Einer aus der früheren AGKED pflegte zu sagen, "der überblick" sei zu dick. Die Artikel seien zu lang. Das könne man nicht lesen. Als ich ihn einmal auf diese fundamentale Kritik ansprach, stellte sich heraus, dass er eigentlich gerne selbst mehr im "überblick" geschrieben hätte und dass seine Beiträge in anderen Publikationen in der Regel noch länger waren als die in der hauseigenen Zeitschrift.
von Klaus Rieth
Warum ich das anführe? Weil "der überblick" immer versucht hat, eigenständig zu handeln. Weil er nie Sprachrohr von irgendjemand oder irgendetwas sein wollte, sondern originäre und originelle Beiträge veröffentlichte. Und das hat den einen oder anderen, der eher zur Langeweile neigte, vielleicht auch verstört.
Aber ich muss gar nicht auf andere verweisen. Mir selbst ging es ja immer wieder auch so. Warum wurden die Vereinten Nationen (UN), auf die wir Spät-68er an unseren Stammtischen auch gern einprügelten, im "überblick" hoffähig gemacht? Warum traute man ihnen plötzlich etwas zu und warum wurde ihre Arbeit in Hamburg geschätzt? Jetzt staunen wir nur noch ein bisschen peinlich berührt, wenn die Bundeskanzlerin ganz selbstverständlich einen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt.
Oder: Warum fragte "der überblick" plötzlich, ob der venezolanische Präsident Hugo Chávez eigentlich das Richtige tue, wo wir doch alle einhellig der Meinung waren, dass da endlich einer ist, der es den Amerikanern einmal zeigt? Über den wir uns offen oder klammheimlich freuten, wenn er vor der UN-Versammlung vom Geruch des Teufels sprach und damit auf George Bush anspielte. Der die Verhältnisse auf den Kopf stellte und den Armen von London seine Hilfe anbot? Warum nur hat "der überblick" auch bei dieser Projektion nicht mitgespielt und sich dem liebgewordenen edellinken Meinungseinerlei verweigert?
"der überblick" lag in den ganzen Jahren seines Bestehens quer. Das hat ihn so wertvoll gemacht. Denn zu veröffentlichen, was angeboten wird und politisch in den Kram passt, ist nicht schwer. Aber Menschen von einer neuen Ansicht zu überzeugen, ist schon schwieriger.
Um eine erste Antwort auf die Fragestellung zu versuchen, möchte ich behaupten, "der überblick" schärfte den Kirchen und den entwicklungspolitischen Organisationen den Blick fürs Wesentliche. Er korrigierte unsere Trends manchmal gerade noch rechtzeitig, oft zu spät. Er war ein Mahner und er war ein Vordenker. Wohl in kaum einer anderen Branche kirchlicher Arbeit geht es intellektuell so langsam voran wie in der Entwicklungszusammenarbeit. Wir mögen es, überkommenen Ideen nachzuhängen und alte Ideologien zu verteidigen. Wir können kaum lassen von einmal festgestellten Wahrheiten. Kirchliche Meinungsbeiträge zum Geschehen in Wirtschaft und Politik sind von erschreckender Gleichförmigkeit. Stellungnahmen von Kirchen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit ähneln einander wie ein Ei dem andern. Und sie sind immer gleich. Gleich korrekt, gleich vorherbestimmbar. Und deshalb oft auch gleich langweilig.
Vielleicht ist auch das ein Grund, warum sich viele Kirchenleitungen mittlerweile nur noch einen Spezialisten für Entwicklungszusammenarbeit leisten, der in einer Nische sitzt, seine Arbeit tut, aber den Rest seines Kollegiums unbehelligt lässt. Vielleicht müssen deshalb mühsam Synoden besucht, Finanzdezernenten überzeugt und Kirchenleitungen auf Exposure-Reisen geschickt werden. Vielleicht waren wir zu brav, zu angepasst, zu zufrieden mit unseren kleinen Erfolgen. Zu sehr in den Mainstream der Entwicklungspolitik eingetaucht, der auf alles Antworten und jede Menge Forderungen an andere hatte, aber selten Fragen zur eigenen Arbeit stellte. Vielleicht hätten wir mehr auf die Warnungen des "überblick" hören sollen. Darauf etwa, dass Entwicklungszusammenarbeit nie in der Nische geschehen kann, sondern nur im Zusammenwirken mit Universitäten, mit Gemeinden, mit Politkern und mit den Medien. Vielleicht hätten wir auch nicht der Zentralisierung das Wort reden und die ganzen Reorganisationen mitmachen sollen, nur weil das gerade "in" war. Und vielleicht hätten wir einfach auch individueller sein und nicht jede Mode für einen Fortschritt halten sollen. In der Entwicklungszusammenarbeit herrscht ein unheimlicher Gruppenzwang. Eine ungeheure Abhängigkeit und ein fast unwirklicher Hang zum Netzwerken. Warum wird nicht mehr ausprobiert? Warum sind wir nicht mutiger? Warum setzen wir nicht fröhlicher andere Schwerpunkte?
Zum Beispiel bei der "Werbung". Warum macht jeder Großplakate, warum kauft jeder Adressen, warum schreibt jeder Bettelbriefe, warum will jeder eine Fernsehsendung? Warum druckt jeder T-Shirts, warum wird seit Jahren Spenderinnen und Spendern eine heile Projektwelt vorgegaukelt, obwohl die Förderung mittlerweile schon lange auf einer Zwischen-Ebene angelangt ist, wo Lobby- und Advocacy-Aktivitäten finanziert werden, aber nicht mehr der Teller Reis für das hungrige Kind?
Wenn man auf den "überblick" gehört hätte, dann wäre man schon viel früher umgekehrt. Wenn man die Beiträge der Universitätsprofessoren aus Südafrika genauer angeschaut hätte, dann wäre die Stimme des Südens direkt in unsere Büros gekommen und hätte nicht mühsam eingeflogen werden müssen.
Wofür "der überblick" aber sicher auch den Blick geschärft hat, das war die Verbindung von Theologie und Entwicklungszusammenarbeit. Die Meditationen in jedem Heft waren immer eine Anregung, um den eigen Glauben und die eigene Theologie zu überdenken oder auf den Prüfstand zu stellen. Manchmal waren sie auch eine Zumutung im besten Sinne des Wortes.
"der überblick" hat viele Moden nicht mitgemacht. Das wurde ihm am Ende wohl zum Verhängnis, aber das war auch sein von vielen geschätztes Profil. Nur wer höher steigt als die anderen hat den Überblick. Manchmal war dieser Blick von oben in die Niederungen auch verdächtig und ärgerlich. Nur – er war notwendig.
"der überblick" hat vorausgedacht. Er hat Abhängigkeiten benannt. Er hat darauf hingewiesen, dass Kirchen in der Dritten Welt immer die Hauptrolle spielen bei der Entwicklungszusammenarbeit, weil sie wie sonst keine Organisation die Menschen, gerade die Armen, repräsentieren und vereinen. Er hat aber auch darauf hingewiesen, dass man ab und an auch ohne Kirchenleitungen sinnvolle Hilfe leisten kann, etwa mit Basisgruppen, und dass man manchmal selbst gegen Kirchenleitungen agieren muss, etwa in der Frage von HIV/Aids.
Eberhard le Coutre hat in einer Meditation 1993 im "überblick" gegen "Anpassung" angeschrieben und sich für "Substanzsicherung" ausgesprochen. Diese Substanzsicherung hat "der überblick" über all die Jahre versucht. Das kam den Kirchen zugute. Denn einfache und leichte Lösungen suchte man in den Heften vergeblich. Und oft war "der überblick" seiner Zeit weiter voraus als andere. Ende 1996, also vor mehr als zehn Jahren im Schwerpunktheft "islamischer Fundamentalismus" steht eigentlich alles, was man heute immer noch diskutiert. Von den "unheiligen Allianzen der CIA mit heiligen Kriegern" bis hin zu "Wieviel Islam vertragen wir Deutschen?" Oder – leider wieder besonders aktuell wegen der Flüchtlingsströme – "Europas Mittelmeerpolitik: Die Armut soll zu Hause bleiben". Dass als nächstes ein Heft folgte, in dem auch der christliche Fundamentalismus intelligent diskutiert wurde, diese selbstkritische Loyalität der eigenen Religion gegenüber, zeichnete die Redaktion immer wieder aus.
Was Warner Conring bereits 1996 fragte: "Geht dem Ökumenischen Rat der Kirchen das Geld aus?" hat sich traurigerweise ebenfalls bewahrheitet.
"der überblick" hat also hingewiesen, gewarnt, vorsichtig angedeutet. Alles auf eine lesbare Art, auf eine akzeptable Weise. Er hat versucht, die Macht des Arguments in den Vordergrund zu stellen. Unaufgeregt aber konsequent.
Highlights des "überblick" waren aber immer auch die Kommentare der Chefredakteurin. "Männer mit Vergangenheit" etwa 2001, wo Renate Wilke-Launer die Gewalttätigkeit der südafrikanischen Gesellschaft mit den Männerrollen vor und nach der Apartheid erklärte. Oder 2003, als die doppelte Moral der Afrikaner bei den Menschenrechten geißelte: "Manche Diktatoren spielen ,Sicherheit‘ und ,Stabilität‘ offen gegen die elementaren Menschenrechte aus". Nicht nur manche Diktatoren, möchte man da heute, vier Jahre später, hinzufügen. Robert Mugabe hatte sie schon viele Jahre zuvor scharf kritisiert, als der wegen seiner "Landreform" in anderen entwicklungspolitischen Zeitschriften noch gefeiert wurde.
Man hat also lernen können als Kirche und als entwicklungspolitische Organisation vom "überblick". Noch auf andere Weise. So ist etwa das "Forum im überblick" immer der Versuch gewesen, diejenigen zusammenzubringen und zusammenzudenken, die sich nicht immer leicht taten, zusammenzukommen. Im "Forum" hatte man, wenigstens zeitweise, den Eindruck, dass es noch eine gemeinsame kirchliche Entwicklungszusammenarbeit gibt. Dass Werke und Einrichtungen, Kirchen und Missionen an einem Strang ziehen. Aber vielleicht täuscht der Eindruck auch und die verschiedenen Akteure der Entwicklungszusammenarbeit und der ökumenischen Begegnung haben sich schon viel länger voneinander gelöst. Aus inhaltlichen, aus persönlichen oder einfach aus Überlebensgründen. "Wer nicht wirbt, stirbt", diesen Leitspruch haben sich viele zu eigen gemacht. Auf der Strecke blieben dabei die Kleinen, Stillen. Denen bot immerhin wenigstens "der überblick" ab und an ein Forum im "Forum".
Eine der segensreichsten Einrichtungen des "überblick" war die Ausbildung von jungen Journalistinnen und Journalisten. Wenn heute an wichtigen Stellen in den säkularen Entwicklungsorganisationen und Medien Fachleute sitzen, die gut Bescheid wissen im Bereich kirchliche Entwicklungszusammenarbeit und Ökumene, dann ist das maßgeblich dem "überblick" zu verdanken. Da hat sich der Mut der Redaktion ausgezahlt, immer wieder jungen, engagierten Menschen, die Chance zu geben, das journalistische Handwerkszeug zu erlernen. Dass sie dabei nebenher die Begeisterung für diesen Zweig kirchlicher Arbeit mitbekommen haben, dass sie eine Redaktion erlebt haben, die sie ernst genommen hat, die sie in ihrer persönlichen Entwicklung begleitet hat, hat ihnen gut getan. Man hat sich in Hamburg in der Esplanade 14 und zuletzt in der Dammtorstrasse 21a große Mühe gegeben und viel Geduld gehabt. Dies ist für diese Kirche ein enormer Reichtum und wird noch viele Jahre weiterwirken. Eindrücklich war es auch, dass diese Hospitantinnen immer als gleichwertige Mitglieder der Redaktion angesehen und behandelt wurden. Sie waren keine Zuträger zweiter Klasse. Bei jedem Redaktionsbesuch waren sie mit von der Partie und diskutierten mit. Oft auch mit abenteuerlichen Ansichten zum Weltgeschehen. Das offene Gesprächsklima beim "überblick" hat ihnen und den Gästen jeweils außerordentlich gut getan.
Zurück zur Ausgangsfrage: Wofür schärfte "der überblick" den Kirchen den Blick? Vielleicht lässt sich die Frage am einfachsten mit dem Satz beantworten: Fürs genauere Hinsehen. "der überblick" wollte lesbar sein, aber er hat den Leserinnen und Lesern auch etwas abverlangt. Nicht wie der "Focus" alles Wesentliche auf eine Seite gepackt. Nicht wie der Spiegel mit reißerischen Enthüllungsstories. Sondern bodenständig und solide. Fast könnte man sagen: Schwäbisch. Und liegt damit ja auch nicht so ganz daneben, wenn man bedenkt, dass die Wurzeln des "überblick" in und um Stuttgart lagen.
Die Kirchen konnten vom "überblick" lernen, dass sie sich eine solche unabhängige unaufgeregte Zeitschrift leisten mussten. Notwendig zum Diskurs mit akademischen Kreisen, mit der Politik und für den innerkirchlichen Diskussionsprozess. Er hat, das haben auch die Mitarbeiter anderer Organisationen immer gewürdigt und "der Kirche" hoch angerechnet, zur Qualifizierung der gesamten entwicklungspolitischen Diskussion beigetragen, vorausgedacht und oft im richtigen Moment den nötigen Schub gegeben. Wenn es um Sicherheit ging, um die Rolle der Religionen oder um Südafrika.
Wie geht es weiter? Vom "überblick wäre zu lernen: Konzentration auf weniger, Unaufgeregtheit, Qualität in den Meinungsäußerungen und nicht jedem Zeitgeist hinterherrennen. Das würde den Partnern in Übersee aber auch den Kirchen selbst gut tun. Aus dieser Ruhe und Konzentration könnte Neues entstehen. Könnte Konkurrenzdenken abgebaut werden. Aus dem Querdenken mag neue Phantasie sprießen, die dem grauen Einerlei kirchlicher Verwaltungen neue Impulse einhauchen könnte. So könnte neues Selbstbewusstsein entstehen, und auch eine Rückbesinnung auf die eigene Geschichte. Dass der kirchliche Weg in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht der schlechteste war. Dass das konsequente Hören auf die Partner sich ausgezahlt hat, dass die Ablehnung jeder Machtpolitik und jeder Kungelei mit den Mächtigen in Politik und Wirtschaft unbedingte Voraussetzung erfolgreicher Projektarbeit ist. All das unterscheidet kirchliche Entwicklungszusammenarbeit von anderen Anbietern. Auch deshalb hat man immer wieder neidvoll auf diese Arbeit geschaut. Gerade in Zeiten in denen alle anderen das Motto ausgaben, lieber für das eigene Fortbestehen zu sorgen als sich um den fernen Nächsten zu kümmern. Dass die Kirche auch in schlechten Zeiten, als die Kirchensteuereinnahmen zurückgingen, an ihrem Engagement für die Menschen des Südens festhielt, hat ihnen hohen Respekt eingebracht. Mit diesem Pfund gilt es weiterhin zu wuchern.
Die Projektarbeit sollte weiter begleitet werden durch sensible, glaubwürdige und unabhängige Medien. Dies hat "der überblick" in den letzten Jahren verkörpert. Die Länder und Menschen im Süden verändern sich zum Teil rasend schnell. Das zu verstehen und darauf reagieren zu können, – dazu hat "der überblick" in den vergangenen Jahren beigetragen. Und deshalb konnte er eigentlich nie dick genug sein. Ich werde ihn vermissen. Auf den langen Bahnfahrten, im Urlaub, wenn man ganze Tage mit dem Durchlesen zubrachte und sich als Konsequenz für die Zeit nach dem Urlaub viel vornahm. Ich werde aber auch vermissen, wie ich ihn aus der Post fischte, kurz querlas und jedesmal erstaunt war, wie breit und differenziert man ein Thema doch angehen kann. Mir wird etwas fehlen.
aus: der überblick 04/2007, Seite 90
AUTOR(EN):
Klaus Rieth
Klaus Rieth ist Journalist und Referent für Ökumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit der Württembergischen Evangelischen Landeskirche.