In Teilen Westafrikas verkaufen Eltern ihre Kinder aus Not - und weil es so üblich ist
Der Lehrer hat den Frauen des Dorfes Wichtiges mitzuteilen: "Wenn Du Dein Kind verkaufst, ist das Sklaverei. Wenn Du Dein Kind jemandem in der Stadt gibst, damit es für diese Person arbeitet, ist das Sklaverei."
von Olenka Frenkiel
Der Leiter der baufälligen Schule in dem abgelegenen Dorf Bembe im Distrikt L'Oueme in Benin ist ein kleiner, schlanker Mann mit aufrechtem Rücken und strengem Gesicht. Er hat die Frauen des Dorfes in sein Büro gebeten. Er hat ihnen Wichtiges mitzuteilen: "Wenn Du Dein Kind verkaufst, ist das Sklaverei. Wenn Du Dein Kind jemandem in der Stadt gibst, damit es für diese Person arbeitet, ist das Sklaverei. Wenn Du Geld oder ein Geschenk als Gegenleistung für dieses Kind nimmst, ist das Sklaverei."
Die Frauen des Dorfes, die für dieses Treffen mit dem Schulleiter ihre elegantesten Gewänder angelegt haben, sind nicht beeindruckt. "Aber wir sind arm", protestieren sie. "Wir haben so viele Kinder, wir können es uns nicht leisten, sie hier zu behalten. In der Stadt können sie einen Beruf lernen, etwas Geld verdienen, vielleicht werden sie sogar reich."
"Aber Ihr wisst nicht, ob und was sie essen. Vielleicht werden sie geschlagen, wie Ihr sie nie schlagen würdet. Vielleicht leiden sie, ohne dass Ihr je davon erfahrt." Die Frauen sind nicht überzeugt. Manche tun zwar so als ob, aber hier ist es normal, Kinder wegzuschicken. Sobald ein Kind abgestillt ist, tritt ein anderes an seine Stelle. Für jedes Neugeborene gibt es einen Händler, der umgerechnet zehn Euro zahlt, um das Kind mitzunehmen. Männer leben hierzulande polygam und zeugen oft zehn oder zwanzig Kinder. Ein Mann erzählte mir, er habe sechs seiner siebzehn Kinder verkauft. Und das Geld verwendete er für den eigenen Lebensunterhalt. In Benin sind Kinder ein Wirtschaftsgut, das im Überschuss produziert wird.
Der Schulleiter kämpft darum, seine Schüler zu behalten. Er lockt die Eltern mit billigen Schulmahlzeiten, die mit Hilfe des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen angeboten werden, und erzählt ihnen von der kleinen Aminatta, einer ehemaligen Schülerin. Sie war nach Gabun - oder war es Nigeria oder Côte d'Ivoire oder irgendein anderes Land? - gebracht worden, um für Erwachsene zu arbeiten, die sie ausnutzten, ihr keinen Lohn zahlten und sie grausam zu Tode prügelten. Und trotzdem gehen jede Woche Kinder im Schutz der Dunkelheit mit den Händlern mit, fahren in flachen Pirogen über den Fluss und hinab zur Küste, der alten Sklavenküste, wo Jahrhunderte lang Millionen afrikanischer Sklaven an Bord genommen und nach Europa und Amerika verschifft wurden. "Es gibt keinen Unterschied", sagt der Schulleiter zu den unwilligen Müttern, "zwischen dem, was damals vor vielen Jahren geschah, und dem, was heute geschieht. Das ist Sklaverei." Die Zusammenkunft ist vorbei und die Frauen gehen auseinander.
Rückblende: Im April 2001 ist in Cotonou, der Hauptstadt Benins, die Hölle los. Die Telefone des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) laufen heiß, und die Mitarbeiter sind außer sich. In der reichen Welt dagegen feiert man zu dieser Zeit Ostern, und in den Nachrichten ist das ein ruhiger Tag. Von der Irrfahrt eines Sklavenschiffs vor der afrikanischen Küste mit Hunderten - vielleicht toten - Kindern wird zunächst nichts berichtet, und auch sonst ist nichts Besonderes zu vermelden. Da warnt Unicef, die Kinder könnten über Bord geworfen worden sein, und sofort stürzt sich die Weltpresse auf die heiße Nachricht. "Beim nächsten Journalisten, der anruft und nach dem Sklavenschiff fragt, lege ich auf," klagt ein Unicef-Mitarbeiter.
Nicht, dass die Nachfragen unwillkommen wären. Seit Jahren versuchen Unicef und andere Organisationen im Kampf gegen die Sklaverei, Interesse an der alarmierenden Zunahme des Kinderhandels in Westafrika zu wecken, und niemand hört auf sie. Nun haben sie endlich weltweite Aufmerksamkeit, aber die Geschichte gerät außer Kontrolle, und die Medien werden auf dem Wort "Sklaverei" bestehen, nicht wissend, dass der Begriff hier, wo diese Jahrhunderte lang florierte, tabu ist. Seit Jahren behelfen sich Unicef und die verschiedenen in diesem Bereich tätigen Organisationen mit Euphemismen wie "Kinderhandel" oder "Kinderarbeit" oder sogar "Vertragsarbeit". Die Meisten sind einfach falsch. Diese Kinder sind Sklaven, keine Arbeitskräfte. Sie erhalten keine Bezahlung, sie können ihren Arbeitsplatz nicht wählen, und sie sind ihren "Besitzern" auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie haben keine Bürgerrechte und wissen nicht, welche Rechte sie haben. Aber die euphemistische Umschreibung ist ein pragmatischer Ansatz und ein geringer Preis, um die Regierungen Westafrikas bei Laune zu halten. "Nennen Sie es nicht Sklaverei", warnt Benins Außenminister Journalisten bei einer Pressekonferenz, und alle halten sich daran.
Die Presse war anwesend, als die Etireno, das verschollene Sklavenschiff, schließlich am 17. April um zwei Uhr morgens im Hafen von Cotonou in Benin einlief und 23 Kinder von Bord gingen. "Nur 23", murrten die Journalisten und beachteten die Erwachsenen nicht, die mit den Kindern gereist waren und nun im Dunkel der Nacht verschwanden. Keine im Meer treibenden Leichen wurden gefunden, keine verwesenden Köper lagen in Ketten unter Deck. Der Medienzirkus war enttäuscht. Klar, wurde spekuliert, alles sei Schwindel, Sensationsmacherei, eine substanzlose Geschichte an einem ruhigen Osterwochenende von publicityhungrigen Hilfsorganisationen aufgebauscht. Das Schiff ist zurückgekehrt, teilten sie ihren Lesern mit, und es waren keine Kindersklaven an Bord.
Aber sie hatten unrecht. Die Kinder, die jenes Schiff nach drei Wochen auf See verließen, waren wie jährlich 200.000 andere Kinder in Afrikas modernem Sklavenhandel verkauft worden, ihrer Kindheit beraubt, zum Profit anderer.
Die 23 Kinder auf der Etireno waren alle unter vierzehn Jahre alt. Mehr als die Hälfte war noch nicht einmal zehn. Sie kamen, benommen und ängstlich, in die Obhut der internationalen Hilfsorganisation terre des hommes, wo sich die Bruchstücke ihrer Erinnerung nach und nach zu einem Gesamtbild ihrer Geschichte zusammenfügten. Sie erzählten, wie Fremde in ihre Dörfer gekommen waren, ihren Familien Geld gezahlt und sie mitgenommen hatten, damit sie im Ausland arbeiteten. "Der Mann hieß Jean", sagte Victoire. "Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Er gab meinem Vater 500 CFA und meinen Brüdern zusammen noch einmal 500" (etwas weniger als einen Euro). Die sechsjährige Adakoun weigerte sich zu gehen, aber ihre Mutter bestand darauf. "Sie gaben meiner Mutter Geld. Sie sagte mir, wenn ich nicht ginge, wäre mein Vater nicht zufrieden, und wir würden alle verhungern. Ich hatte Angst, also gab ich nach."
Nach mehreren Tagen auf See befahl man den Kindern eines Nachts, in kleine Boote an der Seite des Schiffs hinunterzuklettern und sich vor den Wachleuten zu verstecken. Aber gabunische Soldaten fanden sie und steckten sie ins Gefängnis. Manche wurden geschlagen, andere von Hunden gebissen. Sie mussten in der Sonne liegen, und Tage später wurden sie wieder an Bord gebracht. Das Schiff trieb tagelang auf dem Meer, die Vorräte wurden knapp, es kam zu Kämpfen um Nahrungsmittel, die Toiletten waren verstopft. "Wir mussten unser Geschäft in Plastiktüten machen und die dann über Bord werfen", fährt Adakoun fort. "Wir hatten Durst. Ich bat den Mann, der mich mitgenommen hatte, um Wasser, aber er sagte, ich soll weggehen und woanders suchen." Die Erinnerung an die Schrecken schnürt ihr immer noch fast die Kehle zu: "Auf dem Boot sagten sie, dass ihnen der Treibstoff ausgeht, und wir bekamen schreckliche Angst. Sie sagten, wenn wir nicht aufhören zu weinen, werfen sie uns aus dem Boot."
Etwas ging schief auf dieser Reise von Benin nach Gabun. Aber es ist noch nicht klar, was. Warum wurde dieser routinemäßige Sklaventransport von Gabun abgewiesen, wenn unzählige andere problemlos durchkommen?
Der Kapitän der Etireno, ein Nigerianer, wartet mit seinem Schiff im Hafen von Cotonou, während die beninische Polizei den Vorwurf untersucht, er habe wissentlich gekaufte Kinder ohne Papiere nach Gabun befördert. Er streitet alles ab. Das ganze Drama mit den Kindersklaven, sagt er, sei eine Erfindung der Konkurrenz. Vielleicht habe ein Rivale die Gabuner bestochen, damit sie sein Schiff abweisen und seinen guten Namen beschmutzen. "Es ist ein abgekartetes Spiel - nichts als schmutzige Tricks." Sein Schiff darf Benin nicht verlassen. Er muss sich täglich bei der Polizei melden.
Bei terre des hommes befragen ausgebildete Beraterinnen und Berater die Kinder. Sie müssen die Eltern ausfindig machen, aber das erweist sich als schwierig. Manche Kinder haben auf Anweisung der Händler falsche Namen angegeben und wissen gar nicht, was mit ihnen geschehen ist. Andere glauben, sie seien im Gefängnis. Aber langsam werden sie wieder zu Kindern, nicht ahnend, welchem Schicksal sie knapp entronnen sind in Gabun, dem wohlhabenden westafrikanischen Nachbarland Benins.
Von Cotonou fliege ich nach Gabun, in das reichste Land dieses Kontinents. Vor meiner Abreise werde ich ermahnt, gut aufzupassen: Manche Kinder würden sogar mit dem Flugzeug zu den Käufern gebracht. Vor dem Start in der Abflughalle sehe ich sie, zwei Jungen und ein Mädchen in Begleitung dreier Männer. Sie sprechen weder mit den Männern noch miteinander. Sie schauen zu Boden. Ich beobachte von weitem, wie die Männer ihre Papiere ausfüllen, ihnen Bündel zum Tragen geben und sie ins Flugzeug führen. Immer noch sprechen sie kein Wort. Sie nehmen auch keinen Augenkontakt auf. Unauffällig filme ich sie, und bei der Ankunft in Gabun beobachte ich die Übergabe. Zwei der Männer sitzen nun entfernt in der nächsten Abflughalle, während die anderen sich für die Weiterreise nach Port Gentil, einem Fischer- und Öldorf an der Küste, fertig machen. Ein weiterer Mann hat sich zu der Gruppe gesellt und einen der Jungen übernommen. Das Mädchen und der andere Junge bleiben bei dem Händler, den ich jetzt zur Rede stelle. Er behauptet, er sei ihr Vater, die Kinder seien Bruder und Schwester, und er sei Lehrer. Aber diese Kinder können kaum lesen oder schreiben. Er muss ihnen ihre Namen sagen, und seine Hände zittern. Ich frage ihn nach seinem Pass. Zu meiner Überraschung zeigt er ihn mir. Der Pass ist brandneu und es finden sich darin Fotos von ihm, dem Mädchen und dem Jungen. Ich hatte wenige Tage vorher illegal ein ähnliches Dokument für ein anderes Kind anfertigen lassen, nur um zu sehen, ob das möglich sei.
Er geht mit seinen Schützlingen, aber wir lassen ihn in Port Gentil beobachten. Eine nichtstaatliche Organisation (NGO) vor Ort, ebenso leidenschaftlich engagiert wie der Schulleiter von Bembe, schickt Kontaktleute in den Hafen, um unseren Händler zu verfolgen und zu kontrollieren, wohin die Kinder gehen. Der kleinere Junge wird wenige Tage später auf einem Fischerboot gesehen.
Gabun ist anders als andere afrikanische Länder. Das Land steht auf eigenen Füßen und ist relativ reich; man sieht nur selten ein weißes Gesicht. Staubige afrikanische Straßen mit vereinzelten Allradfahrzeugen, die Unicef oder der Safaribrigade gehören - so etwas sieht man nicht in Gabun. Alle gabunischen Kinder gehen zur Schule. Viele werden im Mercedes oder im glänzenden Toyota von stolzen, wohlhabenden Eltern zur Schule gebracht. Sie tragen Schuhe und Socken, sie haben Schulmappen und Bücher. All das ist für gabunische Kinder normal. Und doch - oder gerade deshalb - gibt es hier in Afrikas reichstem Land einen florierenden Handel mit ausländischen Kindern, die nie zur Schule gehen werden. Schon mit fünf Jahren kommen sie, um als Hausmädchen zu arbeiten, auf Märkten zu verkaufen, zu kochen und zu putzen für Dienstherren, die die Kinder von Händlern kaufen. Sie arbeiten ohne Bezahlung. Sie werden geschlagen und gequält und am Weggehen gehindert. Ihre Namen werden geändert. Zu jung, um sich an ihre Eltern oder ihre Heimat zu erinnern, vergessen sie ihre Sprache, ihr Dorf und ihr Land. Vor allem Mädchen werden wieder und wieder verkauft, bis sie erwachsen sind und auf die Straße gesetzt werden, wo sie - ohne Bildung und soziale Bindungen - auf sich allein gestellt überleben müssen.
So erging es Justine. Sie arbeitete zehn Jahre lang, dann lief sie davon. Aber bevor sie ging, ließ sie ein Foto von den hässlichen Wunden auf ihrem Rücken machen, die von den Schlägen ihres Herren stammten. Sie schwört, dass sie ihre Kinder nie zum Arbeiten ins Ausland schicken werde.
Dieser Sklavenhandel hat zum Teil kulturelle Wurzeln. Bei manchen Bevölkerungsgruppen Westafrikas ist es Brauch, Kinder zu wohlhabenden Verwandten zu schicken, die sie - als Gegenleistung für etwas Hilfe rund um das Haus - mit Nahrung, Kleidung und Bildung versorgen. Benins Außenminister Idji Kolawole findet daran nichts auszusetzen. "In unserer Kultur", sagte er mir, "halten wir es immer für gut, wenn ein Kind in einem bestimmten Alter, vielleicht mit fünf Jahren oder später sein Elternhaus verlässt, um zu einem Onkel oder einem Freund der Eltern ins Ausland zu gehen. Wir glauben, das dient der Erziehung der Kinder. Sie werden dadurch zu Männern oder Frauen, erwerben Bildung und praktische Fähigkeiten und sind besser auf das Leben vorbereitet." "Mit fünf Jahren", fragte ich ungläubig, "das Elternhaus verlassen?" - "Auch mit fünf Jahren. Ja."
Als ich ihn so hörte, ertappte ich mich bei einem beschämenden Anflug von paradoxem kulturellem Relativismus. Ich dachte an Eton, Rugby, Harrow und daran, dass auch in unserer Kultur Kinder weggeschickt und von Fremden geschlagen werden. Aber die törichte britische Elite bezahlt für solch ein Vergnügen. In Afrika - wie vernünftig - ist das anders.
Heute, im Zeichen der Globalisierung, gehen Kinder nicht zu Verwandten oder Freunden, sondern zu Fremden in weit entfernten Ländern. Das ist ein Geschäft. Geld wechselt den Besitzer. Händler kaufen ein Kind für umgerechnet gut 16 Euro und verkaufen es für rund 330 Euro in Gabun. Wie bei allen Handelswaren ist der Markt von Währungsschwankungen abhängig. Kinder werden in armen Ländern wie Benin, Mali, Senegal und Togo gekauft und dorthin verkauft, wo es Geld und Arbeit gibt. Die Kinder auf der Etireno kamen aus fünf verschiedenen Ländern.
Neun Jahre lang verkaufte Philomene Tegble Kinder nach Nigeria, als der nigerianische Naira eine starke Währung war. "Wir holten pro Jahr vielleicht 80 oder 100 Kinder. Warum? Weil Menschen einfach Kinder in die Welt setzen, sie aber nicht versorgen können." Sie erinnert sich, dass die Eltern leicht zu täuschen waren. "Wir sagten ihnen, einflussreiche Menschen in Nigeria suchen Kinder, und Sie werden viel Geld bekommen, sechs-, zehn- oder fünfzehntausend im Monat. Natürlich war das eine Lüge", lacht sie. In Nigeria brachte sie die Kinder in ein sicheres Haus, schnitt ihnen die Haare, zog sie schön an und führte sie Kunden vor. Die Mädchen brachten am meisten ein, weil sie gefügig und gehorsam waren. Je jünger ein Kind ist, umso mehr springt für die Händlerin heraus. Ein kleines Kind, erklärt sie, bleibt länger, arbeitet härter, unterwirft sich der Sklaverei leichter. "Ein kleines Kind weiß nichts. Es kennt den Weg nach Hause nicht. Ältere Kinder können fliehen, aber die Kleinen laufen nicht weg, sie kennen den Weg nach Hause nicht. Sie bleiben und arbeiten, arbeiten, arbeiten."
Das war es auch, was die Kinder der Etireno erwartete. Ein Leben voller unbezahlter Arbeit von Tagesanbruch bis Mitternacht, Misshandlung und Furcht, Abhängigkeit von einem Besitzer, dem nichts an ihnen lag. Sklavendasein.
Und genau das berührt die Dame von Unicef so unangenehm. Nicht das plötzliche Interesse der Weltpresse, sondern das "S"-Wort, Sklaverei. In Westafrika wird das Wort heute tunlichst auf die Vergangenheit beschränkt. Benin war früher als Königreich Dahomey der größte Sklavenexporteur an dieser Küste, die damals Sklavenküste genannt wurde. Vier Jahrhunderte lang wurden Menschen in Ketten gelegt, verkauft und von hier, von der Sklavenküste, nach Europa und Amerika transportiert. An diese historische Qual erinnert ein riesiges Denkmal, die heutige wird mit Schweigen quittiert.
Folglich erklärt der Außenminister, als die Kinder auf der Etireno für Geld gehandelt wurden und zum Arbeiten nach Gabun verkauft werden sollten, dass dies aber keine Sklaverei sei und die Eltern sie nicht verkauft hätten: "Sie verkaufen ihre Kinder nicht. Sie wissen vielleicht, dass ihre Kinder dort arbeiten werden, aber für sie ist es normal, dass das Kind arbeitet, und wenn sie dafür etwas Geld bekommen, nun, das ist für sie kein Verbrechen. Das erscheint ihnen normal, sogar gut. Gut für sie und gut für die Kinder. Und sie haben die Hoffnung, dass die Kinder zurückkommen - charakterstärker, erwachsen, vielleicht reich. Sie haben diese Hoffnung. Es ist nicht dasselbe wie im 19. Jahrhundert. Deswegen kann ich ihnen wirklich nicht zustimmen, wenn sie sagen, das ist Sklaverei."
Und Unicef, diese höchst diplomatische Organisation, geht darauf ein: "Das ist keine Sklaverei, weil die Kinder nicht ein Leben lang in dieser Situation bleiben. Sie endet mit dem Erwachsenwerden. Außerdem wurden echte Sklaven in alten Zeiten in Ketten gelegt." Die Unicef-Leute handeln in bester Absicht. Sie haben das Gefühl, dass nichts gewonnen ist, wenn sie ihre Gastgeberländer brüskieren, und solange sie es Handel und nicht Sklavenhandel nennen, können sie ihre Konferenzen halten und ihre Berichte veröffentlichen.
Aber sie haben unrecht. Es geht hier um mehr als um Semantik. Die Scheu vor dem "S"-Wort und das Spiel mit Euphemismen verharmlosen das Geschäft. Sie verhindern notwendiges Handeln und unterlaufen die Arbeit des Schulleiters und der lokalen Organisationen zur Bekämpfung der Sklaverei, die zwar als einzige tatsächlich Kinder retten, aber unbeachtet bleiben. Dies ist kein Kreuzzug der reichen weißen Welt, die den Armen etwas vorschreiben will. In Benin und Gabun kämpfen engagierte einheimische Frauen und Männer, um diesen Kinderhandel zu unterbinden. Es sind Lehrer, Autoren oder Studenten, für die das Elend dieser Kinder ein Verbrechen an ihrer eigenen Kultur, ihren eigenen Empfindungen ist. Aber sie stehen allein. Hier geht es um Geld. Ganze Wirtschaftszweige sind abhängig geworden von einem Markt, dessen Handelsware Menschen sind, der Benin den Kinderüberschuss abnimmt und Gabun kostenlose Arbeitskraft liefert.
Am Eingang der togoischen Botschaft in Libreville, der Hauptstadt Gabuns, wartet ein junges Mädchen namens Chouchou. Sie hat hier die ganze Nacht verbracht, nachdem sie ihrem Händler und Besitzer davongelaufen ist. Sie weint leise vor sich hin. "Immerzu schlugen, schlugen, schlugen sie mich", erklärt sie Alice, einer mitfühlenden ehrenamtlichen Helferin, die sie gefunden hat. "Sie haben mir die Haare geschnitten." Alice tröstet sie: "Mach dir keine Sorgen", und umarmt sie. Diese kleine Geste der Freundlichkeit ist zu viel für das Mädchen. Es bricht schluchzend zusammen, das Gesicht von Kummer gezeichnet: "Meine Schwester, meine Schwester. Sie ist noch in dem Haus." "Mach dir keine Sorgen", sagt Alice. "Wir finden deine Schwester." Und das tut sie. Man bringt beide Mädchen in ein von spanischen Nonnen geführtes Heim und hilft ihnen, nach Hause zurückzukehren. Aber Alice und die anderen Mitglieder der NGO Ong Ileda (Retten Sie uns!) erhalten wenig Unterstützung von den Regierungen Benins oder Gabuns, um den Sklavenhandel zu unterbinden oder seinen Opfern zu helfen.
Leiter von Ileda ist Baba Apoudjac, ein togoischer Philosophielehrer in Gabun. Wie all die winzigen Organisationen, die sich im Kampf gegen den Kinderhandel engagieren, hält sich Ileda mit Hilfe aus dem Ausland, von einer Hand voll Journalisten und von international gegen Sklaverei arbeitenden Gruppen über Wasser. Mit spärlichen Mitteln versucht Baba, alle Kindersklaven, von denen er hört, zu retten sowie Händler und Besitzer zur Zahlung einer Entschädigung an diese Kinder und zur Übernahme der Kosten für die Heimreise zu zwingen. Jeden Monat werden mit seiner Hilfe Kinder in ihre Heimat nach Togo geschickt. Zehn, vielleicht fünfzehn sind es im Monat, ein winziger Bruchteil der Tausenden von betroffenen Kindern. Die engagierten einheimischen Helfer haben keine Angst vor dem Wort Sklaverei und betrachten das Zaudern von Regierungen und Organisationen wie Unicef als Verrat an den Kindern.
Die Arbeitsministerin Gabuns räumt ein, dass Kinderhandel in Gabun nicht illegal ist. Ein Gesetz, das den Kinderhandel verbietet, erklärt sie, sei in Vorbereitung. Aber das Ganze sei nicht die Schuld Gabuns. Schuld seien die Ausländer, die Gabun überschwemmten und mit diesen Kindern handelten. "Auch wir sind Opfer dieses Handels." Dabei wird einem jede NGO erzählen, dass sogar Regierungsmitglieder hier ihre Häuser von ausländischen Kindern putzen lassen, während ihre eigenen Kinder zur Schule gehen.
Der Handel geht weiter. Im Hafen von Cotonou in Benin werden Tickets für ein rostiges Schiff verkauft, das gleich neben der Etireno liegt. Wir kauften zwei Tickets bei der Sobetraco Shipping Agency für umgerechnet rund 330 Euro je unbegleitetes Kind, komplett mit falschen Papieren und einem Visum für Gabun. Das sei der tarif clando, wurde uns erklärt, der Preis für illegale Passagiere. Und täglich überqueren Kinder Grenzen mit Händlerinnen wie Philomene, zu Fuß, in Bussen und in Autos.
Die Regierung Benins ist arm. Die Regierung Gabuns ist reich. Beide Länder haben die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes unterzeichnet. Beide haben zehn Jahre Demokratie genossen. Aber keines hat diesen Kinderhandel verboten oder die Händler bestraft. Beschlüsse werden gefasst, Konferenzen und Seminare gibt es viele, aber solange Regierungen und Unicef dies nicht als Sklaverei anerkennen, können die Händler ungestört ihrem Geschäft nachgehen.
Bei terre des hommes ist es bald an der Zeit, die Kinder wieder mit ihren Eltern zu vereinen. Sie sagen alle, dass sie nach Hause wollen. Aber terre des hommes ist besorgt. Die Eltern könnten sie wieder wegschicken. Deshalb klärt eine Sozialarbeiterin sie über ihre Rechte auf. Die noch am Daumen lutschenden Kleinen hören sich verträumt an, was sie ihnen einzutrichtern versucht: "Kinder dürfen nicht weggeschickt werden, um zu arbeiten. Eltern müssen für ihre Kinder sorgen. Erwachsene müssen Kinder vor Schaden schützen." Die Augen fallen ihnen zu. Bald werden die Sozialarbeiterinnen von terre des hommes mit der gleichen Botschaft zu ihren Eltern in ihr Heimatdorf gehen.
Wir besuchten solch ein Dorf wenige Monate, nachdem 15 Kinder, die man an der Grenze aufgegriffen hatte, zu ihren Familien zurückgeschickt worden waren. Wo waren diese Kinder jetzt? "Fort, fort, fort", sagte das Dorfoberhaupt nach jedem Kindernamen, den wir nannten. Nur zwei von fünfzehn waren noch im Dorf. "Nun, man hatte für sie bezahlt", erklärte das Dorfoberhaupt, als handle es sich um ein Kilo Kaffee. "Die Kinder mussten gehen."
aus: der überblick 01/2002, Seite 35
AUTOR(EN):
Olenka Frenkiel:
Olenka Frenkiel ist Korrespondentin der BBC, London, und Moderatorin der BBC-Sendung "Radio 4 Crossing Continents". Für ihre Auslands- und Menschenrechtsreportagen hat sie mehrere internationale Preise erhalten.