Mehr Markt für Migranten statt wirkungslose Abschottung gegen Einwanderer
Wo es Gefälle zwischen Reich und Arm gibt, ist Migration die natürliche Folge. Das war immer so und wird immer so sein. Anstatt zu versuchen, Einwanderer fern zu halten und sie dann doch im Sozialsystem aufzufangen, sollte Europa die Regelung der Einwanderung mehr dem Markt überlassen. Dann hätten die Alteingesessenen statt Kosten Nutzen von den Neuankömmlingen und die Einwanderer eine legale Chance, ihr Glück zu versuchen.
von Pieter C. Emmer
Stammtischparolen: "Europa ist voll." "Deutschland ist kein Einwanderungsland." "Alle Gastarbeiter raus!" "Ein Großteil der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien hat eine kriminelle Vergangenheit." "Nahezu alle jungen Antillianer in den Niederlanden sind schon mal mit der Polizei in Konflikt gekommen." "Die Mehrheit der alten Nordafrikaner in Frankreich haben die Autorität gegenüber ihren Kindern verloren." Warum hört man beinahe täglich so viel Schlechtes über Migranten und Asylsuchende, liest es auch in der Zeitung? Kann der Strom der Einwanderer, mit dem West-Europa konfrontiert ist, als "neue Plage" beschrieben werden, so wie Drogen, Aids, Gewalt auf den Straßen, diese verrückte Rinderseuche und die steigende Zahl von Ehescheidungen?
Was ist so neu, so furchterregend an der Migration? Nichts. Migration ist keine junge Erscheinung, sie hat zu allen Zeiten und an allen Orten stattgefunden. Erst lernten die Menschen Atem holen und dann Wandern. Denn Jäger und Sammler mussten von einem Ort zum anderen ziehen, um überleben zu können. Nach der Erfindung des Ackerbaus konnten sich zwar mehr Menschen einen festen Wohnsitz erlauben; doch auch mit Hilfe dieser festen Höfe waren die meisten nicht in der Lage, ihre gesamte Familie zu ernähren. Die Abwanderung von Familienmitgliedern blieb eine Notwendigkeit. Selbst Könige und Kaiser begaben sich auf Wanderschaft. Karl der Große beispielsweise zog samt Gefolge von Pfalz zu Pfalz. Die Migration erreichte ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert, als - neben einer umfangreichen Binnenwanderung - 60 Millionen Europäer ihren Kontinent verließen. Die Massenauswanderung dauerte bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges, als die Einkommen in Europa und der Neuen Welt sich angenähert hatten und keinen Anreiz mehr boten, die Heimat zu verlassen. Europa wurde immobil.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam Migration in Europa selbst in Verruf. Sie galt nicht mehr als Mittel des Fortkommens, Migration wurde vielmehr mit Flucht und Vertreibung in Zusammenhang gebracht. Kommunismus, Faschismus, ethnische Säuberungen während des Zweiten Weltkriegs und danach sowie im Verlauf der Entkolonialisierung zwangen Millionen Menschen gegen ihren Willen zur Flucht und Umsiedlung. Auswanderungen von Europäern nach Nordamerika, Australien und Neuseeland waren dabei viel geringer, und eine befristete Migration von südeuropäischen Gastarbeitern nach Westeuropa gab es noch nicht. Migration wurde zunehmend als etwas Fremdes gesehen. Allenfalls etwas für die armen Menschen der Dritten Welt oder für Asylsuchende. Migration schien ein Weg für Versager zu sein, für losers, die für warme Mahlzeiten und eine Sozialwohnung zu einem befristeten Aufenthalt nach Europa kommen. Selbst der Begriff Migration wird jetzt abwertend benutzt. Jedes Jahr scheinen mehr Asylsuchende zu kommen. "Stimmen überhaupt all die Geschichten von Verfolgung und Folter?", fragen sich die Leute.
Es wäre in der Tat besser, wir würden die Augen vor der Wirklichkeit öffnen, in der die meisten Migranten nicht Asylsuchende sind, sondern Wirtschaftsflüchtlinge, die in der übergroßen Mehrheit saftige Geldsummen bezahlt haben, um sich nach Westeuropa oder Nordamerika schleusen zu lassen. Und ist es nicht an der Zeit, die Rolle der abgewiesenen, aber bleibenden Asylsuchenden und der illegal Eingewanderten in der westeuropäischen Wirtschaft nach ihrem Wert für Wirtschaft und Gesellschaft einzuschätzen? In Wahrheit sind sie doch der Schmierstoff des Arbeitsmarktes, und ohne sie sähe es im Baugewerbe, im Straßenbau, in Landwirtschaft und Gartenbau und in der Gastronomie düster aus.
Eine realistischere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Migration wird durch einen andauernden Kampf dreier Fraktionen erheblich behindert. Da sind zunächst die eher naiven "Gutmenschen", die in allen Migranten arme Asylsuchende sehen, die sie am liebsten an ihr Herz drücken möchten. Dann gibt es die Gegner der Migration, die Angst haben vor einer Aushöhlung des sozialen Systems, vor Konkurrenz, die die Löhne drückt, vor einem Ansteigen der Kriminalität und vor einem möglichen Verlust der westlichen Kultur. Diese Gruppe möchte die Gewährung von Asyl auf das äußerste Minimum beschränken und die Zulassung von Wirtschaftsflüchtlingen gänzlich verbieten. Die dritte Gruppe befürwortet, dass neben Asylsuchenden auch Einwanderer zugelassen werden, soweit sie einen wertschöpfenden Beitrag zur Wirtschaft des Westens leisten können.
Die Migrationsdebatte wird nicht nur durch kompromisslose Positionen dieser drei Gruppen, sondern auch durch hartnäckige Missverständnisse belastet. Eine Auswahl: Asylsuchende und Wirtschaftsflüchtlinge müssen streng auseinander gehalten werden. Unsinn! Politische und religiöse Verfolgungen finden heute stets in Ländern statt, in denen das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung weit unter dem im Westen liegt. So beispielsweise in Sri Lanka, wo über mehr als 20 Jahre ein blutiger Krieg zwischen Tamilen und Singhalesen tobte. Der ethnische Konflikt hatte auch früher schon Fluchtwellen ausgelöst. Doch die von der Insel flüchtenden Tamilen hatten sich aufs Festland in Südindien begeben, wo ebenfalls Tamilen leben. Wenn sie das in jüngerer Zeit taten, konnten sie zwar ihr Leben retten, doch ihr Einkommen sank drastisch, weil die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, im dicht besiedelten Südindien begrenzter sind als auf Sri Lanka.
Was geschah folglich? Durch den preisgünstigeren internationalen Luftverkehr konnte eine Anzahl von Flüchtlingen Tickets nach Westeuropa erwerben und dort um Asyl bitten. Das stimulierte auch Tamilen in Sri Lanka, die Insel zu verlassen, die sonst nicht weggegangen wären. So entstand ein interkontinentaler Migrantenstrom aus teilweise politischen und teilweise wirtschaftlichen Motiven. Zudem nahm Migration oder Flucht aus Sri Lanka schlagartig zu, als Interflug, die Luftfahrtgesellschaft der damaligen DDR, Einwegtickets von Colombo nach Berlin-Schönefeld verkaufte, ohne ein Einreisevisum zu verlangen. Nach ihrer Ankunft in Ost-Berlin wurden die Sri-Lanker mit dem Bus direkt nach West-Berlin gebracht. Kontrollen gab es keine, da die bundesdeutsche Regierung am Ideal der ungeteilten Stadt festhielt. Auf diese Weise haben der ethnische Konflikt, die internationale Luftfahrt, das Asylrecht, der Kalte Krieg und die wirtschaftlichen Möglichkeiten in Westeuropa einen Typ von Migranten geschaffen, der in keiner der beiden traditionellen Kategorien (Asylsuchender oder Wirtschaftsflüchtling) unterzubringen ist.
Ist Europa voll? Unsinn! Von den etwa 385 Millionen Europäern kommen nicht einmal 20 Millionen von außerhalb. Europa ist erst voll, wenn es den Europäern zu voll wird, wenn mehr Menschen aus Europa auswandern als einwandern. Voll scheint Europa jedoch von Immigranten, die - weil sie nicht arbeiten dürfen - mehr von sozialer Vorsorge profitieren als zu ihr beizutragen. Wenn jedoch morgen einige Dutzend Multimillionäre an die Tür klopfen, wird kein Land in Europa ihnen die Tür verschlossen halten, weil es drinnen zu voll sei.
Werden die Herkunftsländer benachteiligt, weil die dynamischsten und best ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger abwandern? Unsinn! Europa hatte im vergangenen Jahrhundert die größte Auswanderung aller Zeiten erlebt, und darunter waren viele fähige und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Trotzdem haben Wirtschaft und Wissenschaft ungeahnte Fortschritte gemacht. Kleine, dünn bevölkerte Länder bilden die Ausnahme dieser Regel. Dort kann der brain drain zu Problemen führen, weil nicht genügend gut ausgebildete Arbeitskräfte dableiben. Normalerweise jedoch eröffnet die Auswanderung den Verbliebenen mehr Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten so nutzvoll einzusetzen, wie sie es zu Hause nicht können. Die Kosten für die Ausbildung der Emigranten sind für das Entsendeland zwar verloren, werden aber aufgewogen durch ihre Rücküberweisungen in die Heimat.
Kann Europa durch Zusammenarbeit und strenges Vorgehen die Einwanderung aus anderen Kontinenten abwehren? Unsinn! Migranten, die aus dem Fernen Osten oder aus dem Herzen Afrikas nach Westeuropa gekommen sind, lassen sich nicht durch Stacheldraht, Schlagbaum, strenge Beamte oder ein paar Abweisungen entmutigen. Sicher haben die europäischen Einwanderungsgesetze eine gewisse Wirkung; oft bewirken sie aber das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. So können Einwanderer in vielen Staaten Europas erst dann einen legalen Status erhalten, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Jahren ununterbrochen in ihrem neuen Vaterland verbracht haben. Das hat dazu geführt, dass viele Zuwanderer sich dazu entscheiden, in Europa zu bleiben, obwohl sie lieber nur vorübergehend hier Geld verdienen und dann in ihr Herkunftsland zurückkehren würden. Ähnliches gilt, wenn die Familienzusammenführung eingeschränkt werden soll und ältere Kinder nicht mehr nachgeholt werden dürfen. Denn werden viele Familienangehörige zur Sicherheit sofort nach Europa nachgeholt, nur um zu vermeiden, dass das später unmöglich wird.
Sind die neuen Kulturen, die die Zuwanderer mitbringen, eine Gefahr für unsere eigene Kultur? Unsinn! Die Erfahrung lehrt, dass die weitaus meisten Immigranten sich sehr rasch anpassen und ihre Kultur so leben, dass sie eher ein Gewinn für die neue Umgebung ist. Zudem haben nicht nur Immigranten bestimmte abweichende Werte und Normen; es gibt auch eingeborene Europäer, die sehr eigentümlich sind. Viele Europäer zweifeln, ob namentlich der Islam in unser säkulares Zusammenleben passt. Kann ein Islamist wirklich an der Frauenemanzipation mitarbeiten, an der Gleichberechtigung für Homosexuelle, an der Trennung von Kirche und Staat? Auf Dauer müssten solche Fragen mit einem zweifelsfreien "Ja" beantwortet werden, wenn erst einmal der Spott über den Islam als "hinterwäldlerische Religion" aus der Welt ist. Und das wird schon deshalb so sein, weil der übergroße Teil der Errungenschaften westlicher Kultur durch die Zuwanderer nicht infrage gestellt wird. Diese Migranten sind nämlich auch deshalb in den Westen gekommen, weil sie die Gesetze und die Qualität der Besteuerung hier für besser halten als die daheim, ebenso wie das Eigentumsrecht, das Erbrecht, das Unternehmensrecht, die Handhabung von Sicherheit und Ordnung, die Bekämpfung und Bestrafung von Korruption, die Gesundheitsversorgung, das Steuersystem und - nicht zuletzt - die Politik und die Demokratie. Ebenso wie die orthodox-katholischen und jüdischen Auswanderer aus Sizilien oder Osteuropa im 19. Jahrhundert die Kultur der Vereinigten Staaten umarmt haben, die ihnen bessere Perspektiven bot, dürften mit der Zeit auch die Migranten des 21. Jahrhunderts die moderne Kultur des Westens umarmen und liebgewinnen.
Damit kommen wir schlussendlich zur zentralen Frage: Wenn Europa und die Europäer in der Geschichte so von der Migration profitiert haben, warum werden die Einwanderer nach Europa so wenig geschätzt? Warum finden wir es verkehrt, wenn jemand aus der Dritten Welt sich woanders hinbegibt, um seine Wohn-, Arbeits-und Lebensumstände zu verbessern, während das früher, als es um Europäer ging, viel mehr gewürdigt wurde. Warum blicken wir mit so gemischten Gefühlen auf die Zahlen, die in den meisten Jahren einen (relativ bescheidenen) Migrantenüberschuss aufweisen, während solche Zahlen früher Anlass waren für einen angemessenen Trotz? Selbst Südeuropa scheint die Erinnerung an seine eigene jüngste Migrantengeschichte verdrängt zu haben.
Die Antwort lautet: Europa ist die Zuwanderung aus der Dritten Welt verkehrt angegangen, indem es den Ankömmlingen den Zugang zur sozialen Versorgung sofort geöffnet und ihnen gleichzeitig verwehrt hat, durch Arbeit zu dieser beizutragen. Dadurch wurde auch der Unterschied zwischen talentierten und nicht-talentierten Einwanderern verwischt. Ein solches Talent lässt sich gut vergleichen mit dem Unternehmer-Talent, das dafür sorgt, dass Investition und Arbeit in ständig neuer Kombination stets mehr Bedürfnisse wecken. In der Geschichte haben Migranten unverhältnismäßig hohe Beiträge an neuen Kombinationen geliefert, und dieses Migrantentalent sorgte dafür, dass nur die Einwanderer mit den passenden Fertigkeiten sich dauerhaft in ihrem Gastland eine feste Existenz aufbauen konnten. Solch talentierte Migranten werden ihre Nische in der Wirtschaft des Gastlandes suchen und finden, wo sie die Heimischen durch bessere oder neue Dienstleistungen, niedrigere Lohnansprüche, durch längere Öffnungszeiten des Ladens oder Gastbetriebes oder durch Arbeiten, die Westeuropäer nicht annehmen, verdrängen können.
Europa hat dagegen in den vergangenen 50 Jahren vor allem Bekanntschaft gemacht mit Zuwanderern, die ihr Migrationstalent nie unter Beweis stellen konnten und mussten, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Das mussten weder die Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Gebieten in Osteuropa noch die Rückkehrer aus den ehemaligen Kolonien noch die Asylsuchenden. Das galt auch für die Gastarbeiter, die meistenteils umsorgt wurden und ohne Wartezeit in den Genuss subventionierter Unterkünfte und sozialer Vergünstigungen gekommen sind.
Die Tatsache, dass manche Einwanderer mehr kosten als sie einbringen, erklärt, warum Europa Angst bekommen hat vor Zuwanderung. Legal eingereiste Migranten, die scheitern und nach Hause zurückkehren, gibt es kaum noch, seit hohe Vergünstigungen bei Arbeitslosigkeit oder Krankheit und Zuschüsse für Miete und medizinische Versorgung selbst den am geringsten talentierten Migranten erlauben, aus seinem Verbleib einen finanziellen Erfolg zu erzielen. Aufgrund all dieser Sozialleistungen schlug auch die Familienzusammenführung so gut wie nie fehl. Niemand kommt an den Bettelstab, weil er oder sie sich nicht anpassen oder keine bezahlte Arbeit finden konnte.
Für diese Art von Leistungsberechtigten war das soziale Sicherheitssystem in Westeuropa nicht ausgelegt. Dieses System wurde in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelt für eine bodenständige Bevölkerung mit vierköpfigen Familien, eine durch ihre Kinderzahl wachsende Arbeitsbevölkerung mit geringer Arbeitslosigkeit. Gewiss wird dieses System durch wirtschaftliche und soziale Veränderungen innerhalb der eingesessenen Bevölkerung mehr unterminiert als durch die Zuwanderer, aber letztere werden nun mal durch die Lupe wahrgenommen.
Der Wohlfahrtsstaat hat die Migranten in Verruf gebracht. Unter einem breiten sozialen Schirm kann man gut Unterschlupf finden. So erwerben auch Migranten mit wenig Eigeninitiative und Talent leicht ein viel höheres Einkommen als daheim. Die Beihilfen und Vergünstigungen erklären auch, warum Westeuropa in den letzten Jahren ziemlich uneins war in Migrationsfragen: Hohe Arbeitslosigkeit unter den Migranten und dennoch weiterer Zuzug. Das bedeutet, dass die Bevölkerung des Gastlandes finanzielle Belastungen auf sich nehmen muss, um Zuwanderer zu ernähren und unterzubringen, und viele der Einwanderer nicht in der Lage zu sein scheinen, ohne finanzielle Hilfe des Gastlandes den Kopf über Wasser zu halten. Die moderne Einwanderung ist damit eher zu einem ungeplanten Teil der Entwicklungshilfe als Teil der Marktwirtschaft geworden.
Auf den ersten Blick erscheint Letzteres nicht als Katastrophe. Es gibt große Einkommensunterschiede in der Welt. Warum sollten arme Einwanderer nicht vom Reichtum des Westens profitieren? Leider stellt aber unsere Gesellschaft nur einen begrenzten Betrag für die Dritte Welt zur Verfügung. Das bedeutet, dass die Allerärmsten Vorrang haben müssen. Wenn aber mehr Migranten kommen, und hier in Europa ihre Beihilfen in Empfang nehmen, dann geht das auf Kosten der Gelder für die wirkliche Armutsbekämpfung in der Dritten Welt selbst. Die meisten interkontinentalen Migranten zählen nämlich nicht zu den Ärmsten. Um in den Westen geschmuggelt zu werden, müssen sie ansehnliche Beträge zahlen, durchschnittlich zwischen 8.000 und 10.000 Euro, soviel wie die meisten ihrer Landsleute ihr Leben lang nicht zusammensparen können. Dann aber bekommt der durchschnittliche nicht-westliche Zuwanderer erhebliche Beträge an Beihilfen und Vergünstigungen während des Aufenthalts in Westeuropa.
H. J. M. ter Rele und H. J. Roodenburg haben errechnet, dass jemand, der aus einem Entwicklungsland im Alter von 25 Jahren in die Niederlande einwandert, im Laufe seines dortigen Lebens seitens der Öffentlichen Hand einen Gegenwert von 50.000 Euro in Form von Subventionen, Zuwendungen und Infrastrukturleistungen wie Nahverkehr, Bildungseinrichtungen oder Gesundheitswesen erhält. Bei einer vierköpfigen Familie sind es 250.000 Euro. Das kann sich trotzdem für Holland lohnen, weil viele Migranten über die Jahre mehr als diese Summe an Wertschöpfung erarbeiten sowie an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bezahlen. Aber auch jemand, der einen Asylantrag stellt und nicht arbeiten darf, hat eine gute Chance, weit mehr an Unterstützungsleistungen zu beziehen als die vielleicht 10.000 Euro, die er für einen Schleuser investieren muss. Das ist eine Folge der Ausschaltung des Marktes, wodurch das "Migrantensieb" nicht mehr funktioniert und das Talent eines Migranten keine Rolle mehr spielt.
Wie soll es also weiter gehen mit der Zuwanderung? Da Migration zu allen Zeiten und an allen Orten stattgefunden hat, wird es wohl nicht gelingen, sie künftig zu stoppen. Wirtschaftliche, politische, ethnische und religiöse Gegensätze und Unterschiede gab es zu allen Zeiten und wird es weiterhin geben. Migration ist nicht nur ein Weg, um den gewalttätigen Folgen solcher Gegensätze zu entkommen, sondern auch, um die Unterschiede abzumildern. Vor dem Hintergrund dieser historischen Konstanten befremdet es, wenn Länder der Europäischen Union und auch die Kommission in Brüssel meinen, das Migrationsproblem durch eine "Festung Europa" lösen zu können, uneinnehmbar für Migranten. Eine solche Politik ist zur Erfolglosigkeit verdammt.
Es wäre besser, wenn Europa endlich akzeptierte, dass bei Beibehaltung des gegenwärtigen Unterstützungssystems trotz aller Abschottung noch viele Millionen Zuwanderer aus anderen Kontinenten in die Union kommen werden, von denen ein Großteil schlecht ausgebildet ist und deshalb ohne Hilfe wenig Chancen hätte, in Europa eine Existenz aufzubauen. Nur der Markt könnte letztere überzeugen, dass es keinen Sinn macht, in Europa zu bleiben, dass sie zu Hause mehr Chancen haben.
Es gibt jedoch die humanitäre Pflicht, eine Ausnahme zu machen: Verfolgten muss man Asyl gewähren. Diese Verpflichtung könnte jedoch besser eingelöst werden, wenn mehr Asylsuchende bereits in der Herkunftsregion aufgefangen würden. Das ist kostengünstiger; denn außerhalb des Hochkostengebiets EU ist der Asyl-Euro bedeutend mehr wert. Eine Aufnahme in der Herkunftsregion hat im Übrigen eine lange historische Tradition, die Aufnahme fern der Region war früher eher die Ausnahme denn die Regel. Die 300.000 sephardischen Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts von den katholischen Königen in Spanien und Portugal vertrieben wurden, kamen anfänglich nahezu vollständig in den Nachbarländern unter. Ähnliches gilt für die 200.000 Hugenotten, die Ende des 17. Jahrhunderts Frankreich verlassen mussten, für die Millionen Belgier, die im Ersten Weltkrieg in den Niederlanden Zuflucht suchten und für die Afghanen, die vor den Taliban ins Nachbarland Pakistan auswichen.
Trotz besserer Verkehrsverbindungen kommen auch heute die meisten Flüchtlinge in der Nachbarschaft ihrer früheren Heimat unter. Europa könnte die vorübergehende Ansiedlung in der Region verbessern, wenn es die eigenen Auffanglager in die Nachbarschaft der Brandherde der Welt verlegen würde. Dort könnte den Flüchtlingen ebenso gut Sicherheit, Unterkunft und Nahrung geboten werden wie im Westen. Flüchtlinge, die trotzdem in Westeuropa Asyl beantragen, könnten in solche Lager verbracht werden. Eine solche Regelung dürfte die Zahl der Menschenschmuggler und die der Wirtschaftsflüchtlinge, die unter der Maske von Asylsuchenden kommen, stark verringern.
Für die Flüchtlinge, die ein wirtschaftlich besseres Leben suchen, ist in Europa ebenfalls eine neue Politik notwendig. Zunächst müssen wir uns eindeutig darüber klar werden, dass es Wirtschaftsflüchtlinge stets gegeben hat und geben wird, solange Reichtum und Sicherheit in dem einen und bitterste Armut und Unsicherheit in einem anderen Teil der Welt bestehen. Solche Kluften wird auch das Plädoyer des niederländischen Nobelpreisträgers Tinbergen nicht aufheben können, der fordert, die Wirtschaftsentwicklung in den heutigen Emigrationsgebieten tatkräftig voranzutreiben, damit es keine wirtschaftlichen Anreize für Migration gibt. Erinnern wir uns: Im 19. Jahrhundert wurde die massenhafte Auswanderung aus Großbritannien in die USA und nach Kanada zu einem großem Teil davon beeinflusst, dass in Nordamerika die Löhne um das Anderthalb-bis Zweifache höher lagen. Derzeit sind die Löhne in Westeuropa zwanzigmal höher als in Dritte-Welt-Ländern! Angesichts dessen ist es eigentlich verblüffend, dass heutzutage so wenig Menschen hier einwandern.
Europa wird auch in Zukunft mit Wirtschaftsflüchtlingen konfrontiert sein. Folglich muss man darauf hin arbeiten, dass die Vorteile der Migration die Nachteile überwiegen. Europa muss dem oben erwähnten "Migrationstalent" eine Chance geben, sich nützlich zu machen. Dafür müsste der wohlmeinende, aber schädliche Zugang zum Sozialsystem für Immigranten für eine bestimmte Anzahl von Jahren nach ihrer Ankunft blockiert werden. Das klingt hart, aber man wird in der Praxis nicht darum herum kommen. Untersuchungen unter illegalen Einwanderern in den Niederlanden deuten darauf hin, dass diese Gruppe durchaus in der Lage ist, außerhalb der Sozialsysteme ihren Bedarf an Unterkunft und medizinischer Versorgung zu decken.
Ein neues europäisches Einwanderungsrecht sollte den "Markt für Migranten" zum Zuge kommen lassen, anstelle zu versuchen diese abzuwehren und sie dann doch in der sozialen Sicherung aufzunehmen. Würde die Migration dereguliert, dann würden die zuweilen rührenden, zuweilen boshaften Versuche der europäischen Obrigkeit, die Migration auf die eine oder andere Weise in den Griff zu bekommen, überflüssig. Ein Grund, die Migranten in "legale" und "illegale" zu unterscheiden entfiele. Alle Migranten könnten dann offiziell im Lande leben und ihre Menschenrechte gegebenenfalls auch vor Gericht einklagen. Lassen wir den Markt entscheiden, wer nach einer bestimmten Zahl von Jahren ein dauerhaftes Bleiberecht und eventuell einen europäischen Pass erhält, wer seine Familie nachkommen lassen will und wer mit oder ohne Sparkonto zurückkehren muss. Im vorigen Jahrhundert hat der Markt das meistenteils in gute Bahnen gelenkt, besser jedenfalls als die hilflose Bürokratie im Westeuropa von heute.
Natürlich hat alles seinen Preis. Ein solcher Markt bringt auch Nachteile für Neu-Zuzügler. Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige der sich selbst überlassenen Migranten eine Zeit lang eine neue, isolierte Gruppe von Armen bilden. Das werden Menschen sein, die sich in Unterkunft, Gesundheitsversorgung und Ausbildung mitten in Europa mit dem Standard der Dritten Welt begnügen müssen, bis sie sich vielleicht zur Rückkehr entschließen, weil sie zu Hause nicht schlechter leben und der Familienverband ihnen dort mehr Sicherheit bietet. Zum Glück kann uns da die Geschichte beruhigen. Im vorigen Jahrhundert gab es viel weniger staatliche Hilfen und viel mehr private Organisationen unter und für Migranten, als es heute der Fall ist. Diese Organisationen hatten zum Ziel, den Migranten zu ermöglichen, sich selbst zu helfen, auch indem sie sie wieder nach Hause schickten.
Mehr Markt für Migranten kann auch dazu beitragen, dass der Begriff Migrant wieder eine positive Bedeutung erhält. Das Wort Migranten sollte wieder für hart Arbeitende stehen, die sich auf jede Weise bemühen, voranzukommen. Das Bild vom faulen, unangepassten Schmarotzer, der das Sozialsystem melkt, muss verschwinden. Der Zustrom von wertschöpfenden Migranten wäre dann wie ein Geschenk für die Wirtschaft, als hätte die europäische Bevölkerung die Autobahnen oder das Netz für Schnellzüge gratis angeboten bekommen. In den Vereinigten Staaten hat der "Markt für Migranten" schon immer bestanden. Und dort schaffen die Neuankömmlinge mehr Stellen als sie besetzen, zahlen mehr Steuern als sie an Vergünstigungen und Beihilfen empfangen und gründen durchschnittlich mehr Unternehmen als der heimische Amerikaner. Die USA sind als Einwanderungsland zur Wirtschaftsmacht geworden. Wenn wir von der verfehlten Immigrationspolitik der letzten fünfzig Jahre Abschied nehmen, ist auch in Europa eine solch eine Entwicklung in Zukunft möglich.
Literatur
Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München, 2000
N. Canny (Hg): Europeans on the Move. Studies on European Migration, 1500-1800. Oxford, 1994
Pieter Emmer: Europäische Expansion und interkontinentale Migration. In: Thomas Beck, Horst Gründer, Horst Pietschmann und Roderich Ptak (Hg): Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung. Festschrift anlässlich der Gründung der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte 1999 in Bamberg. Stuttgart, 1999 (S. 223-233)
aus: der überblick 03/2002, Seite 66
AUTOR(EN):
Pieter C. Emmer:
Pieter C. Emmer ist Professor für Geschichte der europäischen Expansion am Fachbereich Geschichte der Universität Leiden in den Niederlanden. Er ist unter anderem Autor von "De Nederlandse slavenhandel 1500-1850" (Amsterdam 2000) und "The Dutch in the Atlantic Economy" (Aldershot 1998) sowie zusammen mit Magnus Mörner Herausgeber von "European Expansion and Migration" (Oxford, 1992).