Wo der Staat keine Standards setzt
Über Jahre hinweg haben NGOs von international operierenden Konzernen verlangt, dass sie sich an bestimmte soziale und ökologische Standards halten. Jetzt gehen führende Weltkonzerne dazu über, von sich aus Verhaltenskodices umzusetzen und ihre Fabriken in der Dritten Welt für Inspektionen zu öffnen. Helfen diese freiwilligen Vereinbarungen den Arbeitnehmern und der Umwelt wirklich, oder schwächen sie lediglich die Regulierungschancen einheimischer Regierungen und geben den Konzernen den Anschein größerer Umweltfreundlichkeit?
von Gary Gereffi
Die Starbucks Corporation, das in Seattle, USA, ansässige weltgrößte Kaffeeunternehmen, gab im April 2001 eine Neuigkeit bekannt: Starbucks werde künftig Kaffeebohnen von Importeuren kaufen, die Kleinbauern mehr als den Marktpreis zahlen (fair gehandelten Kaffee), und solchen Kaffee in über 2000 ihrer Geschäfte in den Vereinigten Staaten anbieten. Im August des gleichen Jahres forderte die McDonald's Corporation die Lieferanten der fast 2 Milliarden Eier, die sie jährlich kauft, in einem Schreiben auf, die strengen Richtlinien für eine artgerechte Haltung von Hühnern zu befolgen, andernfalls werde der Konzern von ihnen keine Eier mehr kaufen. 1998 begann De Beers Consolidated Mines, das Unternehmen, das zwei Drittel des Welthandels mit ungeschliffenen Diamanten kontrolliert, stark in Kanada zu investieren, um sich der Kontroverse über "Blutdiamanten" zu entziehen - über Edelsteine, die zur Finanzierung von Rebellengruppen in Afrika verkauft wurden (vgl. "der überblick" 2/99).
Sind das Beispiele für plötzliche Gewissensbisse bei den führenden Managern der Welt? Nicht ganz. Multilaterale Konzerne geraten unter wachsenden Druck von Umweltschützern und Vertretern von Arbeitnehmerinteressen, multilateralen Organisationen und Regulierungsbehörden in ihren Heimatländern und setzen daher Zertifizierungsmaßnahmen um für die Einhaltung von Verhaltenskodices, Produktionsrichtlinien und Überwachungsnormen, die nicht nur das Verhalten der Konzerne lenken und bescheinigen, sondern auch das ihrer Zulieferer weltweit. Für diese neuen Mechanismen tritt unter anderem auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Anan, ein, der im Januar 1999 die Führungskräfte von Unternehmen aufgerufen hat, die Initiative Global Compact von der UN und Vertretern der Wirtschaft "anzunehmen und umzusetzen". Diese Partnerschaft von UN und Unternehmen beruht auf neun Prinzipien, die Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte und den Umweltschutz umfassen, "um die Marktkräfte mit der Autorität von universalen Idealen zu verbinden" - so Anan.
Zertifiziert wird in fast allen bedeutenden Industrien, die von Umweltschützern ins Visier genommen worden sind, unter anderem in den Branchen Chemie, Kaffee, Forstprodukte, Öl, Bergbau, Atomkraft und Transport. Von Bedeutung ist die Zertifizierung auch in der Bekleidungs-, Diamanten-, Schuhwaren- und Spielzeugindustrie, um nur einige zu nennen. In einem unlängst von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgegebenen Verzeichnis sind 246 Verhaltenskodices für Konzerne angeführt, während die Global Reporting Initiative, die sich mit der Standardisierung der Konzernberichterstattung wie Sozialbilanzen und Umweltbilanzen befasst, schätzt, dass über 2000 Unternehmen freiwillig über ihre Praktiken und Leistungen im sozialen, wirtschaftlichen und Umweltbereich berichten.
Die Befürworter der Zertifizierung glauben, dass diese ein neues Modell für die globale Unternehmensführung bildet. Das ist durchaus beachtlich, wenn man bedenkt, dass die Regierungen der einzelnen Staaten nicht in der Lage zu sein scheinen, mächtige multinationale Konzerne zu zügeln. Zwar deuten erste Anzeichen darauf hin, dass Zertifizierungsvereinbarungen die Arbeitsbedingungen verbessern und eine umweltfreundlichere Produktion fördern können. Die Zertifizierung bleibt aber ein stumpfes Schwert und ein unvollkommenes Instrument, wenn es darum geht, weltweit tätige Konzerne rechenschaftspflichtig zu machen. Mehr und mehr Zertifikate werden erfunden und wetteifern um Anerkennung seitens nichtstaatlicher Organisationen und Konsumenten und darum, von multinationalen Konzernen akzeptiert zu werden. Es besteht keine Garantie, dass sich die besten Standards für die Umwelt oder die Arbeitnehmerrechte auch durchsetzen. Manche Beobachter befürchten vielmehr, dass die von Aktivisten und Konzernen vorangetriebene Zertifizierung im Zuge der Ausbreitung des Freihandels auf die ganze Welt dazu führen wird, dass Zertifikate das vorwegnehmen oder gar an die Stelle dessen treten werden, was eigentlich Aufgabe von Staaten und internationalen Organisationen ist, nämlich die Rechenschaftspflicht von Konzernen zu überwachen.
Zur Zertifizierung gehören eine Reihe von Regeln, Prinzipien oder Richtlinien (gewöhnlich in Form eines Verhaltenskodexes) sowie einen Berichterstattungs- oder Überwachungsmechanismus (häufig ein Umweltbericht eines Konzerns oder eine wie eine Rechnungsprüfung vorgenommene Prüfung der Sozialbilanz). Zertifizierung lässt sich in vier allgemeine Kategorien einteilen, je nachdem, wer die Richtlinien aufstellt und die Überwachung durchführt.
Am verbreitetsten ist die sogenannte Erstpartei-Zertifizierung, bei der eine Firma ihre eigenen Regeln aufstellt und über deren Einhaltung Bericht erstattet. So etwa das Credo einer der weltgrößten Hersteller von Medizintechnik und Medikamenten, Johnson & Johnson, das General Robert Wood Johnson im Jahre 1943 verfasste und welches das Unternehmen gut durch die Krisen von Tylenol® (damals hatte jemand Cyanid in Flaschen des Hustenmittels gespritzt. Der Konzern reagierte sofort und nahm Millionen von Packungen vom Markt; die Red.) in den achtziger Jahren brachte; inzwischen umfasst es auch Umwelt- und soziale Anliegen. Das Unternehmen hat 1992 seinen ersten Sozialbericht und 1993 seinen ersten Umwelt- und Arbeitsschutzbericht verfasst.
Bei der Zweitpartei-Zertifizierung geht es darum, dass ein Industriezweig oder ein Handelsverband einen Verhaltenskodex aufstellt und die Berichterstattungsverfahren ausführt. Das globale Programm der chemischen Industrie mit der Bezeichnung Responsible Care® ist ein passendes Beispiel. In den ersten Jahren der Initiative hat in den Vereinigten Staaten der Arbeitgeberverband der Chemischen Industrie (Chemical Manufacturers Association, inzwischen umbenannt in American Chemistry Council) Umwelt- und Arbeitsschutzprinzipien und -kodices ausgearbeitet (diese verpflichten die daran teilnehmenden Firmen, über ihre Anwendung der Prinzipien Rechenschaft zu geben) sowie über die entsprechenden Fortschritte der Industrie insgesamt berichtet.
Bei der Drittpartei-Zertifizierung erlegt eine außenstehende Gruppe, häufig eine nichtstaatliche Organisation (NGO), einer bestimmten Firma oder Industrie eigene Regeln und Verfahrensweisen auf, die zu beachten sind. Der Council on Economic Priorities (CEP), eine in New York ansässige nichtstaatliche Organisation, hat seit seiner Einrichtung im Jahre 1969 Daten über die Tätigkeit von Konzernen gesammelt und gibt Berichte über deren Verhalten heraus. Der CEP (unlängst umbenannt in Center for Responsibility in Business) hat ein Akkreditierungsorgan geschaffen, das überprüfbare Standards und einen unabhängigen Akkreditierungsprozess für den Schutz von Arbeitnehmerrechten mit der Bezeichnung Social Accountability 8000 (SA8000) aufgestellt hat. Seit April 2001 hat die Gruppe 66 Fertigungsstätten weltweit als SA8000-konform zertifiziert, vor allem in der Spielzeug- und Bekleidungsindustrie.
Viertpartei-Zertifizierung schließlich betrifft staatliche oder multilaterale Stellen. Die Global Compact-Initiative -Initiative der Vereinten Nationen zum Beispiel führt Umwelt-, Arbeitnehmer- und Menschenrechtsprinzipien an, die Konzerne zu beachten haben; die teilnehmenden Konzerne müssen aktuelle Daten über ihre Fortschritte vorlegen, die NGOs online abrufen und prüfen können.
Die ersten Bemühungen in den USA, freiwillige Standards zu setzen und zu überwachen, waren eine Reaktion auf Unfälle mit Umweltschäden. Nach dem Unfall im Atomkraftwerk Three Mile Island im Jahre 1979 hat die US-Atomindustrie das Institute of Nuclear Power Operations geschaffen, eine private Organisation, die für die Industrie Standards setzt und ihre Einhaltung mit Inspektionen überwacht. Ähnlich hat der Unfall von Tschernobyl im Jahre 1986 einige Atomkraftverbände in den Vereinigten Staaten und in Europa bewogen, die World Association of Nuclear Operators zu schaffen. Auch die Initiative Responsible Care der chemischen Industrie, die in dieser Branche Verbesserungen im Umwelt- und Arbeitsschutz fördert, ist zunächst in Kanada und dann in den Vereinigten Staaten nach einer Katastrophe gegründet worden: Im Jahr 1984 kamen bei einem Unfall in einer Fabrik eines Tochterunternehmens von Union Carbide in Bhopal in Indien rund 2500 Menschen ums Leben, und viele weitere wurden verletzt. Bis April 2001 hatten sich Chemieindustrie-Verbände in 46 Ländern der Initiative angeschlossen.
Mit der Zeit wurden Zertifizierungsvereinbarungen jedoch eher vorbeugend und nicht mehr nur als Reaktion getroffen. NGOs warteten nicht mehr, bis es zu Unfällen kam, sondern versuchten, Fehlverhalten von Konzernen schon in ihrem normalen Geschäftsbetrieb aufzudecken. Die Zertifizierung von Arbeitsstandards war eine Reaktion auf das Bloßstellen führender Markenartikel-Vertreiber, bei deren internationalen Vertragspartnern und Subunternehmern Missstände herrschten. Ins Visier genommen hatten NGOs etwa die Wal-Mart Stores in Honduras und Bangladesch, die Walt Disney Company in Haiti, Mattel in China, Nike in Indonesien, die J.C. Penney Company und Kmart Corporation in Nicaragua und Liz Claiborne Inc. und Gap Inc. in El Salvador. Der häufigste Missstand waren äußerst niedrige Löhne, der Einsatz von Kinderarbeit, die Misshandlung von Arbeitnehmerinnen und die Unterdrückung von Gewerkschaften. Levi Strauss & Co. hat bereits 1991 einen Verhaltenskodex herausgegeben, und andere Großunternehmen der Bekleidungsindustrie wie Claiborne, Nike, Reebok und Gap Inc. schlossen sich bald an. Diese Kodices sahen ein Verbot der Kinder- und der Zwangsarbeit sowie der Diskriminierung am Arbeitsplatz, die Achtung der Gesetze des jeweiligen Staates und eine "angemessene" Entlohnung (in Höhe des einheimischen Mindestlohnes oder darüber) vor. Industrieverbände und andere Gruppen entwickelten eine ähnliche Politik. So hat der Internationale Fußballverband (FIFA) 1996 ein Lizenzprogramm verabschiedet, um zu verhindern, dass Mitgliedsverbände mit Kinderarbeit hergestellte Fußbälle verwenden.
Die meisten Zertifizierungsorganisationen wurden zunächst in fortgeschrittenen Industrieländern gegründet, vor allem in den Vereinigten Staaten, wo ein direktes Eingreifen der Regierung allgemein sehr ungern gesehen wird und Bewegungen, die eine Rechenschaftspflicht für Konzerne fordern, zunehmend an Einfluss gewinnen. Aber es kommt nicht überraschend, dass sowohl Unternehmen als auch NGOs ihre zuerst in den USA durchgeführte Zertifizierungspraxis auf die ganze Welt ausdehnen. Während Netzwerke von Aktivisten sich ausbreiten und soziale und ökologische Belange in immer mehr Ländern berücksichtigt werden, hoffen die bedeutenden multinationalen Konzerne, mit Hilfe der Zertifizierung ihre Kunden im eigenen Land zu beruhigen und die Erwartungen von Regierungen in solchen Ländern zu übertreffen, in denen die Gesetze schwach sind oder nicht durchgesetzt werden. Mit freiwilligen Zertifizierungsinitiativen könnten ganze Industrien in die Lage versetzt werden, der Entwicklung von internationalen Arbeits- und Umweltgesetzen vorzugreifen, die multinationale Konzerne betreffen. So könnten sie vermeiden, dass in einem Land nach dem anderen ein albtraumhaftes Szenario von strengen Regulierungen entsteht, die möglicherweise den Regeln in anderen Staaten widersprechen.
Haben Zertifizierungsvereinbarungen wirklich einen Einfluss auf das Verhalten von Konzernen? Die Antwort hängt von der jeweiligen Industrie, der Fähigkeit von NGOs zu einer wirkungsvollen Mobilisierung und den spezifischen Interessen der beteiligten Gruppen ab. Die Erfahrungen mit der Zertifizierung in der Forstwirtschaft und der Bekleidungsindustrie machen - auch wenn sie noch relativ neu sind - deutlich, wie die Zertifizierung Unternehmen dazu zwingen kann, ihre Praktiken zu überdenken.
In der Forstwirtschaft ging es vor allem um Umweltprobleme. In dem Maße, in dem die weltweite Zerstörung der Wälder in den siebziger und achtziger Jahren deutlicher wurde, nahm auch die Sorge um die Auswirkungen zu, welche die Abholzung, die Rodung und die Abwässer von Zellstoff- und Papierfabriken mit sich brachten, wie beispielsweise den Verlust der Artenvielfalt. Gut organisierte NGOs in Industrieländern, die sich mit dem Schutz von Tropenwäldern in Entwicklungsländern befassten, hatten Schwierigkeiten festzustellen, welche Firmen, die in gefährdeten Wäldern tätig waren, tatsächlich Schäden anrichteten. Um dem abzuhelfen, entstand in den neunziger Jahren die Forstzertifizierung.
Die Entwicklung begann 1993, als mächtige nichtstaatliche Organisationen wie der World Wildlife Fund und Greenpeace den Forest Stewardship Council (FSC) schufen. Der FSC lehnt Finanzmittel von der Industrie ab und hat eine Reihe von Grundprinzipien über die Holzbewirtschaftung und -gewinnung aufgestellt. Unter anderem sollen der Pestizideinsatz beschränkt, die Artenvielfalt geschützt und die Erosion bekämpft werden. Firmen, die ein Gütesiegel des FSC wünschen, müssen sich von einem akkreditierten "Zertifizierer" einer Prüfung unterziehen lassen (vgl. "der überblick" 4/1999). Privatfirmen wie SmartWood und Scientific Certification Systems in den Vereinigten Staaten und die Silva Forest Foundation in Kanada können die Einhaltung der FSC-Auflagen prüfen. Der FSC bietet auch "Lieferantenketten-Zertifizierungen", die den Weg des Holzes vom Fällen der Bäume über die Verarbeitung zu verschiedenen Produkten bis zur Auslieferung dieser Produkte an den Einzelhändler überwacht und den Anteil des in der Ware enthaltenen zertifizierten Holzes garantiert. Solche Produktkettenangaben sind besonders schwierig für Produkte wie Papier, die aus vielfältigen Materialien hergestellt werden. Konzerne, die die Lieferantenketten-Auflagen erfüllen, dürfen das FSC-Logo auf ihren Produkten anbringen.
Die Holzindustrie in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa sah die FSC-Richtlinien als lästig und unpraktisch an und stellten rasch ihre eigene Richtschnur für geeignete Praktiken in der Forstwirtschaft auf. Heute gibt es über 40 verschiedene Zertifizierungsprogramme weltweit, die meisten beschränken sich auf einzelne Staaten. Holzunternehmen formulieren häufig über ihre nationalen Industrieverbände Rahmenzertifizierungsprogramme statt firmenspezifische Garantien zu befürworten, weil sie um den gemeinsamen Ruf der Branche fürchten: Verbraucher unterscheiden nicht unbedingt zwischen Holz von Georgia-Pacific und Holz von International Paper, deshalb trägt das Handeln einzelner Firmen wenig zur Verstärkung des Rufes, umweltfreundlich zu sein, bei.
Der Gegensatz zwischen einer Zertifizierung durch die Industrie oder durch NGOs ist erheblich. Man betrachte die Unterschiede zwischen dem FSC und dem Programm Sustainable Forestry Initiative (SFI), das der Industrieverband American Forest and Paper Association im Jahre 1994 eingeführt hat. So wie es ursprünglich konzipiert war, verlangte das SFI-Programm von Firmen lediglich die Entwicklung interner Verfahren zur Einhaltung der allgemeinen und überbetrieblichen Ziele des SFI-Programms, das die dauerhafte Produktivität des Waldes und die Erhaltung seiner Artenvielfalt gewährleisten sollte. Die Überwachung und Umsetzung lag bei den Firmen selbst. Weil die ursprünglichen SFI-Programmstandards wenige spezifische Forstbewirtschaftungstechniken vorschrieben, genossen Firmen sehr große Freiheiten, die Standards nach ihrem Gusto umzusetzen. Aufgrund dieses Freiraums ergaben sich zwischen den Firmen bedeutende Unterschiede in der Anwendung der Standards. Außerdem hat das SFI-Programm keine Lieferantenkettenüberwachung durchgeführt und erst vor kurzem Pläne zur Einführung eines Kennzeichnungssystems für Produkte beschlossen. Da die Firmen dem Industrieverband nur intern berichten, wie sie die Regeln beachten, bleibt die Rechenschaft gegenüber den Verbrauchern und der Öffentlichkeit gering.
Angesichts scharfer Kritik von Umweltgruppen hat die Industrie jedoch allmählich strengere Standards angenommen und unabhängige Kontrollen befürwortet. Die Firmen, die den Druck am stärksten zu spüren bekamen, waren nicht die Holzunternehmen wie Georgia-Pacific, Weyerhaeuser und International Paper, sondern Einzelhandelsfirmen, insbesondere die großen Bau- und Heimwerkermärkte wie Home Depot und Lowe's Home Improvement Warehouse stores. Das Rainforest Action Network, Greenpeace, der Natural Resources Defense Council und andere NGOs haben Ende der neunziger Jahre größere Kampagnen vor den Läden dieser großen Einzelhandelsketten durchgeführt. Schließlich haben sowohl Home Depot (im August 1999) als auch Lowe's (August 2000) ihre Präferenz für FSC-zertifizierte Produkte erklärt, was einen Schlag für die Industriegruppen bedeutete, die auf die Annahme des SFI-Programms hofften. Da die Glaubwürdigkeit ihres Zertifizierungsprogramms auf dem Spiel stand, hatte die Industrie kaum eine andere Wahl, als ihre Standards auf die FSC-Stufe anzuheben.
Bei der Zertifizierung von Kleidungsstücken geht es mehr um soziales Verhalten der Unternehmen und ihrer Zulieferer. Aggressive Kampagnen von Arbeitnehmerorganisationen, NGOs und Studentenaktivisten haben die Bekleidungsunternehmen gezwungen, strengere Verhaltenskodices anzunehmen und eine unabhängige Überwachung einzurichten. Als 1995 aufgedeckt wurde, dass in einer Bekleidungsfabrik in El Monte, Kalifornien, Thai-Arbeitnehmer wie Sklaven gehalten wurden, sah sich die Regierung Clinton veranlasst, eine Arbeitsgruppe mit der Bezeichnung Apparel Industry Partnership (AIP) einzurichten. Diese aus Arbeitgebern, nichtstaatlichen Organisationen, Gewerkschaften und Vertretern des US-Arbeitsministeriums bestehende Arbeitsgruppe formulierte einen Verhaltenskodex für Bekleidungsfirmen und legte fest, dass die Unternehmen den einheimischen Mindestlohn oder Durchschnittslohn zahlen müssen, dass die Arbeitnehmer mindestens 14 Jahre alt sein müssen und die Arbeitnehmer nicht länger als 60 Stunden in der Woche arbeiten dürfen (allerdings können sie freiwillig unbegrenzt Überstunden leisten). Im November 1998 schuf die AIP die Fair Labor Association (FLA), um diesen Verhaltenskodex durchzusetzen und zu überwachen.
Es kam zu einer Kontroverse, als mehrere Gewerkschaften und nichtstaatliche Organisationen aus der AIP mit der Begründung ausschieden, deren Regeln seien zu schwach, weil ihre Umsetzung freiwillig sei und kein Standard für eine angemessene Bezahlung festgelegt werde. Ferner sei ihre Überwachung weder unabhängig noch transparent; ihr System der Inspektion gebe Produzenten zu viel Kontrolle darüber, welche Fabriken untersucht werden sollten und von wem, und Berichte der Kontrolleure müssten nicht veröffentlicht werden. Die von der Industrie unterstützte FLA hat versucht, auf die Anliegen der Initiative United Students Against Sweatshops (Vereinigte Studenten gegen Ausbeuterbetriebe) einzugehen, die nach Demonstrationen an mehreren US-Universitäten wie Duke, Georgetown, Notre Dame und Wisconsin in den Jahren 1997 und 1998 an Dynamik gewann. Die FLA will die Produzenten spätestens ab Ende 2001 zertifizieren. Sie fordert eine von den Firmen selbst durchgeführte Überwachung sowie eine Kontrolle durch Prüfer von außen, die von der FLA akkreditiert und in ein Verzeichnis aufgenommen sind. Diese sollen die Fabriken mit und ohne Ankündigung besuchen.
Einige Studentenaktivisten schlossen sich der Kritik der Gewerkschaften und der NGOs an und bewogen die United Students Against Sweatshops - in Zusammenarbeit mit Universitätsleitungen und Sachverständigen für Arbeitnehmerrechte - im Jahre 2000 dazu, das Worker Rights Consortium (WRC) als radikalere Alternative zu gründen. Mit Unterstützung des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO (American Federation of Labor and Congress of Industrial Organisation) und der Gewerkschaft Union of Needleworkers, Industrial, and Textile Employees (UNITE) tritt das WRC für eine angemessene Bezahlung der Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie, für unabhängige Gewerkschaften, unangekündigte Fabrikuntersuchungen und die vollständige Offenlegung der Bedingungen in den Fabriken ein. Das WRC hat Unterstützung von über 80 Universitäten erhalten, während 155 Universitäten mit der FLA arbeiten.
Trotz der Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Zertifizierungsgruppen haben Verhaltenskodices und eine wirkungsvolle unabhängige Überwachung weltweit tätige Bekleidungsfirmen zu einer Veränderung ihres Verhaltens bewogen, zum Beispiel das Unternehmen Gap Inc., das einen Teil seiner Kleidungsstücke in Mittelamerika erwirbt. Im Jahre 1995 hatte Mandarin International, ein Vertragspartner von Gap Inc. in El Salvador, 350 Beschäftigte entlassen, als diese zum Schutz ihrer Arbeitsbedingungen eine Gewerkschaft gründeten. Diese Entlassung sowie zahlreiche andere in der Fabrik aufgedeckte Missbräuche verstießen gegen den weithin bekannten Verhaltenskodex von Gap Inc. Statt einfach nur seinen Vertrag mit Mandarin zu kündigen, wodurch die Bekleidungsarbeiter ihren Arbeitsplatz verloren hätten, wurde Gap Inc. unter erheblichem Druck von NGOs wie dem National Labor Committee - einer von Gewerkschaften unterstützten und für die Belange von Arbeitnehmern eintretenden Gruppe, die für mehrere der entlassenen salvadorianischen Arbeitnehmerinnen eine Vortragsreise in den USA organisiert hatte - das erste Einzelhandelsunternehmen, das einer unabhängigen Überwachung eines ausländischen Vertragspartners zustimmte. Diese Vereinbarung galt als bedeutender Durchbruch bei der Zertifizierung von Kleidungsstücken. Während in El Salvador das Überwachungsorgan (das die Bezeichnung Independent Monitoring Group of El Salvador trägt) zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fabrik von Mandarin geführt hat, hat Gap Inc. bisher nur in einer Handvoll der 55 Länder, in der das Unternehmen tätig ist, eine unabhängige Überwachung seiner Verhaltenskodices zugelassen, etwa in Honduras und Guatemala.
Das WRC hat unlängst ähnlich bei Nike in Mexiko interveniert. Im Januar 2001 hat in Puebla, Mexiko, ein Großteil der 850 Beschäftigten von Kukdong International die Arbeit niedergelegt. Diese Fabrik wird von koreanischen Eignern geleitet. Dort werden die Nike- und Reebok-Trainingsblusen für den Collegemarkt hergestellt, deren Umsatz jährlich 2,5 Milliarden US-Dollar beträgt. Die Streikenden protestierten gegen die Entlassung von fünf Beschäftigten, die sich über schlechte Arbeitsbedingungen beklagt hatten. Die Arbeitsweise in der Bekleidungsfabrik von Kukdong verstieß gegen eine Reihe von Bestimmungen in Nikes Verhaltenskodex, darunter Vereinigungsfreiheit und Arbeitsschutzbedingungen, und es kam zu Schikanen und Übergriffen. Anfang Februar entsandte die unabhängige gemeinnützige Kontrollorganisation Verité in Amherst (Massachusetts) ein fünfköpfiges Team nach Kukdong, um die Praktiken direkt in der Fabrik zu untersuchen. Der Auswertungsbericht von Verité wurde in wenigen Wochen erstellt und veröffentlicht, und am 14. März 2001 gab Nike Maßnahmen zur Korrektur der Missstände bekannt. Ein Zeitplan wurde vorgelegt, bis wann Kukdong den Verhaltenskodex von Nike einhalten sollte. Nur eine Woche nach dem Streik waren fast zwei Drittel der Fabrikarbeiter wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt.
Natürlich befassen sich Unternehmer nicht immer so bereitwillig mit Missbräuchen in Fabriken. Im Februar 2001 gab die Global Alliance for Workers and Communities einen 106-seitigen, von Nike finanzierten Bericht über Arbeitsbedingungen in neun Vertragsfabriken Nikes in Indonesien heraus. Der Bericht enthielt eine Vielzahl von Problemen: Arbeitnehmerrechte wurden missachtet, die Bezahlung war zu gering, das Recht des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses wurde verweigert, Vorgesetzte beleidigten und schlugen Beschäftigte, Frauen wurden sexuell belästigt und Mitarbeiter zu Überstunden gezwungen. Der Inhalt der Berichts überrascht nicht, ähnliche Erkenntnisse gab es in den gesamten neunziger Jahren. Neu an diesem Bericht ist, dass Nike dafür gezahlt und ihn veröffentlicht hat und den Inhalt nicht leugnen kann. Nikes Reaktion auf diese Probleme wird neue Maßstäbe setzen, an die sich andere Bekleidungs- und Schuhproduzenten halten müssen, wenn sie nicht eine scharfe Prüfung durch Kritiker der Industrie riskieren wollen.
Endgültige Schlussfolgerungen mögen noch verfrüht sein, doch machen die Erfahrungen in der Forst- und der Bekleidungswirtschaft die wachsende Macht der nichtstaatlichen Organisationen deutlich, Konzerne zur Annahme neuer Umwelt- und Arbeitsstandards zu zwingen. Nichtstaatliche Organisationen haben ausgefeilte Methoden entwickelt und nutzen Kampagnen auf den Märkten, um Einfluss auf widerspenstige Firmen zu gewinnen. Solche Kampagnen, bei denen sich die Proteste gegen bekannte Einzelhandelsfirmen richten, die beanstandete Marken führen, gibt es erst seit etwa zehn Jahren. Ein Aktivist von Greenpeace formulierte es so: "Für Umweltschützer war das wie die Erfindung des Schießpulvers." Indem sie Firmen wie Gap Inc. oder Home Depot als Zielscheibe auswählen, Firmen mit direktem Kontakt zum Kunden am Ende der Handelskette, können NGOs die Macht und Verwundbarkeit von Konzernen mit Markennamen zu ihrem Vorteil nutzen. Firmen wie der Holzkonzern Georgia-Pacific, die die Rohstoffe gewinnen, arbeiten fern von den Endverbrauchern und sind so weniger betroffen von kritischer Berichterstattung, doch Unternehmen wie Staples Inc. (eine aktuelle Zielscheibe von Rainforest Action Network) sind aufgrund ihrer Nähe zum Endverbraucher wesentlich verwundbarer. Mit Mitteln wie Boykotten, Transparenten, Flugblättern und anderen direkten Aktionen zwingen NGOs die Einzelhändler, eine konstruktive Haltung zu Arbeitnehmerrechts- und Umweltfragen anzunehmen.
Stärke und Einfluss der Zertifizierungsprogramme scheinen zuzunehmen. Drittpartei-Zertifizierung und -Überwachung könnten schon bald in vielen weltweit tätigen Industrien die Norm werden. Die Auseinandersetzungen wegen der Zertifizierung von Forstprodukten zeigen, dass Verbraucher und nichtstaatliche Organisationen schwache Standards und unzureichende Durchsetzungsmethoden rasch bloßlegen können, und sie können auch wirkungsvoll für strengere Verhaltenskodices und eine verlässlichere Überwachung mobilisieren. Konzerne in der Bekleidungsindustrie machen Konzessionen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären, denn auch sie befürworten Drittparteien-Vereinbarungen. Selbst die Initiative Responsible Care der chemischen Industrie erwägt in einigen Ländern eine Prüfung durch Dritte.
Die Überwacher können jedoch nicht in jeder Industrie und zu allen Zeiten auf Veränderungen drängen. Aber auch ohne sie können Marktkräfte und der Zwang zur Standardisierung Firmen dazu bringen, eine Zertifizierung auf dem geringsten gemeinsamen Nenner anzunehmen, vor allem wenn die Industrie als erste handelt und eine Zertifizierungsvereinbarung annimmt, an der sich weltweit sehr viele Mitglieder beteiligen. Während Konkurrenzdruck zu besseren Industriestandards beitragen kann, haben die Unternehmen bei geringerem Druck Spielraum, ihre eigenen Bedingungen zu diktieren, wie die Kodices eingehalten werden sollen. Und sogar bei schärfsten Zertifizierungsregeln kann es misslingen, grundlegende Änderungen an Industriestrukturen zu bewirken, etwa am internationalen Unterlieferantensystem, das Markenfirmen wie Nike oder Gap Inc. ermöglicht, ihre Zulieferer über Großaufträge zu kontrollieren, ohne selbst die gesetzlichen Verpflichtungen zu übernehmen, die mit dem Eigentum an einer Fabrik einhergehen.
Grundlegender ist, dass die Zunahme von Zertifizierungsinstitutionen tiefgreifende Dilemmata für die im 20. Jahrhundert verbreitete fortschrittliche Vorstellung bedeutet, dass das Heilmittel für soziale und Umweltprobleme in stärkeren Staatseingriffen besteht. Nachdem sich der Staat als unfähig erwiesen hat, alle an ihn gestellten Forderungen zu erfüllen, insbesondere weil Firmenorganisationen und Geschäftstransaktionen über die Landesgrenzen hinwegreichten, wurden alternative Lösungen angestrebt. Die Tendenzen im letzten Jahrzehnt legen eine neue Antwort im 21. Jahrhundert nahe: die Zertifizierungslösung.
Ob Zertifizierungsprogramme nun von Wirtschaftsverbänden entwickelt oder von nichtstaatlichen Organisationen vorangetrieben werden: Die Entwicklung von freiwilligen Mechanismen zur Wahrnehmung öffentlicher Belange gestaltet die traditionellen Machtverhältnisse weltweit um. Durch die Verbindung verschiedenartiger und häufig gegeneinander auftretender Akteure auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene sind Zertifizierungseinrichtungen entstanden, die auch das Verhalten von Firmen auf weltweiter Ebene leiten, das der Kontrolle durch Staaten und internationale Organisationen entzogen ist.
Zertifizierung wird niemals den Staat ersetzen, doch wird sie rasch zu einem mächtigen Instrument zur Förderung der Arbeitnehmerrechte und zum Schutz der Umwelt in einer Ära des Freihandels. Diese neue Herangehensweise, nämlich Angelegenheiten im öffentlichen Interesse privat über die Grenzen hinweg zu kontrollieren, bestehen neben und innerhalb von nationalen und internationalen Systemen wie dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA), sie ergänzen und fördern in manchen Fällen sogar die Intentionen solcher Verträge. Länder mit strengen und strikt durchgesetzten Arbeitnehmer- und Umweltgesetzen können mit Hilfe der Zertifizierung und privater Kontrolle zugunsten öffentlicher Belange über Landesgrenzen hinaus auf die weltweite Lieferantenkette einwirken. In Ländern, wo Arbeits- und Umweltgesetze gerade entwickelt oder nicht beachtet werden, kann die Zertifizierung auf ungleiche Standards hinweisen und diese Ungleichheiten abzumildern helfen. Die Regierungen sollten die Zertifizierung nicht als eine Bedrohung betrachten, sondern als Chance, den Bemühungen um Arbeits- und Umweltschutz in ihrem eigenen Land mehr Nachdruck zu verleihen.
aus: der überblick 03/2001, Seite 66
AUTOR(EN):
Gary Gereffi:
Gary Gereffi ist Professor für Soziologie und Direktor für Markt- und
Managementstudien an der Duke University. Ronie Garcia-Johnson ist
Assistenzprofessor für Umweltpolitik an der Duke University. Erika Sasser ist
Gastassistenzprofessorin an der Nicholas School of the Environment and Earth
Sciences an der Duke University. Dieser Artikel ist zuerst in englischer
Sprache in der US-Zeitschrift "Foreign Policy" 125 vom Juli/August 2001
erschienen. Wir drucken ihn mit freundlicher Genehmigung von "Foreign Policy"
und "Carnegie Enowment for International Peace" nach, die das Copyright
besitzen.