Schütze sie, wer kann
Wo die Menschenrechte nicht respektiert werden, leben auch die gefährlich, die sich für ihre Beachtung einsetzen: Richter und Rechtsanwälte, Journalisten und NGO-Vertreter zum Beispiel. Um sie besser zu schützen, haben die Vereinten Nationen eigens eine Erklärung verabschiedet und das Amt eines Sonderbeauftragten eingerichtet. Gefordert sind aber auch demokratische Rechtsstaaten wie Deutschland, die wacher, unbürokratischer und großzügiger für bedrohte Menschenrechtsverteidiger eintreten müssten.
von Andreas Selmeci
Der Tag war gut gewählt: Am 10. Dezember 1998, genau 50 Jahre nach Verabschiedung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine "Erklärung für Menschenrechtsverteidiger" verabschiedet. Im ersten Artikel wird klar gestellt, dass jeder Mensch das Recht hat, sich allein oder gemeinsam mit anderen für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen.
Diese Erklärung, das lässt sich knapp fünf Jahre später festhalten, hat den Schutz von Menschenrechtsverteidigern um wesentliche Schritte vorangebracht. Im Jahr 2000 wurde das Amt eines Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für Menschenrechtsverteidiger geschaffen und die Pakistanerin Hina Jilani auf diesen Posten berufen. Auf der jüngsten Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf wurde ihr Mandat um weitere drei Jahre verlängert. Frau Jilani hat auf ihren Reisen nach Kirgisien, Kolumbien und Guatemala und bei vielen weiteren stillen diplomatischen oder öffentlich gemachten Interventionen gegenüber Regierungen und Parlamenten kein Blatt vor den Mund genommen.
Regionale Zusammenschlüsse wie die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie internationale Menschenrechtsorganisationen haben mittlerweile ebenfalls spezielle Referate für Menschenrechtsverteidiger (MRV) eingerichtet, die Aktionen und Kampagnen zugunsten bedrohter MRV durchführen und teils auch dem Büro von Hina Jilani zuarbeiten (siehe Kasten). Verschiedene Regierungen, namentlich die skandinavischen und die niederländische, haben ihre Aktivitäten zugunsten von MRV auf eine vorbildliche Weise intensiviert. Die UN-Erklärung für MRV hat vermutlich dazu beigetragen, die Menschenrechtsarbeit neu zu erfinden.
Trotz der verstärkten Bemühungen um ihren Schutz leben Menschenrechtsverteidiger weiter gefährlich, wie der diesjährige Bericht von Hina Jilani zeigt. Nach ihren Informationen sind im Jahr 2002 in Argentinien, Brasilien, Kolumbien, der Demokratischen Republik Kongo, Honduras, Indien, Indonesien, Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, Mexiko, Pakistan, Peru, auf den Philippinen und der Türkei Personen ermordet worden, die Menschenrechte verteidigt haben. In weiteren Ländern haben Menschenrechtsverteidiger Morddrohungen erhalten oder waren anderen Einschüchterungsversuchen ausgesetzt; genannt werden Algerien, Bangladesch, Bolivien, Guatemala, Haiti, Kenia, Mexiko, Namibia, Paraguay, Peru, Simbabwe, Sri Lanka und Tunesien.
In vielen Staaten wurden MRV willkürlich verhaftet, mit absurden Anklagen überzogen, von Behörden behindert, illegal durchsucht, bestohlen und in ihrer Reise-, Versammlungs- und Berufsfreiheit eingeschränkt. Häufig ins Visier geraten couragierte Richter und Anwälte, Journalisten und Mitarbeiter von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs). Nach Angaben von amnesty international wurden im vergangenen Jahr in Kolumbien mehr als 180 Gewerkschafter umgebracht. Besonders gefährdet sind laut Hina Jilani auch Sprecher von marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die ihre Rechte einfordern: ländliche Gemeinschaften, indigene Völker und ethnische Minderheiten. Weibliche MRV werden wegen der von ihnen vertretenen Anliegen oder aufgrund frauenfeindlicher Milieus oft besonders heftig attackiert.
Aus einigen Ländern mit miserablem Ruf hinsichtlich der Menschenrechte, wie etwa Afghanistan, Burma und Sierra Leone, liegen keine Berichte vor. Hina Jilani beunruhigt das. Das muss aber nicht bedeuteten, dass es dort keine Menschenrechtsverteidiger gibt, es kann auch nur ein Anzeichen dafür sein, dass die dort tätigen Personen nicht die nötigen internationalen Kontakte haben.
Übergriffe auf MRV werden oft auf den unteren Etagen einer staatlichen Hierarchie begangen, in Auftrag gegeben oder zumindest geduldet und mit Straffreiheit belohnt. In schwachen und zerfallenen Staaten gehören die Täter häufig paramilitärischen Milizen, Guerillaverbänden oder der organisierten Kriminalität an. Doch auch sie handeln, wie Hina Jilani feststellt, häufig in Eintracht mit den offiziellen Sicherheitskräften oder zugunsten der Interessen von multinationalen Unternehmen.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 hat die Sache der Menschenrechte weltweit Rückschläge erlitten. In einigen Ländern werden MRV als "Terroristen" verleumdet. Die US-Behörden haben Rechtsanwälten den Zugang zu Kriegsgefangenen aus Afghanistan und Untersuchungshäftlingen muslimischer Herkunft verweigert. Europäische Regierungen einschließlich der deutschen haben rechtsstaatlich bedenkliche Überwachungsmaßnahmen eingeführt, die auch NGOs zu spüren bekommen. Bei Reisen nach Europa sehen sich renommierte Menschenrechtler und Friedensaktivisten mit nie gekannten Visa-Problemen konfrontiert.
Damals, im Jahr 1998, hat sich die Bundesrepublik Deutschland sehr für die Verabschiedung und Umsetzung der UN-Erklärung über MRV eingesetzt. Noch im März 2000 bekräftigte Außenminister Joschka Fischer vor der Menschenrechtskommission in Genf: "Tausende von Menschenrechtsverteidigern in aller Welt kämpfen für das Recht, ihre Tätigkeit frei von staatlicher Drangsalierung nachgehen zu können. Sie tun dies oft gegen massive Widerstände und unter sehr großen persönlichen Risiken und Opfern. Ihnen muss dringend geholfen werden."
Um die entsprechende Praxis der Bundesregierung zu beobachten, haben sich deutsche Menschenrechtsorganisationen in der Arbeitsgruppe MRV des "Forums Menschenrechte" zusammengetan. Für sie ergibt sich ein sehr durchwachsener Befund: Bezogen auf bestimmte Länder hängt das Engagement der Bundesregierung sehr von ihrer allgemeinen Interessenpolitik sowie von der Einstellung einzelner Ministeriums- und Botschaftsmitarbeiter ab. Im Falle Russlands hat der Verfasser feststellen können, dass sich das Auswärtige Amt zwar für tschetschenische MRV verwendet, die vom russischen Inlandsgeheimdienst ständig observiert werden. Auf dem großen politischen Parkett allerdings schweigt die Regierung Schröder/Fischer zu den Kriegsverbrechen im Nordkaukasus. In Usbekistan hat sich der deutsche Botschafter nach Auskunft einer Mitarbeiterin von Human Rights Watch von der Menschenrechtsbewegung distanziert, als das zentralasiatische Land im Herbst 2001 als Aufmarschgebiet für den Krieg in Afghanistan genutzt wurde.
Im Juli 2003 hat das Forum Menschenrechte der Bundesregierung ein umfassendes Programm für den effektiven Schutz bedrohter MRV an den Orten ihres Wirkens vorgeschlagen. Das Hauptziel staatlicher wie nicht-staatlicher Helfer muss dabei immer sein, dass die Betroffenen ihre Arbeit fortsetzen können, indem die gegen sie gerichteten Einschüchterungsversuche scheitern. Werden MRV bedrängt, bedarf es eines formellen Protestes der deutschen Botschaft bei der verantwortlichen Regierung oder informeller Einflussnahmen wie Prozessbeobachtungen und Besuche in Gefängnissen. Bei willkürlicher Verhaftung und drohender Folter gilt es, schnell und energisch zu handeln, denn dadurch können nachweislich Leben gerettet werden. Nach einer Haftentlassung empfiehlt sich häufig eine Nachbetreuung bis hin zur Organisation von Begleitschutz. Welche Maßnahme jeweils am geeignetsten ist, vermögen am besten Menschenrechtsorganisationen zu beurteilen, die mit den Betroffenen in Kontakt stehen und die Lage fortlaufend analysieren. Am Ende, resümiert das Forum Menschenrechte in seinem Forderungskatalog, soll den verfolgten MRV - etwa durch Workshops und Einzelberatungen - ermöglicht werden, sich wieder selbst zu schützen.
Wer als MRV um sein Leben fürchten muss, muss die Möglichkeit haben, sein Land unverzüglich zu verlassen. Dabei können wiederum deutsche Botschaften helfen, indem sie dem Betroffenen rasch und unkompliziert ein Visum für Deutschland ausstellen, ihm eventuell Soforthilfe für Reisekosten leisten und ihn notfalls bis zum Flugzeug begleiten. Manchmal werden auch Familien oder Lebenspartner von MRV angegriffen oder würden zu Geiseln, wenn sie alleine zurückbleiben müssten. Nicht immer besteht die Möglichkeit, in einen gesicherten Nachbarstaat zu gehen, um bei nächster Gelegenheit zurückkehren.
Als politisch Verfolgte haben MRV das Recht auf Asyl. Andererseits zeichnen sich Aktivisten gerade dadurch aus, dass sie nur für eine kurze Zeit Zuflucht suchen. Auch im Exil möchten sie den Einsatz für die Menschenrechte in ihrer Heimat fortsetzen. Obwohl sich die Bundesregierung bereit erklärt hat, akut bedrohte MRV vorübergehend in Deutschland aufzunehmen, ist darauf nicht immer Verlass. Organisationen, die Betroffene betreut haben, wie etwa das Menschenrechtsreferat im Diakonischen Werk oder amnesty international sind teils auf heftigen Widerstand von Ausländerbehörden gestoßen. Vielfach wurde den Flüchtlingen pauschal unterstellt, ein Asyl auf Dauer anzustreben. Dieser Befund überrascht insofern, als das bestehende Ausländerrecht es der Regierung erlaubt, noch vor der Schwelle zu einem Asylverfahren "aus dringenden humanitären Gründen" befristete Aufenthaltsbefugnisse zu erteilen.
Aufgrund solcher Erfahrungen hat das Forum Menschenrechte die neue Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Roth, im April 2003 aufgefordert, ein konsistentes und transparentes "Programm zur vorübergehenden Aufnahme bedrohter MRV in Deutschland" zu starten. Es müsse endlich ermöglicht werden, Betroffenen auf unbürokratischem Wege Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen von bis zu zwei Jahren Dauer zu erteilen. Unterhalt, Unterkunft und Pflichtversicherungen müssten gewährleistet sein, eventuell auch für mit eingereiste Angehörige. Zudem sollten Sprachkurse, Dolmetscherdienste, psychotherapeutische Behandlung und soziale Beratung in Anspruch genommen werden können. Das Forum Menschenrechte empfiehlt, dass die Verantwortung für dieses Programm bei der Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt liegt.
Unterstützung bei einem Aufenthalt in Deutschland dürfen MRV auch von ihren hiesigen Partnerorganisationen erwarten. Ferner gibt es spezielle Einrichtungen wie die "Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte", die Stipendien gewähren. Die Rückkehr eines MRV in sein Herkunftsland muss immer auf freiwilliger Basis erfolgen und sollte wiederum diplomatisch und materiell unterstützt werden. Häufig dürfte eine Nachbetreuung wie nach einer Inhaftierung erforderlich sein. Der beschriebene Aufwand mag immens anmuten. Er ist indessen nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern er statuiert seinerseits Exempel der Menschenrechtsarbeit: Diejenigen zu schützen, die bedroht werden, weil sie sich für Menschenrechte einsetzen.
Auf der internationalen Ebene weisen die führenden Menschenrechtsorganisationen seit langem auf Lücken beim Schutz von MRV hin. Sie fordern den Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie die Afrikanische Kommission für Menschen- und Völkerrechte dazu auf, ebenfalls besondere Anlaufstellen für Betroffene und ihre Unterstützer einzurichten. Wie für alle Sonderberichterstatter im UN-Menschenrechtssystem gilt leider auch für Hina Jilani, dass sie einen Staat lediglich auf Einladung seiner Regierung besuchen darf. Im Jahr 2002 wurden ihre diesbezüglichen Gesuche von 13 Regierungen ablehnend oder gar nicht beantwortet, darunter nicht nur notorische Paria-Staaten, sondern auch relativ honorige wie Ägypten, Indien und Malaysia. Regierungen des Nordens und des Südens sollten vermehrt Druck auf diese Länder ausüben, die Sondergesandte zu empfangen.
Ein großer Erfolg wäre es, wenn die UN-Erklärung für MRV von allen Staaten ratifiziert und in die nationalen Gesetzgebungen eingebaut würde. Hina Jilani fordert alle Regierungen dazu auf, bei Anti-Terror-Maßnahmen die Menschenrechte zu respektieren. Bewaffnete Oppositionsgruppen und privatwirtschaftliche Firmen seien nicht minder für die Wahrung von internationalen Standards verantwortlich. Alles, was den Kontext der Menschenrechte lokal wie global verbessert, das nützt auch ihren Verteidigerinnen und Verteidigern. Die Möglichkeit, für Grundrechte und -freiheiten einzutreten, ist allein schon ein Indikator für Demokratisierung und zugleich ein Motor für die Entwicklung einer Gesellschaft.
Literatur:
Der korrekte und etwas umständliche Name der UN-Erklärung für Menschenrechtsverteidiger ("Declaration on Human Rights Defenders") lautet "Declaration on the Right and Responsibility of Individuals, Groups and Organs of Society to Promote and Protect Universally Recognized Human Rights and Fundamental Freedoms". Sie findet sich als Dokument A/RES/53/144 unter www.unhchr.ch. Die Berichte der UN-Sonderbeauftragten Hina Jilani lassen sich auf der derselben Website nachlesen.
MenschenrechtsorganisationenVerteidiger der VerteidigerSeit der Verabschiedung der UN-Erklärung für Menschenrechtsverteidiger haben verschiedene internationale nichtstaatliche Organisationen Abteilungen eingerichtet, die sich mit dem Schutz dieser unverzichtbaren Träger der Menschenrechtsarbeit befassen. Die Londoner Zentrale von amnesty international (ai) und auch das Bonner ai-Büro unterhalten solche Stellen, die häufig, aber nicht ausschließlich, zugunsten von ai-Mitarbeitern und -Partnern aktiv werden. Viele Urgent Actions (Eilaktionen für politisch Verfolgte) von ai sind Menschenrechtsverteidigern gewidmet (weitere Informationen unter www.amnesty.de). Das Observatorium für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern ist ein gemeinsames Programm der "Internationalen Föderation für Menschenrechte" (fidh) und der "Weltorganisation gegen die Folter" (OMCT), die sich auf ein nahezu globales Netzwerk von assoziierten Organisationen stützen können. Das Observatorium führt in jedem Jahr mehrere hundert Interventionen zu Einzelfällen durch und veröffentlicht ein umfangreiches Jahrbuch über Lage von Menschenrechtsverteidigern in aller Welt (siehe www.omct.org oder www.fidh.org). Auch der in Genf ansässige International Service for Human Rights (www.ishr.ch) betreibt seit dem Jahr 2000 ein Büro für Menschenrechtsverteidiger. Dieses strebt die weltweite Stärkung der Schutzmechanismen an, berät gefährdete Organisationen und führt Analysen zu bestimmten Ländern und Regionen oder Seminare vor Ort durch. Freiwillige der Peace Brigades International (www.peacebrigades.org) geleiten in Kolumbien, Indonesien und anderen kritischen Ländern Menschenrechtsverteidiger auf ihren öffentlichen Wegen. Der Schutzeffekt beruht darauf, dass potenzielle Mörder davor zurückschrecken, die jungen, meist europäischen Begleiter zu Zeugen zu machen oder sie ebenfalls zu töten. Diese Erfahrung lässt sich allerdings nur bedingt auf andere Kontexte übertragen. Der Martin-Ennals-Preis für Menschenrechtsverteidiger - benannt nach dem ersten Generalsekretär von ai - wird seit 1994 jährlich an Menschenrechtsverteidiger vergeben, die akut bedroht sind. Diese höchste Auszeichnung der internationalen Menschenrechtsbewegung hat vor allem eine Schutzfunktion: Indem seine Träger weltweit bekannter gemacht werden, müssen vor allem staatsnahe Täter, die ihnen nach dem Leben trachten, mit erheblichen nachteiligen Folgen rechnen (www.martinennalsaward.org). In Irland hat eine ehemalige leitende Mitarbeiterin von ai die Organisation Front line gegründet, die sich auf die "Verteidigung der Verteidiger" konzentriert. Front line experimentiert mit neuen Ideen (www.frontlinedefenders.org), wie Menschenrechtsverteidiger sich selbst und einander erfolgreich schützen können. Andreas Selmeci |
aus: der überblick 03/2003, Seite 107
AUTOR(EN):
Andreas Selmeci:
Dr. Andreas Selmeci leitet das Referat Menschenrechte im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Auftrag von "Brot für die Welt" engagiert sich das Referat für die Verbesserung des weltweiten Schutzes von Menschenrechtsverteidigern. Unter anderem wirkt es im "Forum Menschenrechte" in der Arbeitsgruppe Menschenrechtsverteidigern sowie in der Jury des Martin Ennals Preises für Menschenrechtsverteidiger mit.