Wenn die Angst den Alltag bestimmt
Wer in Kolumbien auf ganz bestimmten Listen steht, muss um sein Leben bangen. Die so genannten Todeslisten tauchen an den Universitäten des Landes auf, werden potenziellen Opfern mit der Post zugesandt oder Journalisten in die Hände gespielt. Vor allem linke Intellektuelle, Verfechter der Menschenrechte, Anwälte und Richter werden so immer wieder bedroht und müssen um ihr Leben fürchten. Viele von ihnen sind rund um die Uhr von Leibwächtern umgeben.
von Knut Henkel
Vorsichtig öffnet eine ältere Frau die Tür zum Apartmenthaus in der Carrera 23 einen Spalt breit. Kritisch beäugt sie den Besucher und öffnet die Tür erst auf den Zuruf aus dem Inneren des Hauses: "Ich erwarte einen Journalisten aus Europa". Eine gesunde Portion Misstrauen hat Arturo Alape der Hausmeisterin eingeimpft. Nicht ohne Grund, denn der kolumbianische Historiker und Schriftsteller wurde in den letzten Jahren immer wieder bedroht. Seine Biographie über Manuel Marulanda, dem Comandante der größten Guerillaorganisation des Landes, der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), hat ihn ins Visier der Paramilitärs gebracht. Für die ist der kleingewachsene Mann mit dem schütteren grauen Haar nicht Sympathisant, sondern Mitglied der verhassten Guerillaorganisation und damit Freiwild.
Morddrohungen hat Alape viele erhalten, und zweimal hat ihn die Angst ins Exil getrieben. Nach Kuba ging er, als in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre Todesschwadronen systematisch Jagd auf die kolumbianische Linke machte. Eine Einladung der "Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte" brachte ihn und seine Familie Ende 2000 vorübergehend in Sicherheit. Ein Jahr hat er in der Hansestadt verbracht. Ein Jahr Urlaub von der Angst. "Zeit zur Ruhe zu kommen, Sicherheit als Wert zu erleben und zu lernen, woanders zu leben. Ich hätte nicht gedacht, das ich das kann", sagt Alape rückblickend. Die Angst hat ihn längst wieder. Seit über einem Jahr lebt er wieder in Bogotá. Zurückgezogen zwar, in der "inneren Isolation" wie er es nennt. Aber immerhin wieder in seinem Heimatland, in dem er Leben muss, um überhaupt arbeiten zu können. Die Verhältnisse in seinem Land sind es, die Arturo Alape untersucht, beschreibt und reflektiert. Sein erstes in Deutschland erschienenes Buch "Das Blut der Anderen" ist die Biographie eines sicario, eines jener oftmals halbwüchsigen Killer, die der nordkolumbianischen Stadt Medellín international zweifelhafte Berühmtheit beschert haben.
Politisch wesentlich brisanter ist jedoch der Roman an dem der 65-Jährige derzeit schreibt. Es geht um einen Polizisten, der von seinen Kollegen als vermisst gemeldet wird. Doch mit dieser simplen Erklärung gibt sich dessen Frau nicht zufrieden. Sie bohrt nach und erfährt schließlich, dass ihr Mann vom Militär erschossen wurde. Doch damit fängt die Geschichte erst an. "Die Witwe will wissen, wo die Gebeine ihres Mannes ruhen und weshalb er erschossen wurde", gibt Alape Einblick in sein entstehendes Werk.
Fragen wie diese sind es, die die Angehörigen und Freunde von Verschwundenen nicht loslassen und mit denen sich die kolumbianischen Gerichte zumeist erfolglos beschäftigen - vor allem wenn die Militärs darin verstrickt sind. Insofern erfüllt der Roman alle Vorraussetzungen dafür, den Historiker, Maler und Schriftsteller erneut in die Schlagzeilen zu bringen. Niemand weiß dies besser als Alape selbst. "Die Literatur ist für mich ein Element, um Konflikte zu defragmentieren, Licht ins Dunkle zu bringen". Ohne die will er nicht leben und, so geht er das Risiko wieder ein, nach oben auf die Todeslisten zu rücken. "Leben für die Zukunft" des Landes nennt Alape das. Doch die Spuren der Angst sind sichtbar. Er wirkt nervös. Sein Blick manchmal gehetzt. Um die beiden Kinder, Paloma und Nicolás, macht er sich Sorgen. Schon der Schulweg ist ein Risiko, auf das er sich nach dem Jahr in Hamburg neu einstellen musste. In Hamburg konnte er die Beiden allein zur Schule gehen lassen. In Bogotá ist das kaum mehr möglich und auch der Schulweg sollte nicht täglich der Gleiche sein. Das Leben mit der Angst hat den kontaktfreudigen Mann scheu gemacht. "Es hat lange gedauert, bis ich gelernt habe, mit der Ruhe zu leben", sagt der spindeldürre Mann. Lernen hat er auch müssen, wer wirklich mit ihm befreundet ist und wer sich im vergänglichen Ruhm des Schiftstellers und politisch engagierten Journalisten sonnt.
Eine Erfahrung, die auch Jesús Antonio González Luna gemacht hat. Der Gewerkschaftsfunktionär hat sich nach seinen ersten Morddrohungen nicht zurückgezogen, sondern ist nach wie vor in der Öffentlichkeit präsent. Zur alljährlichen 1. Mai-Demonstration reist er in seine Heimatstadt Cali und marschiert mit den Kollegen für die Rechte der Arbeiter - das lässt er sich nicht nehmen. Doch in Bogotá führt er ein Leben ohne jede Privatsphäre. Der langjährige Leiter der Menschenrechtsabteilung des Gewerkschaftsdachverbandes Central Unitaria de Trabajadores de Colombia (CUT) lebt aus dem Koffer. Jeden Tag steuern seine Leibwächter nach einem langen Arbeitstag eine andere Wohnung in Bogotá an. Nur im Büro im neunten Stock eines Hochhauses in der siebten Straße darf sich González Luna frei bewegen. Überall sonst öffnen die Bodyguards, die escoltas, die Tür. Der 54-Jährige lebt für seine Arbeit. "Man muss weitermachen. Ich habe eine Verantwortung gegenüber den Arbeitern, die die CUT vertritt. Und diese Arbeit kann ich nicht einfach aufgeben", sagt der Mann, der am 1. August 1999 einem Attentat nur knapp entging. Schwerbewaffnete Männer eröffneten damals das Feuer auf sein Privathaus in Cali. Leibwächter Giovanny Rodríguez Loaiza starb im Kugelhagel. González Luna blieb unversehrt - er hatte einen kurzfristigen Termin wahrnehmen müssen. "Ein glücklicher Zufall", sagt González Luna, die randlose Brille absetzend. "Meine Familie habe ich dann mit Hilfe der International Labour Organisation (ILO, Internationale Arbeitsorganisation) in Sicherheit gebracht". Nach London hat er sie geschickt und da lebt sie nun. Weit weg von Kolumbien, wo die Killer auch die Familienangehörigen ihrer potentiellen Opfer nicht verschonen. Die abendlichen Telefonate sind kein Ersatz für das Familienleben, das er vermisst, aber kaum mehr kennt.
Zweimal im Jahr fährt der CUT-Funktionär auf Besuch nach London. Das wiegt das zerstörte Familienleben nicht auf, doch für González Luna ist sein persönliches Beispiel nur Teil der kolumbianischen Realität. "Wir führen kein normales Leben, aber es gibt keine Alternative dazu. Wir müssen unser Land aus der chaotischen Situation herausführen, und dazu will ich meinen Beitrag leisten". Der Mann mit dem zerknitterten Gesicht blickt kämpferisch. Viele Kollegen sind an dieser Aufgabe zerbrochen und auch González Luna gibt zu, dass die ständige Bedrohung ihren Preis hat. "Wir haben mit psychologischen Problemen zu kämpfen", sagt der graumelierte Gewerkschafter, dem die Haare langsam abhanden kommen. Sein Freund Alberto Serna lebt schwer traumatisiert im Ausland. Wie viele andere Gewerkschafter wurde er entführt und gefoltert. Noch mehr wurden ermordet. "Über 3800 Kollegen seit 1986", sagt González Luna mit bitterer Miene.
Auf der Straße abgeknallt wie Freiwild wurde auch der Mann von Beatrix Moto. Die dunkelhaarige Frau mit den hellen Pigmentflecken auf den Wangen senkt die Augen. Noch immer fällt es der Witwe schwer, sich an den Mord an ihrem Mann zu erinnern. Der Richter aus Santa Marta wurde im Dezember 2001 auf offener Straße erschossen. "Er war aus der Werkstatt angerufen worden, weil irgend etwas mit unserem Wagen nicht stimmte. Auf dem Weg lauerten ihm sicarios auf einem Motorrad auf und erschossen ihn", erzählt DoZa Beatriz mit bebender Stimme. Die Mutter dreier Kinder kämpft derzeit mit den staatlichen Stellen um die Pension ihres Mannes. Dieser musste sterben, weil er als Richter seinen Job machte, ist sie sich sicher. In einem Prozess gegen Drogenhändler, die mit den Paramilitärs unter einer Decke steckten, fällte er die Urteile. "Der Prozess fand unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt, doch für meinen Mann wurde nicht mal ein Bodyguard oder ein gepanzertes Fahrzeug abgestellt", kritisiert die 40-jährige Frau mit rauer Stimme. Seitdem fühlt sie sich in Santa Marta nicht mehr sicher. "Ich mag die Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen, doch ich kann sie auch nicht den ganzen Tag wegsperrren". Wenn ihr Ältester in diesem Jahr seinen Schulabschluss macht, will sie endgültig weg aus der Stadt. Deshalb ist sie nach Bogotá gekommen, denn ohne die Rente ihres Mannes kann sie Santa Marta nicht hinter sich lassen. Frau Moto will in die Hauptstadt umsiedeln und für sich und ihren Kindern eine neue Perspektive aufbauen. Wie die aussehen soll, weiß Beatriz Moto noch nicht. Aber sie weiß, dass es ohne die Pension kaum gehen wird. Der Prozess zieht sich hin und die Witwe ist frustriert und krank. Krebs wurde bei ihr diagnostiziert und ohne die Hilfe von Verwandten und der Fondo Aleman de Solidaridad (FASOL) wäre sie aufgeschmissen. Die Stiftung, die von deutschen Richtern initiiert wurde, um die Kollegen in Kolumbien zu unterstützten, kümmert sich um die Familien von ermordeten Richtern und Staatsanwälten. In Einzelfällen sorgt die Stiftung auch für die schnelle Ausreise von bedrohten Richtern und Staatsanwälten.
Der kolumbianische Staat ist nicht in der Lage und manchmal auch nicht Willens seine Angestellten zu schützen, berichtet Gonzalo García, ehemaliger Angestellter der Menschenrechtsabteilung bei der Generalstaatsanwaltschaft in Bogotá. Garcías Leben wurde binnen eines Jahres auf den Kopf gestellt. Nachdem der ermittelnde Staatsanwalt im Juli 2001 den General Rito Alejo Del Río festgenommen und sein Haus nach Beweisen durchsucht hatte, um den Verdacht der Kollaboration mit paramilitärischen Einheiten zu erhärten, erhielt García Morddrohungen. Da die Generalstaatsanwaltschaft keine Anstalten machte ihn und die an den Ermittlungen beteiligten Personen zu schützen, darunter der Leiter der Untersuchungseinheit, Pedro Díaz, nahm García seinen Abschied. Er floh im Herbst 2001 zu seiner Schwester nach Deutschland. Ein gutes halbes Jahr lebte er mit seiner Frau und den beiden Kindern in der Nähe von Dortmund. Bleiben konnte er jedoch aufgrund des ungesicherten Aufenthaltsstatus nicht. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als zurück nach Bogotá zu gehen - um eine Erfahrung reicher und um sämtliche Ersparnisse ärmer. Das schlimmste für den Juristen ist die Angst, die den Alltag bestimmt. "Die eigene Meinung in der Öffentlichkeit Preis zu geben, die Regierung, die Verantwortlichen in der Justiz zu kritisieren - das verkneife ich mir lieber", sagt der ehemalige Staatsanwalt. Seit Beginn des Jahres arbeitet er wieder als Anwalt in Bogotá und ist dabei, sich einen Stamm an Klienten aufzubauen. Ein mühsamer Neuanfang, doch García legt Wert darauf unabhängig zu arbeiten. Er will nicht noch einmal in den Staatsdienst. Dieser Weg ist ihm ohnehin versperrt, weil ein Disziplinarverfahren gegen ihn läuft. "Angeblich ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen als ich die Hausdurchsuchung und Festnahme des Generals angeordnet habe", sagt er. Doch dieser Vorwurf des Generalstaatsanwalts lässt ihn kalt. Er habe im Rahmen der Gesetze gehandelt und sich nichts vorzuwerfen. Der Prozess werde im Sande verlaufen, prognostiziert García, der mit seiner Frau und den Kindern im Hause der Schwiegermutter untergekommen ist.
Seitdem er zurück in Bogotá ist, sind keine neuen Morddrohungen eingegangen. "Die Angst ist seitdem weniger präsent, doch die Paranoia ist Bestandteil unseres Lebens", gibt er zu. Alles Ungewöhnliche rund um die Wohnung der Schwiegermutter wird genau registriert, neue Nachbarn argwöhnisch beäugt, und jede Hektik im Bus zur Arbeit kann die Angst wieder hochkommen lassen. Doch es nützt nichts davonzulaufen, ist sich García sicher und diese Ansicht versucht er an seine Kinder weiterzugeben. Gemeinsam mit seiner Frau, ebenfalls eine Anwältin, versuchen sie, den beiden etwas Positives vorzuleben. "Wir sprechen über die Fehler dieser Gesellschaft. Erklären wie eine gerechte, solidarische Gesellschaft aussehen könnte und wie man sie ohne die Waffe in der Hand erreichen könnte", erklärt der sympathische Mann. Ein schöner Traum, der aus der Angst geboren wurde.
aus: der überblick 02/2003, Seite 16
AUTOR(EN):
Knut Henkel:
Knut Henkel ist freier Journalist mit Schwerpunkt Lateinamerika und schreibt für die »Neue Zürcher Zeitung«, »die tageszeitung« und andere Medien.