgenommen haben. Sie ist auch ein Verrat an all jenen Tätern, die sich während der Arbeit der TRC in Treu und Glauben an die Kommission wandten, um Amnestie zu beantragen. Darüber hinaus steht sie für einen Verrat an allen Südafrikanerinnen und Südafrikanern, die sich für den Geist von Wahrheit und Versöhnung begeistert haben, um die Verbitterung der Vergangenheit zu überwinden. Die neue Strafverfolgungspolitik ist vollkommen unvereinbar mit dem Geist und Zweck der südafrikanischen Verfassungs- und Rechtsauslegung, Verbrechen der Vergangenheit zu behandeln. Die Amnestiekriterien der Wahrheitskommission galten für diejenigen, die die Wahrheit über ihre Taten in einer begrenzten Frist bekannten. Sie dürfen 2007 keinen Platz mehr in der Strafverfolgungspolitik Südafrikas haben.
aus: der überblick 01/2007, Seite 72
AUTOR(EN):
Howard Varney
Howard Varney arbeitet als Rechtsanwalt in Johannesburg. Er hat für die südafrikanische Wahrheits- und
Versöhnungskommission gearbeitet und war "chief investigator" der Wahrheits- und
Versöhnungskommission in Sierra Leone.